Der Brexit hat Großbritannien in eine tiefe politische Krise geführt – manche sprechen sogar von einer Verfassungskrise. Zwei Mal musste der Supreme Court of the United Kingdom, das höchste britische Gericht, das in etwas dem bundesrepublikanischen Verfassungsgericht entspricht, sich schon mit dem Brexit befassen. Im Januar 2017 entschied das Gericht, dass das Unterhaus dem von der britischen Regierung mit der EU verhandeltem Austrittsabkommen zustimmen muss, bevor es rechtskräftig werden kann. Im zweiten Fall im September 2019 ging es um die Rechtmäßigkeit der Parlamentspause, in die Theresa Mays Nachfolger, Premierminister Boris Johnson, das britische Parlament geschickt hat. In beiden Fällen entschied das oberster britische Gericht zugunsten des Unterhauses. Insbesondere im zweiten Fall wurde heftig diskutiert, ob es sich um eine politisch oder um eine rechtliche Fragestellung handelte. Hintergrund dieser Frage ist die britische Besonderheit, dass es in Großbritannien keine schriftlich fixierte Verfassung gibt. Wie dieses für Nicht-Briten nicht ganz einfach zu verstehende Rechtssystem funktioniert, erklärt Maximilian Steinbeis vom Verfassungsblog im folgenden. Dieser Text wurde erstmals im Newsletter des Verfassungsblogs vom 6. Oktober 2019 veröffentlicht. Die Veröffentlichung auf Europa.blog erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Beitrag von Maximilian Steinbeis

Unter den vielen Dingen, die ich an Großbritannien liebe, rühren mich ganz besonders seine alten Damen. Da ist natürlich die 93-jährige Königin, die nach 67 Jahren striktesten Befolgens des Rates ihrer wechselnden Premierminister_innen jetzt womöglich zum ersten Mal in ihrem langen Leben in die Situation gebracht wird, die Herrschaft des Rechts vor dem aktuellen Amtsinhaber retten und dafür politische Verantwortung übernehmen zu müssen. Aber auch, und ganz unsachlich und auf rein affektiver Ebene, die ganz normalen englischen Mittelklasseweiblein mit ihrem ungefärbten Grauhaar und ihren Regenmänteln und ihrer Art „absolutely not!“ zu sagen. Anfang der Woche bin ich mehreren von ihnen in London begegnet, vor dem Parlament in Westminster. Es regnete in Strömen, und der Parliament Square war mit Polizeibändern abgesperrt. Angeblich hatte sich kurz zuvor hier jemand mit Benzin übergossen und in Brand zu stecken versucht. Protest gegen den Crackdown der hindu-nationalistischen Regierung Indiens in Kaschmir, höre ich. „A mental health issue“, sagt mir eine ungerührte Polizistin. Niemand sei zu Schaden gekommen.

Die Leave- und Remain-Demonstranten stehen etwas weiter südlich, gegenüber von dem zeremoniellen Haupttor des Parlaments. Stark ausgedünnt sind sie an diesem regnerischen Tag, nicht mehr als eine Handvoll jeweils. Zuerst kommen die blaugelben Europafahnen der Remainer. Zwei alte Damen unter Regenschirmen, eine davon trägt ein selbst bemaltes Pappschild: „There’s a Lunatic Cult in Charge – Damn them“, die andere schwenkt eine irische Fahne. Wahnsinn sei das Ganze, sagt die eine, die verbale Aufrüstung, der Hass, die zerbrochenen Freundschaften und zerrissenen Familien. „Domestic terrorist“ sei sie kürzlich genannt worden, erzählt die andere. Weil sie gegen den Brexit kämpfe. Von einem Nachbarn. Sie sei über 80 Jahre alt, sagt sie mit aufgerissenen Augen. Domestic terrorist! Das sei nicht als Witz gemeint gewesen.

Das Leave-Lager ist nur wenige Schritte entfernt. Unions Jacks, Brexit Now, und auch hier eine alte Dame mit einem krakelig beschriebenen Pappschild: „The EU is Deceptive“, steht drauf, „Undemocratic, Unfixable“. Ab und zu bleibt ein Passant stehen. Deceptive, schnaubt einer, aha! Was sie denn dann bitteschön zu Boris Johnson sage? Die alte Dame legt den Kopf schief und blinzelt freundlich. Das Volk habe entschieden und müsse seinen Willen bekommen. Alles andere sei undemokratisch, don’t you think? Der Passant geht schimpfend weiter, die alte Dame lächelt, während der Regen ihr Pappschild durchweicht. „Remainers are Traitors“, steht auf einer der Fahnen, die über ihrem Kopf wehen.

In der Verfassungsfalle

Get Brexit done: seit mehr als drei Jahren kaut und würgt das Land jetzt schon an diesem unverdaulichen Faserklumpen herum und bekommt ihn weder heruntergeschluckt noch ausgespieen. Es gibt natürlich sehr valide Policy-Gründe, mit denen man diese Entscheidungsschwierigkeit erklären kann, allen voran die Grenze zwischen Irland und Nordirland, die als EU-Außengrenze die Bewohner der irischen Insel wieder in Bürger der irischen Republik und Untertanen der britische Krone aufteilen und damit den Wiederausbruch des Bürgerkriegs grauenerregend wahrscheinlich machen würde. Aber wenn ein Staat sich über so lange Zeit und bis an den Rand eines eigenen Bürgerkriegs – domestic terrorists! – als unfähig erweist, über seine eigenen Präferenzen eine kollektiv verbindliche Entscheidung zu fällen, dann ist das mehr als nur eine noch so schwierige Policy-Situation. Dann ist das ein Versagen der Verfassung.

Verfassungen sind dazu da, kollektiv verbindliche Entscheidungen sowie Meinungs- und Interessenvielfalt gleichermaßen möglich zu machen: Manche wollen A, andere wollen B, und die Verfassung stellt Institutionen und Verfahren bereit, mittels derer beide ihren Streit auf eine Weise austragen können, die es erwartbar macht, dass den Ausgang am Ende alle als verbindlich akzeptieren. Und genau das ist der britische Verfassung im Fall der Brexit-Entscheidung auf spektakuläre Weise misslungen.

Das Referendum von 2016 hat es nicht erwartbar gemacht, dass die Unterlegenen sein Ergebnis als gültig akzeptieren: nicht nur weil so unfassbar viel und rücksichtslos gelogen wurde, sondern weil zentrale Verfahrensfragen zum Zeitpunkt des Referendums noch ungeklärt waren. Wie bindend ist das Ergebnis für das Parlament? Was genau passiert, wenn die eine oder andere Seite gewinnt? Anstatt all das unter dem Schleier der Unwissenheit über den Ausgang auszuverhandeln, wurden all diese Fragen erst im Nachhinein beantwortet, wenn überhaupt. Mit der Folge, dass jede Antwort mit dem Verdacht behaftet war, das Ergebnis in die eine oder andere Richtung manipulieren zu wollen. So bekam man einen Output, der zu schwach ist für eine kollektiv verbindliche Entscheidung und zu stark, um sich von ihm loszusagen. Den man weder schlucken noch ausspeien kann.

Ein Teil der Leute löst dieses Dilemma für sich auf, indem sie sich gegen die Erkenntnis der klaffenden Legitimationslücken dieses Ergebnisses immunisieren und kurzerhand das Problem an die Kritiker des Referendums auslagern: Diese sind es, mit denen etwas nicht stimmt, nämlich Verräter.

Ein anderer Teil löst das Dilemma auf, indem sie den Konflikt pathologisieren und so tun, als handle es sich nur um ein Phänomen verrückter Wahrnehmung, als sei die Lösung des Konflikts zwischen Leave und Remain eine bloße Sache der Vernunft. Die anderen sind die, mit denen etwas nicht stimmt, nämlich Wahnsinnige.

Tatsächlich sind aber weder die einen das eine noch die anderen das andere, sondern alle zusammen stecken in einer Verfassungsfalle fest. Das Gute daran: die Verfassung kann man ändern. Verfassungen sind anpassungs- und lernfähig. Und keine so sehr wie die Britische.

Das Ding mal aufschreiben?

Zu den Sachen, an die man sich als kontinentaler Verfassungsrechtler in Großbritannien erst mal gewöhnen muss, zählt die Art, wie hier zwischen Recht und Verfassung unterschieden wird: Hier heißt verfassungswidrig noch lange nicht unbedingt rechtswidrig. Hier kann etwas auf ganz legale Weise verfassungswidrig sein.

Das liegt daran, dass die Regeln, nach denen kollektiv verbindlich entschieden wird, keine Rechtsregeln sind, sondern bloße Konventionen. Man macht die Dinge nicht so, weil man muss, sondern weil man das halt so macht. Und wenn man es plötzlich anders macht, dann ist das kein Rechtsverstoß, für den man vor Gericht gestellt werden kann, sondern allenfalls ein politischer Skandal, für den man den Preis an der Wahlurne zu entrichten hat, vielleicht aber auch ein Zeichen dafür, dass die Konvention sich veränderten Zeiten anzupassen hat. So bleibt die Verfassung wunderbar pragmatisch und anpassungsfähig und hält die Möglichkeit offen, dass die einen für A sind und die anderen für B, ohne immerfort so zu tun, als ließe sich die Antwort auf die Frage, ob A oder B, von vornherein schon immer gleich in der Verfassung nachschlagen.

Wie ein Katalysator hat das Brexit-Dilemma die Chemie des über Jahrhunderte gewachsenen Bestand an Verfassungskonventionen in diesen drei Jahren in einem Tempo und Umfang verändert, dass einem wahrhaftig Hören und Sehen vergeht. Eine Regierung, die ohne Mehrheit im Parlament und ohne die Macht, es aufzulösen, weiterregieren muss; ein Parlament, das der Regierung die Kompetenz zum Abschluss internationaler Verträge und die Kontrolle über die Gesetzgebung streitig macht; ein Supreme Court, der aus dem Common Law plötzlich Verfassungsprinzipien herausliest und das Tun und Lassen der Regierung daran misst, als sei er ein ganz gewöhnliches Verfassungsgericht – das so viel bewunderte und kopierte Westminster-Modell ist kaum mehr wiederzuerkennen, so sehr wandelt sich alles gerade. Ob zum Besseren oder Schlechteren, ist damit noch nicht gesagt.

In der Tat, das habe ich in meinen Gesprächen in den letzten Tagen immer wieder gehört: die Anpassungsfähigkeit der britischen Verfassung hat ihren Preis. Die Verfassung je nach Gebot des Augenblicks nach dem Motto „we make it up as we go along“ verändern zu können, ist zwar bei aller Flexibilität halt gelegentlich auch fürchterlich riskant. Plötzlich hat das Parlament das letzte Wort über den Brexit-Deal, aber für keine Variante eine Mehrheit – wer hätte das bedacht, wer hätte das gewollt? Es ist genau betrachtet auch eine ziemlich intransparente und undemokratische Art, mit der Verfassung umzugehen. Viereinhalb Millionen Menschen haben sich die Verhandlung vor dem Supreme Court im Miller II/Cherry-Fall im Livestream angeschaut. Die Leute interessieren sich dafür, wenn sich ihre Verfassung verändert. Vielleicht sollte man ihnen eine Stimme dabei geben.

Bisher galt die Erwartung, dass die meisten Brit*innen das Ansinnen, in Bürgerversammlungen über ihre Verfassung zu diskutieren, als entsetzlich unbritisch von sich weisen würden. Und vermutlich stimmt das für viele weiterhin. Aber für viele vielleicht auch nicht mehr, mittlerweile. Und die Geschichte ist ja noch nicht vorbei, im Gegenteil. Das Schlimmste steht womöglich noch bevor. „Die meisten geschriebenen Verfassungen sind aus Katastrophen entstanden“, sagte mir einer meiner Gesprächspartner. „Dies könnte die britische Katastrophe sein.“

Dank für unschätzbaren Input geht an Jeff King, Conor Gearty, Jo Murkens, Kai Möller, Alison Young, Kenneth Armstrong, Cathryn Costello, Stephen Weatherill, Dorota Leczykiewicz, Josef Weinzierl und Kalypso Nicolaidis. Die Verantwortung für Fehler und Fehleinschätzungen liegt natürlich bei mir selbst. 

Titelbild: Westminster | Foto: Thomas Riggs CC BY-NC 2.0

Über den Autor

Maximilian Steinbeis ist Gründer und Herausgeber des Webportals Verfassungsblog. Weiterhin ist er Jurist, Schriftsteller und Journalist sowie Mitgründer der kollaborativen Publikationsplattform für unabhängigen professionellen Journalismus RiffReporter.

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