Ein Gespräch mit der Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina (Moskau).
In einem offenen Brief an die russischen Behörden fordern Menschenrechtler von diesen die sofortige und unbürokratische Freilassung aller Migranten aus der Abschiebehaft. Deren Freilassung würde Leben und Gesundheit der Betroffenen schützen und gleichzeitig einer weiteren Ausbreitung der aktuellen Epidemie entgegenwirken, so der Aufruf. Das von der Migrationsexpertin Swetlana Gannuschkina, der Flüchtlingsaktivistin Lidia Grafowa und den Menschenrechtsaktivisten Stefania Kulajewa, Alexander Tscherkassow und Lew Ponomarew unterzeichnete Schreiben bezieht sich auf einen Aufruf von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats, an die Regierungen der Staaten des Europarates, zur Freilassung von Menschen aus der Abschiebehaft. Aufgrund der Covid-19-Pandemie, so Mijatović, sind Abschiebungen zu einem großen Teil eingestellt. Abschiebungshaft sei aber nur rechtmäßig, wenn eine solche Maßnahme auch tatsächlich durchgeführt werden kann.
Auch das russische Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 23. Mai 2017 Abschiebehaft für verfassungswidrig erklärt, wenn eine Abschiebung selbst unmöglich ist.
Gegenüber dem Europa.Blog berichtet Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Organisation „Zivile Unterstützung“ und des Beratungsnetzwerkes „Migration und Recht“ über die aktuelle Arbeit von Menschenrechtlern und das Leben von Flüchtlingen in Moskau.
Das Gespräch führte Bernhard Clasen.
Zur russischsprachigen Version des Interviews geht es hier:
«ОБЩЕЕ НЕСЧАСТЬЕ СМЯГЧИЛО И ГУМАНИЗИРОВАЛО ОБЩЕСТВО И ВЛАСТИ»
Bernhard Clasen: Unter welchen Bedingungen arbeiten Menschenrechtsorganisationen jetzt?
Swetlana Gannuschkina: Die Situation ändert sich täglich. Mittlerweile müssen Menschen über 65 Jahre in Moskau zu Hause bleiben. Ich bin aktiv in drei Menschenrechtsgruppen: Memorial, dem Sacharow-Zentrum und der „Zivilen Unterstützung“. Fast alle arbeiten nun per Home-Office. Am 20. März fanden im Sacharow-Zentrum Neuwahlen von Vorstand und Geschäftsführer statt. Wir waren nur zu dritt im Büro, die anderen stimmten per Skype ab. Als aber das Menschenrechtszentrum Memorial einen Leiter für die Nachrichten-Abteilung eingestellt hat, waren die Mitarbeiter persönlich anwesend. Man kann ja nicht jemanden einstellen, ohne ihn persönlich gesehen zu haben.
Bernhard Clasen: Ihre Organisation „Zivile Unterstützung“ hilft Flüchtlingen und Migranten. Flüchtlingen kann man doch mit Home-Office allein nicht helfen?
Swetlana Gannuschkina: Stimmt. Die ganze vergangene Woche haben wir auch weiterhin Flüchtlinge beraten. Das heißt unsere BeraterInnen und JuristInnen waren im Büro anwesend. Gleichzeitig haben wir die technischen Voraussetzungen für die Arbeit mit Skype und Home-Office geschaffen. Viele Beratungsgespräche fanden auch schon in den vergangenen Tagen per Video statt. Doch die Dolmetscher waren persönlich anwesend.
Normalerweise suchen uns zwischen 30 und 60 Migranten in unserem Büro auf, das drei mal die Woche geöffnet ist. In jüngster Zeit waren eher etwas mehr Menschen gekommen. Wenn auch nicht so viele wie zu Spitzenzeiten der Kriege in Afghanistan, Syrien, Tschetschenien, der Ukraine. Je nach juristischer Lage und unseren materiellen Möglichkeiten kommen mal mehr, mal weniger.
2014 hatten wir auch sehr viele Flüchtlinge aus der Ukraine. Diesen Flüchtlingen hat der Staat geholfen. Viele haben die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Ist eben Politik. Aber nicht allen wurde geholfen. Manche haben große Probleme, einen legalen Status zu erwerben. Derzeit sind die meisten Asylbewerber syrische Staatsbürger. Sie bekommen kein Asyl, obwohl russische Militärs in diesem Konflikt beteiligt sind, und man sehr wohl weiß, warum diese Menschen geflohen sind. Praktisch sind alle Asylentscheidungen negativ.
Trotzdem ist es wichtig, dass die von den Gerichten gesetzten Fristen eingehalten werden. Und so arbeiten unsere Juristen weiterhin an Dokumenten für die Flüchtlinge, die dann per E-Mail oder Post an die Gerichte geschickt werden. Die Gerichte verhandeln derzeit in den allermeisten Fällen nicht mehr unter persönlicher Anwesenheit der Parteien. Wie das nur funktionieren soll?
In besonders dringenden Fällen werden wir aber auch in dieser Woche Berater und Rechtsanwälte bitten, persönlich für ein Gespräch mit einem Asylbewerber ins Büro zu kommen. In diesen Fällen wird aber jedem, der das Büro betritt, die Temperatur gemessen, muss sich jeder vor Betreten die Hände desinfizieren. Gleichzeitig wird zwischen Mitarbeiter und Besucher eine entsprechende Distanz von 1,5 Metern eingehalten. Maximal fünf Personen dürfen in den Räumlichkeiten sein. Die anderen müssen im Park nebenan warten.
Bernhard Clasen: Und Sie persönlich?
Swetlana Gannuschkina: Ich als Leiterin der Organisation muss schon gelegentlich persönlich vor Ort anwesend sein. Ich gehöre mit meinen 78 Jahren zur Risikogruppe, deswegen bringt man mich immer direkt mit dem Auto ins Büro. Und ich bemühe mich, mich dort nur sehr kurze Zeit aufzuhalten.
Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, Heldentum ist jedenfalls nicht gefragt. Überhaupt kläre ich alle Fragen mit unserem wichtigsten Partner, der UNHCR-Vertretung in Moskau. Diese Tage war der Leiter des Moskauer UNHCR-Büros mit Mitarbeitern in unserem Büro. Auch bei ihnen haben wir die Temperatur gemessen, und auch sie trugen Masken.
Ein weiterer aktueller Schwerpunkt ist die Mitwirkung an einer Petition für die Freilassung der Menschen in Abschiebehaft. Ich denke, wenn man Personen nicht abschieben kann, muss man ihnen eine legalen Status geben, damit sie medizinische Hilfe erhalten und sie Krankheiten nicht ausbreiten.
Bernhard Clasen: Wie sieht es mit den sozialen Rechten von Flüchtlingen und Migranten aus?
Swetlana Gannuschkina: Viele haben Angst, dass Ihre Dokumente ablaufen, weil die Behörden nur sehr begrenzt arbeiten. Unsere Juristen bearbeiten mit diesen Flüchtlingen die Formulare, schicken diese dann per Mail an die Behörden.
Andere kommen mit medizinischen Problemen zu uns, werden dann von unseren Ärztinnen versorgt.
In Russland gibt es gerade einmal mit Stand vom 1. Januar diesen Jahres 487 anerkannte Flüchtlinge und 41946 Flüchtlinge mit befristetem Aufenthaltsstatus. Nur sie dürfen arbeiten. Alle anderen, das sind nach meinen Schätzungen 200 000, nicht. Deswegen bitten uns nun viele um Lebensmittel. In Russland gibt es keine staatlichen finanziellen Hilfen für Flüchtlinge. Und arbeiten dürfen nur die Flüchtlinge, die anerkannt sind. Alle anderen müssen sehen, dass sie sich irgendwie Geld dazuverdienen können. Die meisten haben etwas im Handel gefunden, z.B. als Lastenträger. Doch genau diese Arbeiten werden derzeit nicht benötigt. Deswegen sind einige Familien buchstäblich ohne Lebensmittel. Da nun auch die Moskauer Schulen geschlossen sind, müssen die Eltern ihre Kinder tagsüber mit Essen versorgen. Viele sind dadurch überfordert. Wir als Organisation sammeln Geld, unterstützen sie mit Lebensmitteln.
Am 27. März suchte uns Alexej Chodorkowski (er ist nicht verwandt mit Michail Chodorkowski, bc), Chef eines Gastronomiebetriebes, auf. Er bot uns kostenlose Mittagessen für unsere Schützlinge an. Und er bot uns auch an, Lebensmittel verbilligt bei einem Großhändler einzukaufen. Und so haben wir vergangenen Samstag die ersten hundert Mittagessen in die private Flüchtlingsunterkunft „Nesnajka“ angeliefert. In dieser Unterkunft, die uns unser Freund Sapar Kuljanow zur Verfügung gestellt hat, haben Dutzende von Flüchtlingen erst mal ein Dach über dem Kopf gefunden. Und auch der in Russland sehr bekannte Chansonnier Sergej Nikitin hilft uns. Nikitin ist genauso wie ich Mitglied im Beirat dieser Flüchtlingsunterkunft. Dieses private Heim ist derzeit der einzige Ort, wo wir alleinstehende Mütter mit ihren Kindern unterbringen können. Die Familien, die dort leben, haben sich kürzlich bei uns telefonisch für das gute Essen bedankt und auch dafür, dass wir ihre kulturellen Bedürfnisse berücksichtigt haben.
Bernhard Clasen: Wie bewerten Sie das Vorgehen der Behörden?
Swetlana Gannuschkina: Die Behörden machen das sehr klug. Ich denke, die allgemeine Not der Menschen macht die Menschen weicher, menschlicher. Und so erleben wir in den letzten Tagen, dass man Personen, denen man noch in der Vorviruszeit kein Visum verlängert hätte, nun plötzlich den begehrten Stempel gibt. Und wer irgendeinen Status hat, kann auch eine Krankenversicherung kaufen. Wir alle sehen, dass die Lage sehr ernst ist. Und das eint. Schließlich macht der Coronavirus ja kein Unterschied zwischen jemandem, der seinen Amtszeitszähler auf Null setzt und anderen. Den Virus kümmert auch dein Status nicht.
Bernhard Clasen: Nach Angaben der Organisation OVD-Info würden diese Tage Personen bei einer Ein-Personen-Mahnwache festgenommen. Denken Sie, dass die Behörden den Coronavirus zur Durchsetzung repressiver Maßnahmen nutzen?
Swetlana Gannuschkina: Ein-Personen-Mahnwachen sind vom Gesetz erlaubt. Es ist jedoch so, dass sich bei Ein-Personen-Mahnwachen andere Menschen um diese Person gruppieren. Tatsächlich sind Ein-Personen-Mahnwachen immer auch Aktionen einer Gruppe von oftmals bis zu 20 Personen. Deswegen mag das Verbot eine Berechtigung gehabt haben. Doch man hätte ein Verbot vorab ankündigen müssen. Es ist eine eindeutige Verletzung des Gesetzes, dass ein Ein-Personen-Mahnwachen, die ja nicht verboten sind, so bestraft wird wie eine Massenaktion.
Ganz klar: man darf die Menschenrechte nicht für immer einfrieren. Jetzt ist es erst mal wichtig, dass wir uns gegenseitig stützen, im Land und überall als Menschen. Denn unsere Welt ist eins. Möge doch das, was gerade passiert, mit dazu beitragen, dass wir das alle begreifen.
Titelbild: Swetlana Gannuschkina (Moskau) | Alle Fotos in diesem Beitrag wurden freundlicherweise von der russischen NGO “Zivile Unterstützung” zur Verfügung gestellt. Die Aufnahmen sind während der täglichen Arbeit der NGO gemacht worden.
Zur Person
Swetlana Gannuschkina (siehe Titelfoto zu diesem Beitrag) ist Mitglied im Vorstand des Menschenrechtszentrums Memorial, Vorsitzende der „Zivilen Unterstützung“, einer Vereinigung, die Flüchtlingen und Migranten hilft, Trägerin des Alternativen Nobelpreises (2016), Trägerin des Menschenrechtspreises von Amnesty International Deutschland (2003), Trägerin des Nanson-Preises des Flüchtlingshilfswerkes der UNO, UNHCR (2004), Trägerin des Sacharow-Preises des Norwegischen Helsinki-Komitees (2007).
Zu den Photos: Trotz Coronakrise: Betreuung und Beratung von Flüchtlingen geht weiter. Flüchtlinge freuen sich über Lebensmittelspenden.
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