Am 4. Juli 2018 hat das Europaparlament in Straßburg knapp mit der nötigen absoluten Mehrheit den Ratsvorschlag für eine Reform des europäischen Wahlrechts bestätigt und damit eine Prozenthürde bei Europawahlen eingeführt.

Eine Hürde von 2 bis 5 Prozent ist “bis spätestens 2024” für Wahlkreise von mehr als 35 Sitzen einzuführen. Eine Einführung schon zur kommenden Europawahl im Mai 2019 ist in dem Vorschlag nicht ausgeschlossen. Die Regeln müssen zuerst in nationales Recht übertragen werden. Diese Entscheidung liegt nun beim Bundestag und gegebenenfalls beim Bundesverfassungsgericht.

Im November 2015 hatte das Europaparlament dem Rat vorgeschlagen, die Wahlen zum Europaparlament europäischer zu machen. Die wichtigsten Vorschläge des Parlaments waren: ein europäischer Wahlkreis als Grundlage für transnationale Listen, die Pflicht zu europäischen Parteilogos auf Wahlzetteln und Wahlkampfmaterial sowie eine Geschlechterquotierung von Wahllisten.

Der Rat hat all dies verworfen und nur die vorgeschlagene Prozenthürde übrig gelassen. Das Europaparlament konnte den Vorschlag des Rates nur ablehnen oder zustimmen, nicht mehr verändern. Zugestimmt haben Christdemokraten, und Sozialdemokraten. Dagegen stimmten Grüne, Liberale und Linke.

Standpunkt von Sven Giegold

Für die Wähler ist mehr verloren als gewonnen. Das neue europäische Wahlrecht bringt weniger, nicht mehr Demokratie. Eine Prozenthürde für die Europawahl ist ein unnötiger Eingriff in die Grundrechte der Wähler. Das Europaparlament hat bewiesen, dass es auch mit Kleinparteien absolut funktionsfähig ist. Es gibt keine Notwendigkeit, das Recht der Wähler zu beschneiden und ihre Stimmen für Kleinparteien an einer Prozenthürde abprallen zu lassen. Es ist keine Herabwürdigung des Europaparlaments, die Rolle von Kleinparteien für Bundestag und Europaparlament unterschiedlich zu beurteilen. Erst wenn es transnationale Wahllisten gibt, müsste man die Situation neu bewerten. Solange bei Europawahlen für nationale statt europäische Parteien gestimmt wird, sind im Europaparlament ohnehin über 150 Parteien vertreten. Eine kurzfristige Umsetzung des neuen Wahlrechts zu den nächsten Europawahlen sollte es nicht geben. Die Richtlinien der Venedig-Kommission besagen, dass das Wahlrecht ein Jahr vor der Wahl nicht mehr geändert werden sollte. Deutschland sollte sich an die Vorgaben der Venedig-Kommission halten.

Die Bundesregierung lässt Europa bei der Wahlrechtsreform die Drecksarbeit machen. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Prozenthürde ablehnt, jetzt setzt sie die Bundesregierung über die europäische Ebene durch. Es ist plump, wie die Bundesregierung die ungeliebte Arbeit auf Europa abschiebt und somit dem Ruf der Europäischen Union schadet. Die Gefahr der Rufschädigung Europas ist umso größer, wenn das Karlsruher Verfassungsgericht auch diesen Versuch einer Prozenthürde für kurz vor der Europawahl zurückweisen würde. Klagen von Kleinparteien sind zu erwarten, sie werden sich als Opfer öffentlichkeitswirksam generieren. Dass es selbst für die rechtsextreme NPD möglich wurde, einen Europaabgeordneten zu entsenden und an europäische Gelder zu gelangen ist traurig. Die Wehrhaftigkeit der deutschen Demokratie kann der Bundestag allerdings auch selbst mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit unter Beweis stellen, dafür ist kein Umweg über europäisches Recht nötig.

Es ist ein Armutszeugnis, dass die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zur Demokratisierung und Europäisierung der Wahlen verhindert haben. Transnationale Listen würden mehr Sichtbarkeit europäischer Parteifamilien im Wahlkampf bringen. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf Wahllisten, würde Europa demokratischer machen. Es ist bitter, dass die Mehrheit des Europaparlaments heute durchgewunken hat, dass Kandidaten den Wählern erst drei Wochen vor der Wahl bekannt gemacht werden können. Das ist zu kurz, um sich über Kandidaten ein Bild zu machen. Es ist noch ein langer Weg bis zu wirklich europäischen Europawahlen.

Sven Geigold | MdEP, Die Grünen/EFA

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