Von Paul De Grauwe
Anfang des Monats veröffentlichten mehrere große Zeitungen einen Brief, der von mehr als hundert Ökonom:innen gezeichnet wurde. Darin fordern sie die EZB auf, die von ihr gehaltenen Staatsschulden zu erlassen. Paul De Grauwe von der London School of Economics vertritt demgegenüber die These, dass ein Schuldenerlass der EZB für die nationalen Regierungen kaum ökonomische Veränderungen brächte.
Der kürzlich veröffentlichte Vorschlag von mehr als hundert Ökonom:innen, die von der Europäischen Zentralbank gehaltenen Staatsschulden zu erlassen, hat die Debatte über die Rolle von Zentralbanken bei der Staatsfinanzierung neu entfacht. Viele stellen sich nun die Frage, ob dieser Vorstoß ernst genommen werden sollte. Um diese Frage zu beantworten, macht es Sinn, zu sich die Grundlagen der Bargeldschöpfung erneut in Erinnerung zu rufen.
Wenn eine Zentralbank Staatsanleihen kauft, wie z. B. im Rahmen quantitativer Lockerungsmaßnahmen, so ersetzt sie verzinsliche Staatsanleihen durch Geldverbindlichkeiten (das Basisgeld, das in der Regel als Währungsreserven bei den Banken liegt). Früher wurden diese Verbindlichkeiten der Zentralbanken nicht verzinst. Seit etwa zehn Jahren sind die Zentralbanken – infolge der Lobbybemühungen der Banken – jedoch dazu übergegangen, die Währungsreserven der Banken zu verzinsen. Nichts in ihren Satzungen zwingt sie dazu, und so könnten sie diese Verfahrensweise auch jederzeit wieder rückgängig machen. Tatsächlich haben die großen Zentralbanken in den letzten Jahren negative Zinssätze auf die Währungsreserven der Banken erhoben, was belegt, wie einfach es ist, diese Zinspolitik umzukehren.
In dem Moment, in dem eine Zentralbank Staatsanleihen kauft, erzeugt sie eine „Seigniorage“. Hierbei handelt es sich um den Monopolgewinn, der aus der Geldschöpfung entsteht. Dieser Geldschöpfungsgewinn wird dem Staatshaushalt zugeleitet und zwar auf folgende Weise: Der Staat zahlt Zinsen an die Zentralbank, die nun die Eigentümerin der Staatsanleihen ist; die Zentralbank ihrerseits gibt diese Zinserträge allerdings an den Staat zurück. Wenn die Zentralbank also als Käuferin von Staatsanleihen agiert, muss der Staat de facto keine Zinsen mehr für seine ausstehenden, von der Zentralbank gehaltenen Anleihen zahlen. Der Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank ist daher gleichbedeutend mit einem Schuldenerlass gegenüber dem Staat.
Was geschieht, wenn die von Zentralbanken gehaltenen Staatsschulden offiziell erlassen werden? Wie ich zeigen werde, wird aus ökonomischer Sicht nichts Substanzielles passieren.
Sobald die Staatsanleihen in der Bilanz der EZB stehen, existieren diese Anleihen aus ökonomischer Sicht nicht mehr. Denn, wie ich oben bereits dargelegt habe, wird in diesem Fall ein Kreislauf organisiert, in dessen Rahmen Zinszahlungen aus dem Staatshaushalt zur Zentralbank und von dort zurück in den Staatshaushalt fließen. Die Schuldenlast für den Nationalstaat wird folglich auf Null reduziert. Die Zentralbank kann diese Schulden erlassen (d. h. den Wert gleich Null setzen) und auf diese Weise den Kreislauf der Zinszahlungen unterbrechen. In puncto Schuldenlast würde dies keinen Unterschied machen. Anders ausgedrückt: Zum Zeitpunkt des Ankaufs der Anleihen durch die Zentralbank wurde der Geldschöpfungsgewinn dem Staat bereits gutgeschrieben.
Was passiert, wenn die in der Bilanz der Zentralbank gehaltenen Staatsanleihen fällig werden? Die EZB hat zugesagt, neue Anleihen zu kaufen, um die fällig werdenden zu ersetzen. Auch hier gibt es keinen Unterschied zu einer völligen Streichung. Solange die Staatsanleihen in der Bilanz der Zentralbank verbleiben, macht es aus ökonomischer Sicht also keinen Unterschied, zu welchem Wert diese Anleihen in der Bilanz der Zentralbank ausgewiesen werden. Sie können mit ihrem Nennwert, ihrem Marktwert oder mit einem Wert von Null (Schuldenerlass) ausgewiesen werden: Aus ökonomischer Sicht spielt dies keine Rolle, da Staatsanleihen, die in der Bilanz der Zentralbank stehen, nicht mehr existieren.
Worauf es ankommt, ist der Umfang der Verbindlichkeiten der Zentralbank. Dabei handelt es sich um das Zentralbankgeld, das beim Kauf der Anleihen geschaffen wurde. Solange die Geldmenge unverändert bleibt, hat der Wert, mit dem die Staatsanleihen in der Bilanz der Zentralbank ausgewiesen werden, keine ökonomischen Folgen. Würden diese Anleihen auf Null gesetzt (ein sogenannter Schuldenerlass), wäre das Gegenstück auf der Passivseite der Zentralbank eine Minderung des Eigenkapitals (das unter Umständen negativ wird). Aber auch dies bleibt ökonomisch ohne Folgen. Eine Zentralbank, die Bargeld ausgibt, braucht kein Eigenkapital. Der Wert des Eigenkapitals in den Büchern einer Zentralbank hat nicht mehr als eine buchhalterische Funktion.
Folglich ginge ein Schuldenerlass in Ordnung – entspräche aber einem Erlass nicht existierender Schulden, solange die Anleihen bereits in der Bilanz der Zentralbank stehen. Ein Problem könnte zukünftig dann entstehen, wenn die Inflation ansteigt und die EZB verhindern will, dass die Inflationsrate über 2 % steigt. In diesem Fall wird sie die Anleihen verkaufen müssen, um das Zentralbankgeld (und letztlich die Geldmenge) zu verringern. Wenn die Anleihen noch in der Bilanz stehen (weil es keinen Schuldenerlass gab), wird die Zentralbank diese verkaufen. In der Folge gelangen sie in den Besitz privatwirtschaftlicher Investoren. Hierdurch steigt die Schuldenlast der Staaten, denn die privaten Gläubiger, denen die Zinsen nunmehr gezahlt werden, erstatten diese nicht zurück in die Staatskasse.
Wären die Anleihen gestrichen worden, könnten sie nicht mehr verkauft werden und die Zentralbank müsste das Zentralbankgeld auf andere Weise reduzieren. Sie könnte eigene verzinsliche Anleihen im Austausch für das in Umlauf gebrachte Zentralbankgeld herausgeben. In diesem Fall müsste die Zentralbank künftig jedoch Zinsen zahlen, sodass sie weniger Gewinn in die Staatskassen abführen kann. Auch in diesem Fall gibt es keinen (bzw. nur einen geringen) Unterschied zur völligen Streichung.
Daraus ergibt sich: Wenn die EZB die Inflation bei 2 % halten will, macht es keinen Unterschied, ob sie die Schulden heute streicht oder nicht. Für den Fall, dass die Inflation über 2 % steigt, muss sie das im Umlauf befindliche Zentralbankgeld verringern. Hierzu kann sie entweder Staatsanleihen verkaufen oder eigene verzinsliche Anleihen ausgeben und damit den Geldschöpfungsgewinn einbehalten, den sie der Regierung beim Kauf der Anleihen gewährt hat.
Anders sähe es aus, wenn die EZB in Zukunft mehr Inflation zuließe, d. h. wenn sie beschließen sollte, nicht gegenzusteuern, wenn die Inflation über 2 % hinausgeht. Dann müsste sie die Anleihen nicht verkaufen (oder ihre eigenen Anleihen ausgeben). In diesem Fall würde die höhere Inflation den realen Wert der Staatsschulden reduzieren, die nicht in der Bilanz der Zentralbank stehen und die in den letzten Jahren zu sehr niedrigen Zinsen aufgenommen wurden. Für den Staatshaushalt wäre dies von Vorteil. Aber auch hier ist zu beachten, dass dieser Gewinn so oder so in die Staatskasse fließen würde, unabhängig davon, ob die Schulden gestrichen würden oder nicht.
Wer hätte diese inflationäre Politik zu bezahlen? Die Anleger. Die nominalen Zinssätze würden steigen, wodurch der Preis der langfristigen Anleihen sinken würde, die diese nicht sonderlich klugen Anleger zu negativen oder Null-Zinssätzen gekauft haben.
Zwei abschließende Bemerkungen: Erstens haben die über hundert Ökonom:innen, die einen Schuldenerlass vorschlagen, die Trugvorstellung in den Raum gestellt, dass ein Schuldenerlass zu einer Verringerung der Schulden führt, dank der die Regierungen dann – unbelastet von alten Schulden – neue Schuldtitel zur Finanzierung ehrgeiziger Projekte ausgeben könnten. Ich habe dem entgegen gehalten, dass ein Schuldenerlass durch die Anleihekäufe der Zentralbank längst stattfindet und nicht erst dann zum Tragen kommt, wenn die Zentralbank den Wert dieser Anleihen in ihrer Bilanz auf Null setzt. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man einen Schuldenerlass für die gleichen Schulden zweimal haben kann.
Zweitens: Solange die Regierungen die EZB zum Zeitpunkt eines Schuldenerlasses nicht dazu zwingen, sich von ihrem Inflationsziel in Höhe von 2 % loszusagen, wird ein künftiger Anstieg der Inflation die EZB unweigerlich dazu zwingen, das Zentralbankgeld zu reduzieren und damit den Schuldenerlass, den sie beim Kauf der Schulden organisiert hat, wieder rückgängig zu machen. Solange die EZB also an ihrem Inflationsziel festhält, wird ein expliziter Schuldenerlass die Schuldenlast voraussichtlich nur vorübergehend vermindern. Nur wenn die EZB von ihrem derzeitigen Inflationsziel abrückt, wird ein Schuldenerlass die staatliche Schuldenlast dauerhaft senken. Aber irgendjemand wird diese Geldentwertung zu bezahlen haben. Allerdings kann man dann weiter argumentieren, dass etwas mehr Inflation als Preis für eine dauerhafte Senkung der staatlichen Schuldenlast durchaus in Ordnung geht. Und vielleicht ist es das, was die über hundert Ökonom:innen im Sinn hatten.
Übersetzung: Jürgen Klute, Hanna Penzer
Der Beitrag erschien ursprünglich am 15. Februar 2021 unter dem Titel “Debt cancellation by the ECB: Does it make a difference?” auf dem Blog der LSE “EUROPP – European Politics and Policy”. Die Übersetzung ins Deutsche und deren Veröffentlichung auf Europa.blog erfolgt mit freundlicher Zustimmung des Autors.
Autoreninfo
Paul De Grauwe ist Professor für Internationale Wirtschaft an der Katholischen Universität in Leuven / Belgien und der London School of Eonomics (LSE), sowie Politiker der flämisch-belgischen OpenVLD (flämische Liberale). Zudem ist er Senior Research Fellow in der Europäischen Denkfabrik Centre for European Policy Studies. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Europäische Währungsunion. (Quelle: Wikipedia-Artikel „Paul de Grauwe“)
Titelbild: Christine Lagarde signs banknotes | Foto: Angela Morant/ECB CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR
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