Jean Asselborn (69) ist seit fünfzehn Jahren Minister für auswärtige und europäische Angelegenheiten in Luxemburg. Damit ist der Sozialdemokrat der dienstälteste Außenminister der Europäischen Union. Seit 2014 ist Asselborn zudem Minister für Immigration und Asyl im Großherzogtum Luxemburg. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Jean Asselborn über die anstehende Europawahl, die Vorbereitungen auf einen möglichen „No-Deal-Brexit“ und die Frage, warum Radfahren noch schöner ist als Außenminister zu sein.
Das Interview erschien erstmals am 18.02.2019 auf Initiative Gesichter der Demokratie. Die Veröffentlichung des Interviews auf Europa.blog erfolgt mit freundlicher Zustimmung von Sven Lilienström.
Sven Lilienström: Herr Asselborn, als derzeit dienstältester EU-Außenminister möchten wir Sie zu allererst fragen: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Jean Asselborn: Demokratie ist mehr als die Definition einer Staatsform, sie ist die unabdingbare Voraussetzung für Freiheit, Frieden und Wohlstand. Jedoch ist Demokratie keine Selbstverständlichkeit, kein „Perpetuum Mobile“, wir müssen uns dafür immer wieder einsetzen. Denn unsere Demokratie ist immer nur so stark, wie wir sie machen. Das gilt auch für die europäische Demokratie.
S.L.: Vor der Europawahl spüren Rechtspopulisten und Europaskeptiker Aufwind. Was bedeutet das Erstarken populistischer Hardliner für die Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 2019?
J.A.: Der aktuelle internationale Kontext und insbesondere der ausufernde Populismus bergen Risiken gegenüber der auf Integration und Multilateralismus basierenden Friedensgarantie. Wir dürfen uns hier nichts vormachen!
Und gerade in Zeiten des erstarkenden Populismus ist das Europäische Parlament unverzichtbar. Seine Bedeutung muss mehr in den Vordergrund gerückt werden. Wir alle müssen uns noch mehr engagieren, um zu verdeutlichen, was das Parlament eigentlich ist, nämlich das Kernstück der Demokratie in der Europäischen Union.
Die anstehenden Wahlen werden mitunter die wichtigsten Wahlen seit der Gründung Europas sein. Es ist der Moment, in dem die Bürgerinnen und Bürger das Sagen haben, der Moment, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme über die Zukunft Europas abgeben, über die Zukunft unseres gemeinsamen Zusammenlebens in der EU. Positiv ist, dass es diesmal eine richtige Debatte über die zukünftige Ausrichtung der EU gibt und es ein Thema ist, welches die Leute mehr passioniert als in der Vergangenheit. In dieser Debatte sollten alle gehört werden und alle die Möglichkeit haben ihre Argumente vorzutragen, so wie das in demokratischen Gesellschaften der Fall ist.
Allerdings müssen wir auch sicherstellen, dass nicht mit falschen Tatsachen (Fake News) argumentiert wird. Wir müssen also gegen jede Form der sogenannten Desinformation vorgehen. Es ist leider so, dass es verschiedene Kreise – innerhalb und außerhalb der EU – gibt, die dem europäischen Projekt Schaden zufügen wollen und dies mit unlauteren Mitteln. Wir müssen vermeiden, dass es interessierten Kräften gelingt, über das Verbreiten von Unwahrheiten und dem Zerstören von Vertrauen, das Resultat der EP-Wahlen zu verfälschen. Wir müssen uns bewusst sein, dass es hier weniger um die mögliche Stärkung von Parteien geht, deren Positionen man kritisiert, sondern um Kräfte, die in erster Linie auf die Schwächung der Europäischen Union und ihrer Institutionen insgesamt abzielen.
Im Europäischen Parlament brauchen wir Parteien, die Europa voranbringen und nicht solche, die die Stimme Europas – also unser aller Stimme – auf der Weltbühne schwächen wollen. Man kann daher durchaus sagen, dass die EP-Wahlen eine Richtungsentscheidung sind und es an jedem ist, hier Verantwortung zu übernehmen.
S.L.: Stichwort Brexit: Wie bereitet sich Ihr Land auf ein mögliches „No-Deal-Szenario“ vor und was würde ein ungeordneter EU-Austritt für die derzeit 6.000 in Luxemburg lebenden Briten bedeuten?
J.A.: Auch wenn wir immer noch darauf hoffen, dass es nicht dazu kommt, bereiten wir uns natürlich auf ein „No-Deal-Szenario“ vor. So haben wir in den letzten Monaten unsere Vorbereitungen auf einen möglichen No-Deal intensiviert, um den Schaden für Bürger und Unternehmen so gut wie möglich zu begrenzen. Wir tun dies natürlich in enger Abstimmung mit der Europäischen Kommission als auch mit unseren EU-Partnern.
Der Ausschuss für die Koordinierung der Europa-Politik, unter der Leitung des Außenministeriums, sorgt für einen regelmäßigen Austausch zwischen den verschiedenen Ministerien, um festzustellen, in welchen Bereichen spezifische Maßnahmen zu ergreifen sind.
Zudem werden bereits Gesetzesentwürfe in Bezug auf eine Reihe spezifischer Themen ausgearbeitet: Bürgerrechte, der Status der Briten im luxemburgischen Staatsdienst und die Finanzdienstleistungen.
Was nun die 6.000 Briten, die aktuell in Luxemburg leben, betrifft, so hat die Regierung beschlossen, eine Sonderreglung für diese britischen Bürger auszuarbeiten, um die negativen Konsequenzen des Brexit auf ihren Alltag so niedrig wie möglich zu halten. Innerhalb eines Jahres können sie eine Aufenthaltserlaubnis beantragen.
S.L.: Der INF-Vertrag steht vor dem Aus. Damit droht eine der wichtigsten Stützen europäischer Sicherheitspolitik wegzubrechen. Folgt jetzt ein neues nukleares Aufrüsten in Europa?
J.A.: Ein nukleares Wettrüsten müssen wir auf jeden Fall verhindern. Für uns Europäer gilt in den nächsten sechs Monaten, uns weiter einzusetzen, damit der Dialog zwischen Amerikanern und Russen vorankommt und zu einer Lösung führt. Angesichts der negativen Dynamik zwischen Moskau und Washington wird das sehr schwer sein – ich bin mir dessen bewusst. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben und nichts unversucht lassen.
Wir können das Ende des INF-Abkommens nicht einfach über uns ergehen lassen. Es ist unsere Sicherheit, die Sicherheit Europas, die auf dem Spiel steht. Weltweit müssen wir uns weiterhin resolut für die Abrüstung einsetzen, im Dialog mit den USA, Russland und auch China.
S.L.: Beinahe täglich ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer – zuletzt waren es 170. Italiens Innenminister macht die Hilfsorganisationen dafür verantwortlich. Müssen wir uns an das Sterben im Mittelmeer gewöhnen?
J.A.: Die EU-Migrationskrise kann nur durch Solidarität und eine innere Lastenaufteilung gelöst werden. Solidarität praktiziert man, oder man lässt es. Sie macht das Wesen der EU aus, zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit. Bei diesen Themen muss man klare Kante zeigen.
Wenn wir diese Migrationskrise auf längere Sicht nicht bewältigen, machen wir einen Fehler, der nicht mehr gutzumachen ist. Heute heißt es, dass 90 Prozent weniger Anträge in der EU gestellt werden. Es gibt verschiedene Leute, die sich damit brüsten. Dabei haben wir Europa „zugemacht“. Wir haben keine legale Migration hinbekommen. Und solange wir das nicht hinbekommen, werden wir die Leute in die Hände der Schleuser drücken.
S.L.: Demokratie und Digitalisierung: Algorithmengesteuerte „Social Bots“ beeinflussen zunehmend die öffentliche Meinung. Gewinnt in Zukunft die Partei oder der Kandidat mit dem besseren Algorithmus?
J.A.: In der Tat sind „Social-Bots“ sehr gefährlich, da der Eindruck erweckt wird, hinter den entsprechenden Social-Media-Profilen stünden reale Menschen. Wichtig ist, dass wir ein Bewusstsein für das Thema schaffen, denn wir dürfen ihre Wirksamkeit nicht unterschätzen.
In diesem Zusammenhang ist es besonders lobenswert, dass die EU Anfang Dezember ihren „Aktionsplan gegen Desinformation“ präsentierte, der unter anderem den Aufbau eines „Rapid Alert Systems“ vorsieht, mit dem länderübergreifend Manipulationsversuche schneller erkannt und weitergemeldet werden sollen. Das ist wichtig im Hinblick auf die kommenden Europawahlen.
Ich bin überzeugt, dass nach wie vor Programme, Inhalte und Personen sowie die Fähigkeit, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, Wahlausgänge entscheiden und nicht der beste Algorithmus.
S.L.: Herr Asselborn, unsere siebte Frage ist immer eine persönliche: Sie sind ein leidenschaftlicher Radfahrer. Was fasziniert Sie am Radsport und wohin geht Ihre nächste Tour?
J.A.: Bedingt durch den stressigen Alltag ist es mir besonders wichtig einen Ausgleich zu haben. Das Fahrradfahren erlaubt mir einfach mal abzuschalten, den Kopf frei zu bekommen und Sauerstoff zu tanken. Radfahren ist noch schöner als Außenminister zu sein!
S.L.: Vielen Dank für das Interview Herr Asselborn!
Titelfoto: Jaen Asselborn | Foto: Velislav Nikolov EU2018BG CC BY 2.0
Über die Gesichter der Demokratie
Seit Gründung der Initiative Gesichter der Demokratie im Februar 2017 haben bereits mehr als 500.000 Menschen die Selbstverpflichtung zum Schutz und zur Stärkung der demokratisch-zivilgesellschaftlichen Grundwerte unterzeichnet. Mediale Aufmerksamkeit erhält die privat organisierte Initiative durch zahlreiche prominente Interviewpartner – darunter EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Estlands Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid, Bundesminister Heiko Maas und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle.
Siehe auch: Zwei Jahre “Gesichter der Demokratie”.
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