Von Jürgen Klute

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Überraschend kommen die erneuten Angriffe der türkischen Armee auf Rojava nicht. Die türkische Regierung hat sie seit Monaten vorbereitet. Unklar war lediglich, wann, wo und wie die türkische Armee angreift.

Am frühen 20. November 2022 kurz nach Mitternacht begannen türkische Kampfflugzeuge, Krankenhäuser, Schulen und anderen zivile Ziele in und um Kobanê zu bombardieren. Unter den Zielen war unter anderem das Dorf Belûniyê in Shahba südwestlich von Kobanê und das Dorf Teqil Beqil bei Qerecox in Dêrik im östlichen Teil der autonomen kurdischen Region Nord- und Ostsyrien. Das Dorf Belûniyê wird von vertriebenen Kurden und Kurdinnen aus Afrin bewohnt. Außerdem griffen türkische Kampfflugzeuge das Getreidelager in der Region Dahir al-Arab in der Nähe von Zirgan sowie Gebiete im Qendil-Gebirge und im Asos-Gebirge im Nordirak an. Soweit die aktuelle Lage.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den russischen Krieg gegen die Ukraine konsequent für seine Interessen genutzt. Er bot sich als Vermittler an und er war an der Aushandlung des so genannten Getreideabkommens beteiligt und auch bei der Umsetzung spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Schließlich nutzt Erdoğan den Antrag Schwedens und Finnlands, um die beiden Beitrittsländer zu einer Abkehr von ihrer bisherigen unterstützenden Politik gegenüber den Kurden zu erpressen.

Zuletzt kam es in der bekannten Istanbuler Einkaufsstraße İstiklal zu einem Bombenanschlag, bei dem 6 Menschen getötet und 80 Menschen verletzt wurden. Bereits kurz nach dem Anschlag verbreiteten türkische Medien, die kurdische PKK sei für diesen tödlichen Anschlag verantwortlich. Beweise für diese Anschuldigung wurden bis heute keine Vorgelegt.

Die PKK hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Diese Zurückweisung der Verantwortung für den Anschlag ist glaubwürdig. Die PKK wehrt sich zwar unter Einsatz von Waffen gegen türkische Angriffe. Sie geht allerdings nur gegen bewaffnete türkische Kräfte vor.

Dies wurde einerseits auf dem zivilgesellschaftlichen Völkertribunal zu den türkischen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kurden, das am 15. und 16. März 2018 in Paris stattfand, von namhaften, international anerkannten und erfahrenen Juristen bestätigt.

Zum anderen hat das Brüsseler Berufungsgericht (Cour d’appel) in einer Entscheidung vom 14. September 2017 festgestellt, dass die kurdisch-türkische PKK nach geltendem internationalem Recht keine Terrororganisation ist, sondern Kriegspartei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt.

Entscheidendes Merkmal für diese Einstufung der PKK durch das Brüsseler Gericht sind, dass die PKK ausschließlich bewaffnete Kräfte des türkischen Staates angreift und keine Zivilisten. Zudem muss die PKK über eine innere Befehlsstruktur verfügen, die ein unabhängiges Agieren von Einheiten ausschließt. Auch das wird als gegeben anerkannt.

Die PKK-Führung weiß also, was für sie auf dem Spiel steht, wenn sie zivile Ziel angreifen würde. Von daher ist die Zurückweisung der Verantwortung der PKK für den Anschlag auf der İstiklal in Istanbul glaubwürdig. Das heißt dann allerdings, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dieser Anschlag als ein Anschlag unter falscher Flagge auf das Konto des türkischen Staates geht.

Für die türkische Regierung besteht ein großes Interesse daran, die PKK als Terrororganisation darzustellen. Denn darauf baut ihre antikurdische Politik auf. Das gilt zum einen im Blick auf die Erpressungsversuche gegenüber der schwedischen und der finnischen Regierung. Die türkische Regierung weiß selbstverständlich, dass politisch verfolgte Menschen von EU-Staaten nicht an andere Staaten ausgeliefert werden dürfen. Deshalb stellt sie kurdische Politiker und Politikerinnen als Terroristen dar. Eine Ausweisung von Kriminellen ist eben nicht grundsätzlich untersagt.

Das gleiche gilt für den aktuellen Angriff auf die Kurden in Nordsyrien. Das ist eindeutig ein völkerrechtswidriger Angriff auf den Nachbarstaat Syrien. Der Anschlag in Istanbul dient lediglich dazu, diesen völkerrechtswidrigen Angriff als Notwehr zu tarnen und zu legitimieren. Die Benutzung des Anschlags als Begründung seitens der türkischen Regierung für den Angriff spricht für die Richtigkeit der Annahme, dass es sich bei dem Bombenanschlag auf der İstiklal um einen Anschlag unter falscher Flagge handelt, der auf das Konto des türkischen Staates gehen dürfte.

Wie schon anfangs gesagt, hat die Türkei seit Monaten auf den Angriff zielgerichtet hingearbeitet. Weder der NATO noch der EU wird das entgangenen sein. Damit stellt sich die Frage, weshalb die NATO und die EU diese erneuten völkerrechtswidrigen Angriffe eines NATO-Mitgliedsstaates auf Kurden zulassen. Sie haben genug Zeit gehabt, auf die türkische Regierung einzuwirken, um diese Aggression und eine weitere Destabilisierung des mittleren Ostens durch die Türkei zu verhindern. Oder tanzt die türkische Regierung mittlerweile der NATO und der EU auf der Nase herum?

Titelbild: privat

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