In einer Pressemeldung vom 17. Mai 2022 veröffentlichte der in Brüssel ansässige kurdische Nationalkongress (KNK) einen Brief an den UN-Generalsekretär. Die Absender fordern die UN auf, die aktuellen Angriffe auf Kurden und Yesiden im Nordirak und in Nordsyrien nicht als Selbstverteidigung im Sinne des Artikel 51 der UN Charta anzuerkennen. Europablog veröffentlicht das Schreiben hier im Wortlaut.

An den UN-Generalsekretär,
An die UN-Frauen,

Die Aggression der Türkei gegen Kurdinnen und Kurden erreichte 2017 eine neue Stufe. Sie begann mit türkischen Luftangriffen auf Nordostsyrien, die jesidische Heimat Sinjar und das Camp Makhmour im Nordirak begann. Dort leben mehr als 11.000 kurdische Flüchtlinge.

Seitdem hat die Türkei die überwiegend kurdisch besiedelten Städte Afrin (März 2018) und Serêkaniyê/Ra’s al-‘Ain (Oktober 2019) besetzt. Türkische bewaffnete Drohnen fliegen ständig über Nordostsyrien, Sinjar und Makhmour und schaffen eine Atmosphäre der Angst und der tiefen Unsicherheit. Zivile Infrastruktur, Autos und Häuser werden ohne Vorwarnung angegriffen. Die Menschen fliehen aus ihrem Land, weil sie weitere türkische Angriffe und Besetzungen fürchten.

Die Türkei rechtfertigt ihre außergerichtlichen Tötungen, Drohnenangriffe und militärischen Besatzungsoperationen als “Selbstverteidigung” im Sinne des Artikel 51 der UN-Charta. Der türkische Staat behauptet, dass seine nationale Sicherheit durch Nordostsyrien, Sinjar und Makhmour direkt bedroht war und noch immer bedroht ist. Darüber hinaus legitimiert Ankara die derzeitige Besetzung des nordsyrischen Grenzgebiets und die geplante Besetzung der Grenzregion im Nordirak damit, “die Grenzsicherheit der Türkei zu gewährleisten”. Die Türkei instrumentalisiert den bewaffneten Konflikt mit der PKK für eine weitere militärische Besetzung und politische Intervention im Nordirak. Damit destabilisiert die Türkei die dortige Lage weiter und verschärft die Unsicherheit.

Die Unterorganisationen der UN erstellen regelmäßig Berichte über die Sicherheitslage in Syrien und im Irak. Weder der Nordosten Syriens noch das jesidische Volk von Sinjar oder das Makhmour-Flüchtlingslager stellen eine Sicherheitsbedrohung für die Türkei dar. Im Gegenteil: Das türkische Militär begeht ungestraft Menschenrechtsverletzungen, vollzieht außergerichtliche Tötungen mit Hilfe von Drohnen und führt Luftangriffe auf zivile und militärische Ziele in Nordostsyrien, Sinjar und der Region Kurdistan im Irak/Nordirak aus. All dies geschieht im Namen der UN-Charta.

Wir, die Unterzeichnenden, akzeptieren nicht, dass die UN die türkische Aggression gegen die kurdische Bevölkerung in Nordostsyrien und im Nordirak unterstützt. Wir weisen den Anspruch der Türkei auf Selbstverteidigung zurück und betonen, dass der türkische Staat der Angreifer ist. Wir fordern die UNO auf, die türkische Aggression gegen die Kurden zu verurteilen und Maßnahmen zu ergreifen, um die grenzüberschreitenden Angriffe der Türkei auf Nordostsyrien und die Region Kurdistan im Irak/Nordirak zu stoppen.

16. Mai 2022

  1. Kongra Star (Star Congress), confederation of women’s organisations in Rojava, North East Syria
  2. Autonomous Administration of North and East Syria, AANES, Women’s Coordination, North East Syria
  3. Benedetta Argentieri, journalist and filmmaker, Italy
  4. Susanne Bader, European Coordinator of World Women’s Conference of Grassroots Women, Germany
  5. Clare Baker, International Officer of UNITE the union, UK
  6. Zahraa Banaho, human rights activist, West Sahara
  7. Trude Bennett, public health organizer, USA
  8. Janet Biehl, independent author, artist, translator, editor, USA
  9. Vicky Blake, UCU President, UK
  10. Baroness Christine Blower, House of Lords, UK
  11. Center for Research and Protection of Women’s Rights, North East Syria
  12. Debbie Bookchin, journalist and author, USA
  13. Debbie Brennan, Radical Women Australia
  14. Democratic Syria Council (MSD), women’s office, North East Syria
  15. Democratic Way Party, Women’s Branch, Morocco
  16. Judith Butler, Maxine Elliot Professor in the Department of Comparative Literature and the Program of Critical Theory, University of California, USA
  17. Orsola Casagrande, journalist, Basque Country
  18. Vandana Chaudry, Associate Professor, City University of New York, USA
  19. Louise Christian, lawyer, Honouary Vice-Chair of Haldane Society of Socialist Lawyers, UK
  20. Nora Cortinas, co-founder of Mothers of the Plaza de Mayo, Argentina
  21. Molly Crabapple, artist and author, USA
  22. Angela Davis, author and Distinguished Professor Emerita, University of California, USA
  23. Mary Davis FRSA, Visiting Professor of Labour History at Royal Holloway University of London, UK
  24. Francesca Degiuli, Associate Professor, Fairleigh Dickinson University, USA
  25. Barbara Ehrenreich, writer and organiser, USA
  26. Silvia Federici, author and Professor Emerita of Social Science, Hofstra University, USA
  27. Lindsey German, Convenor Stop the War Coalition, UK
  28. Helen Gilbert, Radical Women U.S., USA
  29. Dr Sarah Glynn, writer, France
  30. Ozlem Goner, Associate Professor, College of Staten Island and Graduate Center, City University of New York, USA
  31. Saloua Guiga, FemWise-Africa Tunisia section, Tunisia
  32. Rahila Gupta, writer and journalist, UK
  33. Dr Hiba Haddadin, General Director of the Foundation for Gender Studies and Consultations, Jordan
  34. Jean Halley, Professor, City University of New York, USA
  35. Dr Basma Hamdi, Secretary General of the International Federation of African Women, Tunisia
  36. Dr Choman Hardi, Director of Center for Gender and Development Studies at American University of Iraq, Sulaimani, KRG
  37. Ava Homa, writer, journalist and activist, Canada/USA
  38. Dr Amber Huff, Research Fellow at the Institute of Development Studies, UK
  39. Baroness Helena Kennedy QC, House of Lords, UK
  40. Hosu Kim, Associate Professor, City University of New York, USA
  41. Neemat Koko, Director of the Center for the Gender Studies, Sudan
  42. Claudia Korol, journalist and member of Feministas del Abya Yala, Argentina
  43. Andrea Koskondi, General Federation of Trade Unions (GFTU) Executive Committee Member, UK
  44. Şeyda Kurt, author, Germany
  45. Dr Carol Mann, Director of Women in War, France
  46. Joya Misra, Professor, University of Massachusetts, USA
  47. Baroness Jones of Moulsecoomb, Green Party Member of the House of Lords, UK
  48. Movement for a Democratic Society (TEV-DEM), Women’s Office, North East Syria
  49. North East Syria Women’s Council, North East Syria
  50. Kazhal Nouri, author and organizer, Netherlands
  51. Shamiran Odisho, Secretary of the Iraqi Women’s Association, Iraq
  52. Margaret Owen, O.B.E., President Widows for Peace through Democracy, UK
  53. Julia Pascal, playwright, director, journalist, UK
  54. Maxine Peake, actress and writer, UK
  55. Rosalind Petchesky, Distinguished Professor Emerita of Political Science, Hunter College & the Graduate Center, City University of New York, USA
  56. Louise Regan, National Officer, Membership and Equality, National Education Union, UK
  57. Khadija Riyadi, activist, winner of the United Nations Human Rights Prize, Morocco
  58. Tiba Saad Abdelkarim, feminist movement Intadifi, Iraq
  59. Rita Segato, feminist academic and Professor Emerita at the University of Brasilia, Argentina
  60. Dr Maha Al Sekban, President of the Women Human Rights Center, Iraq
  61. Marina Sitrin, lawyer, author, and Associate Professor of Sociology, State University of New York, USA
  62. Sabah Shuaib, coordinator of the Peace Circles Network in the Libyan East, Libya
  63. Prof. Radha D’Souza, Westminster University, UK
  64. Gloria Steinem, writer and organizer, USA
  65. Dr Greta Sykes, writer and artist, UK
  66. Syria Future Party Women’s Branch, North East Syria
  67. Syria Women’s Council, Syria
  68. Atika Al Taiif, Democratic Way Party, Morocco
  69. Shavanah Taj, General Secretary Wales TUC, UK
  70. Meredith Tax, writer and organizer, USA
  71. Saadia Toor, Associate Professor, City University of New York, USA
  72. Professor Kariane Westrheim, Chair of EU Turkey Civic Commission (EUTCC), Norway
  73. Debra Winger, actress and producer, USA
  74. Jan Woolfe, writer, Member of Theatre Committee – Writers Guild, UK
  75. Zenoobya Women’s Gathering, North East Syria

Titelbild: Yezidi YBS Fighter by Kurdishstruggle CC BY 2.0 via FlickR

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Zum Hintergrund des Briefes

Auf piqd habe ich kürzlich einen Hintergrundartikel des Politikwissenschaftlers Ismael Küpeli empfohlen, der am 7. Mai 2022 in der Luxemburger grün-linken Zeitung woxx veröffentlicht wurde.

Im Windschatten des Krieges Russlands gegen die Ukraine hat das NATO-Mitgliedsland Türkei erneut massive militärische Operationen gegen Kurden und gegen Yesiden in Shingal begonnen. Diese militärischen Operationen der türkischen Regierung erfolgen in Zusammenarbeit mit der kurdischen Regionalregierung im Nordirak. Sie sind nicht weniger völkerrechtswidrig als der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Auf diese Militäraktionen bezieht sich der Brief an den UN-Generalsekretär.

In seinem Artikel hat Ismail Küpeli die Interessenlagen hinter diesem Konflikt sowie die dazugehörigen politischen Machtkonstellationen in der Türkei analysiert und beschrieben. Küpelis Analyse bezieht sich auf den Zeitraum seit der Erklärung von Abdullah Öcalan vom Merz 2013, dass die kurdische Guerilla PKK den bewaffneten Kampf einstellt zugunsten einer politisch-diplomatischen Lösung des Konfliktes zwischen dem türkischen Staat und den Kurden. Dieser Friedensprozess wurde 2015 seitens der türkischen Regierung beendet.

Zum Verständnis der jüngeren Phase dieses Konfliktes und zum Verständnis des Scheiterns des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und den Kurden 2015 ist dieser Beitrag von Küpeli sehr empfehlenswert.

Hier der Link zu dem Artikel von Ismael Küpeli:

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