Erstakademiker*innen sind in der „Eurobubble“ stark unterrepräsentiert. Eine neue Initiative will darauf aufmerksam machen und dies ändern – denn gerade Menschen aus Familien ohne Hochschulerfahrung sind von besonderem Wert für das europäische Projekt.

Von Susanne Horl, Katharina Kleine-Tebbe und Benedikt Weingartner

Brüssel ist nicht nur das politische Herz der EU, sondern bietet als solches großartige Möglichkeiten in allen Phasen einer beruflichen oder akademischen Laufbahn: ob für ein kurzes Praktikum oder Referendariat während des Studiums, den ersten Job nach dem Uniabschluss oder als wichtiger Karriereschritt im Berufsleben. Gleichzeitig umweht diese an sich so vielfältige und lebenswerte europäische Hauptstadt ein wenig das Flair einer elitären „Blase“, was insbesondere auf Erstakademiker*innen abschreckend wirken kann.

In der Tat ist vor allem im Arbeitsumfeld rund um das Europaviertel auffällig, wie stark unterrepräsentiert Erstakademiker*innen im Vergleich zu Menschen aus Familien mit Hochschulerfahrung sind. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Viele Praktika sind gar nicht oder schlecht vergütet, für Traineeships in den EU-Institutionen scheint ein Abschluss von renommierten und teuren Universitäten genauso wie internationale Praxiserfahrung oftmals unabdingbar und für den Berufseinstieg schrecken nicht nur komplizierte und langwierige Auswahlverfahren, sondern auch hohe Bewerber*innenzahlen ab. All diese Punkte stellen gerade für Menschen aus nichtakademischen Familien materielle und immaterielle Hürden dar, die häufig dazu führen, dass diese sich gar nicht erst für ein Praktikum oder eine Stelle in Brüssel bewerben.

Diese Unterrepräsentation von Erstakademiker*innnen ist nicht nur ungerecht – sie stellt auch eine Vergeudung von Talent und Potenzial dar. Viele von ihnen haben schon früh gelernt, mit geringen Ressourcen maximale Erfolge zu erzielen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn junge Menschen aus nichtakademischen Familien lernen häufig schon zu Schulzeiten, für sich selbst und andere Verantwortung zu übernehmen, Hürden (seien sie finanzieller oder „mentaler“ Art) zu überwinden und dennoch sehr gute Leistungen zu bringen. Diese Eigenschaften sind in einem internationalen Arbeitsumfeld wie der Europäischen Union ein echter Mehrwert. Dies trifft auch auf die Perspektiven und Erfahrungen zu, die man mitbringt, wenn man nicht aus einer Familie kommt, in welcher der Weg in eine internationale Karriere mit sämtlichen Zwischenschritten quasi vorgezeichnet ist, sondern vielleicht aus einem kleinen Dorf in Süddeutschland oder einer Plattenbausiedlung am Rande Berlins stammt, wo abstrakte Europapolitik verdammt weit weg ist, aber die alltäglichen Sorgen eines Großteils der Bevölkerung sehr nahe sind.

Wir glauben daher fest daran, dass gerade Erstakademiker*innen als wertvolle Brückenbauer*innen fungieren können, um breiteren Teilen der Bevölkerung die Vorteile der EU näher zu bringen. Ein höherer Anteil von Personal aus nichtakademischen Familien könnte nämlich nicht nur die Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene positiv beeinflussen, sondern auch die Art und Weise, wie diese kommuniziert werden. Deshalb wünschen wir uns, auch und besonders im Interesse der Zukunft der EU: mehr Arbeiterkinder nach Europa!

Jeder und jede, der oder die nach Brüssel möchte, kann und sollte dies auch tun – unabhängig von der Herkunft oder finanziellen Gegebenheiten. Es gibt nämlich unzählige Stipendien- und andere Finanzierungsangebote, sämtliche Bewerbungsverfahren sind auch für Menschen ohne Eliteuni-Abschluss machbar und überhaupt sind die Beschäftigungschancen so vielfältig, dass jedes Fach- und Interessenprofil von Relevanz ist. Erstakademiker*innen fehlt es bis jetzt aber leider häufig am Wissen um derlei Möglichkeiten und Abläufe sowie ein entsprechendes Netzwerk, das sie darüber aufklären könnte. Was ihnen jedoch in der Regel nicht fehlt, sind die nötigen Kompetenzen oder die fachliche Qualifikation.

Dies war die Hauptmotivation für drei junge Leute, die seit längerer Zeit in Brüssel berufstätig sind, um im September 2019 eine lokale Gruppe der deutschlandweit aktiven Initiative ArbeiterKind.de zu gründen. Die Gruppe möchte Menschen aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu ermutigen, ein Studium oder Praktikum mit EU-Bezug zu absolvieren oder in diesem Bereich den Berufseinstieg anzustreben. Ihre Mitglieder wissen dabei häufig aus eigener Erfahrung, wie abschreckend und kompliziert die Bewerbungs- und Auswahlverfahren zunächst erscheinen können, aber auch wie sich diese überwinden lassen. Sie möchten daher ihre Erfahrung an Menschen mit ähnlichem Hintergrund weitergeben und diese darüber hinausgehend aktiv unterstützen. Dass das Netzwerk der Gruppe seit der Gründung rasant angewachsen ist zeigt, inwieweit hier bei vielen Menschen in Brüssel mit ähnlichem Werdegang ein Nerv getroffen wurde.

Um ihre Anliegen voranzutreiben, konzentriert ArbeiterKind.de Brüssel seine Aktivitäten vor allem auf drei Bereiche. Erstens als ein informelles Netzwerk, das den Austausch zwischen Erstakademiker*innen jeden Alters und jeder Tätigkeit fördert. Bei den monatlich stattfindenden Offenen Treffen etwa können sich Menschen kennenlernen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder derzeit machen. Zudem helfen sich die Mitglieder der Gruppe auch gegenseitig bei unterschiedlichsten Anliegen, etwa bei Bewerbungen oder der Wohnungssuche.

Zweitens bietet die Gruppe umfassende Informationen und konkrete Unterstützung an. Dies umfasst themenspezifische Informationsveranstaltungen zum Beispiel zu Berufsmöglichkeiten in der EU-Kommission oder über das Studium am College of Europe (der angeblichen „Kaderschmiede der EU“). Außerdem gibt es ein spezielles Europa-Mentoring, im Rahmen dessen bereits in Brüssel Berufstätige Studierenden oder Absolvent*innen vor Ort oder virtuell mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Drittens hat ArbeiterKind.de Brüssel zum Ziel, bei EU-Institutionen und in deren Umfeld ein besseres Bewusstsein zu schaffen für die Stärken und den großen Wert von Erstakademiker*innen. Dies bezieht sich einerseits auf deren Eigenschaft als Arbeitskräfte mit besonderen Erfahrungen und Perspektiven, andererseits aber auch auf deren Funktion als Brückenbauer*innen, um Europapolitik praxisnah und unkompliziert für Menschen zu erklären, die sich ansonsten nicht täglich mit EU-Themen beschäftigen.

Die Europäische Union steht aktuell massiv unter Druck, von außen wie von innen. Wahlergebnisse und Volksabstimmungen quer durch den Kontinent haben in den letzten Jahren gezeigt, wie einfach und effektiv Anti-EU-Tiraden bei vielen Menschen verfangen. Ein höherer Anteil von Erstakademiker*innen in der „Eurobubble* könnte dazu beitragen, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, um ihnen verständlich und nachhaltig die immensen Vorteile des europäischen Projekts zu vermitteln. Dies würde nicht nur die Popularität der EU als Ganzes fortwährend stärken, sondern auch dem Erfolg europafeindlicher Parolen den Nährboden entziehen.

Titelbild / Fotos: privat

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Susanne Horl, Katharina Kleine-Tebbe und Benedikt Weingartner

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