Kurzer Lebenslauf

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Oliver Keymis

Oliver Keymis (zur persönlichen Webseite geht es hier) war Abgeordneter im Landtags Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 2000 bis zum 14. März 2012 und ist es erneut seit dem 31. Mai 2012.

Seit dem 13. Juli 2017 ist er Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien im Landtag NRW.

Seit dem 25. Oktober 2006 ist er durchgehend Vizepräsident des Landtags NRW.

Kurzer Lebenslauf

  • Geboren am 30. Dezember 1960 in Düsseldorf; verheiratet.
  • Abitur 1980.
  • Studium der Philosophie, Germanistik, Französisch und Politische Wissenschaften.
  • Zwischenprüfung 1984.
  • Wechsel ans Theater als Regieassistent.
  • 1986 bis 1991 freiberuflich als Regieassistent und Bildregisseur für das Fernsehen tätig.
  • 1989 bis 1994 alljährliche Seminarleitung in Paris am Weiterbildungsinstitut für künstlerische Berufe des französischen Bildungsministeriums (GRETA) in Paris.
  • Seit 1989 freischaffend als Regisseur an verschiedenen Landes-, Stadt- und Staatstheatern tätig.
  • Mitglied von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seit 1997. Von 1998 bis 2014 Sachkundiger Bürger im Kultur- und Planungsausschuss der Stadt Meerbusch.
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Interview mit dem neuen Vorsitzenden des Kulturausschusses des Landtags NRW Oliver Keymis über grüne Kulturpolitik

So fing es an …

Frage: Bevor du in die Politik gegangen bist, warst du als Theaterregisseur an verschiedenen Landes-, Stadt- und Staatstheatern in Deutschland und Österreich tätig, hast fürs Fernsehen gearbeitet und teils auch beruflich als Seminarleiter in Frankreich aktiv. Was war dein Motiv, in die Politik zu wechseln?

Oliver Keymis: Neben meinem Beruf habe ich mich viele Jahre für den Schutz der Umwelt engagiert. Konkret ging es um die Frage, ob durch das größte Naturschutzgebiet des Rhein-Kreises Neuss, der „Ilvericher Altrheinschlinge“, eine sechsspurige Autobahn in sogenannter „Dammlage“ oberirdisch durchgebaut werden sollte. Aus vielen Gründen haben wir in einer sehr engagierten Bürgerinitiative über ein Jahrzehnt lang dagegen gekämpft und mussten schließlich den dann gefundenen Kompromiss akzeptieren, der zwei Tunnelbauten, zahlreiche naturnahe Ausgleichsmaßnahmen und dann die Brücke über den Rhein vorsah. Diesen Kompromiss allerdings hätte es ohne unsere Arbeit nie gegeben. Daraus habe ich dreierlei gelernt: erstens, dass man sich engagieren kann und muss, zweitens, dass man dann auch etwas erreicht und drittens, dass dies manchmal eben auch ein Kompromiss sein kann. Nachdem die Entscheidung für den Weiterbau dieser Autobahn getroffen war und die Arbeit in der Bürgerinitiative zu Ende ging, sprach mich im März 1997 die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN im Landtag NRW an, Gisela Nacken, und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, bei den GRÜNEN mitzumachen und meine beruflichen Kenntnisse über Kultur und Medien in die Arbeit mit einzubringen. Dazu habe ich mich entschieden, bin am 22. Dezember 1997 in die Partei eingetreten und zog im Mai 2000 über die grüne Landesliste erstmals in den Landtag NRW als Abgeordneter ein.

Frage: Wo hast du mehr bewegen können? In deinem ursprünglichen Beruf oder als Politiker?

Oliver Keymis: Engagiert habe ich mich immer und immer gerne, in meinem Beruf und auch als Politiker. Und so ist vieles entstanden und vorangebracht worden. Ob es das Forum Wasserturm in Meerbusch ist, wozu ich 1989 das Konzept entwickelte und die Zusage für Landeszuschüsse vom damaligen Bauminister Dr. Christoph Zöpel erhielt – damals war ich noch nicht Mitglied im NRW-Landtag ! – oder der in den 90er Jahren erzielte Kompromiss beim Autobahnbau, der dazu führte, dass die wunderschöne „Ilvericher Altrheinschlinge“ in ihrer Gesamtheit erhalten blieb und man dort heute wieder unbehelligt von Lärm oder Abgasen große Spaziergänge machen kann, ob beim Kulturfördergesetz im Landtag NRW und dem inzwischen (Stand 2017) auf über 200 Mio. EURO angewachsenen Kulturförderetat, das ist unterm Strich alles ganz gut gegangen. Beispiel Kulturetat: immerhin sind wir im Jahr 2000 unter dem grünen Kulturminister Dr. Michael Vesper bei rund 70 Mio. EURO gestartet (und zwischendurch hat die erste schwarz-gelbe Koalition von 2005 – 2010 die Kultur ebenfalls gut weitergefördert) und stehen heute bei rund 200 Mio. EURO.

Oder im Bereich der Verkehrspolitik, die ich einige Jahre mit bearbeitet habe in der Fraktion, z.B. auch beim Bundesverkehrswegeplan 2003 – 2015 haben wir viel Sinnvolles vereinbaren können oder ich konnte mit meiner Arbeit zur Sensibilisierung für das Thema Fluglärm in der Region rings um Düsseldorf beitragen. Vieles konnte ich so miterreichen, mitanstoßen und für alles hat sich der Einsatz bisher gelohnt, wenn es richtig ist, dass es darauf ankommt, das Leben im Land zu verbessern und dazu gehört für mich auch, die Bedingungen für Kunst und Kultur zu stabilisieren und zu verstärken.

NRW und Europa

Frage: Seit 2000 bist du Mitglied des Landtags NRW und seit 2006 bis du auch regelmäßig bis hin zur gerade begonnenen aktuellen Legislaturperiode zu einem der Vizepräsidenten des Landtags NRW gewählt worden. Was war dein bisher wichtigster Erfolg als Landespolitiker?

Oliver Keymis: Ja, über die inzwischen viermalige Wahl zum Landtagsvizepräsidenten habe ich mich jeweils gefreut, das ist schon eine besondere Position, die einem da in freier und geheimer Wahl von den Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen zugesprochen wird und sie bedeutet auch, dass man immer auch das ganze Parlament mit im Blick hat, wenn man seine Arbeit tut.

Neben den vielen kleinen Dingen, die man immer wieder für einzelne Menschen mitbewegen kann – und über die man richtigerweise selten spricht, aber sie machen durchaus einen wichtigen Teil dessen aus, was man „als wichtigen Erfolg“ mitbezeichnen würde, sind das vor allem die eben schon beschriebene Verstärkung des Kulturförderetats, der vielen Kreativen und Kulturschaffenden und den vielen Kultureinrichtungen im Land konkret ihre Arbeit ermöglicht und das Kulturfördergesetz und hier vor allem auch der von vielen als sehr positiv herausgestellte partizipative Prozess, der zu diesem bundesweit nach wie vor einmaligen Kulturfördergesetz NRW geführt hat.

Aber auch die Gründung der ersten deutsch-französischen Parlamentariergruppe im Landtag NRW im Jahr 2010 ist ein Erfolg und ich freue mich, dass wir auch in dieser Legislaturperiode diese Arbeit zum Wohle der Freundschaft zwischen Nordrhein-Westfalen und Frankreich, aber eben auch mit Blick auf die gemeinsame Entwicklung Europas auch hier von Düsseldorf aus weiterführen werden. Dieses Engagement ist mit dem Amt des Vizepräsidenten verknüpft und hat zu wichtigen Veranstaltungen im Landtag beitragen können, an denen immer auch viele junge Leute teilnahmen. Zum Beispiel, als wir an den 50. Geburtstag des Elysee-Vertrages erinnerten oder an den 100. Jahrestag zum Beginn des ersten Weltkriegs 1914, wo sogar der Botschafter der Republik Frankreich, S.E. Philippe Etienne, seine erste Rede in einem deutschen Parlament gehalten hat.

Monsieur Etienne ist heute der außenpolitische Chef-Berater von Präsident Emmanuel Macron und es war für den Landtag ein besonderer Moment, als wir seinerzeit gemeinsam an den ersten Weltkrieg erinnerten, der zu den schlimmsten und brutalsten Kriegsereignissen zwischen unseren heute so fest und unverbrüchlich befreundeten Völkern gehört. Dass der Düsseldorfer Künstler Imi Knoebel in der Kathedrale von Reims, die im ersten Weltkrieg von den Deutschen bombardiert wurde und als Krönungskathedrale eine herausragende Stellung in der Geschichte Frankreichs hat, also genau an diesem symbol- und geschichtsträchtigen Ort als ein Friedenssignal zwei große Fenster künstlerisch gestalten durfte, gehört auch zu den wichtigen Symbolgesten des Friedens, an denen NRW und unsere Kunststiftung einen entscheidenden Anteil haben. Die Zukunft Europas hängt, wie wir alle wissen, ganz wesentlich vom deutsch-französischen Verhältnis ab.

Kultur Kunst und Politik im Landtag NRW

Frage: Dein Schwerpunkt im Landtag ist die Kulturpolitik. Du bist kulturpolitischer Sprecher der GRÜNEN im Landtag NRW und seit kurzem auch Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien im Landtag. Was bedeutet für dich Kultur?

Oliver Keymis: Kultur ist im Wesentlichen all das, was von Menschen geprägt, gestaltet, beeinflusst, erdacht und erfunden wird. Im Gegensatz zur Natur hat sich der Mensch kulturell entwickelt und insoweit zivilisiert. Er beschäftigt sich mit Bildern und Tönen, Farben und Poesie, Texten und Zeichen, legt Wert auf Zeremonielles, sucht nach geistiger und sinnlicher Nahrung, neben den körperlichen Bedürfnissen eben. Kultur macht all das aus und ist ein heute sehr vielfältig genutzter (Ober-)Begriff für alles, was eben jenseits des rein materiell Definierten das Leben der Menschen ausmachen kann. So verstanden bedeutet für mich Kultur Erweiterung, Vielfalt, neue Möglichkeiten, Erkundungen und also immer neue Erfahrungen im Kontext der jeweiligen Lebensumgebung. Deshalb gibt es ja auch unterschiedliche Kulturen in unterschiedlichen Gegenden und unterschiedliche Stile und Entwicklungen, Küchen und Musiken. Kultur ist Lebenselixier.

Frage: Kultur wird oft in einem engen Zusammenhang mit Kunst gesehen. Wie hängen Kunst und Kultur für dich miteinander zusammen?

Oliver Keymis: Kunst und Kultur hängen für mich da zusammen, wo es die Menschen sind, die ihre Kreativität nutzen, um sich und das, was sie meinen, zum Ausdruck zu bringen – in den verschiedensten Formen, Farben und Tönen, in Texten und Bildern, in Anordnungen und Experimenten. Immer auf der Suche, immer in der großen und wichtigen Gefahr, zu scheitern. Samuel Beckett, mit dessen Arbeit ich mich schon lange beschäftige, der sowohl als Dichter, wie als Übersetzer in mehreren Sprachen „zuhause“ war, hat das „Künstler-Sein“ zutreffend so formuliert: „Künstler sein, heißt, in einem Maße scheitern, in dem kein anderer zu scheitern wagt.“

Frage: Du bist Kulturpolitiker und Kreativer. Das Verhältnis von Politik und Kultur ist nicht ganz einfach. Wie siehst du deren Zusammenspiel? Was darf Politik im Blick auf Kultur und was darf Politik im Blick auf Kultur auf keinen Fall – was ist also die Kernaufgabe der Kulturpolitik?

Oliver Keymis: Die Kernaufgabe von Kulturpolitik ist es, den Rahmen für Kunst und Kultur so großzügig und so frei wie irgend möglich zu gestalten. Politik darf nichts Inhaltliches vorgeben, bestimmen oder womöglich in kreative und/oder künstlerische Prozesse eingreifen. Zensur findet nicht statt. Die Kunst ist frei und die Politik hat dies zu gewährleisten und materiell sowie auch rechtlich abzusichern und zu unterstützen.

Aufgabe ist es, die Bedingungen für Künstlerinnen und Künstler in unserer Gesellschaft so gut wie möglich zu erhalten und weiter zu entwickeln, damit die kreativen Potentiale in unseren Gesellschaften weiter hervorgebracht werden können. Nur eine für Kunst und Kultur aufgeschlossene Gesellschaft hat Entwicklungs- und Gestaltungsperspektiven – immer gilt es, um mit Heinrich Heine zu sprechen, das „Verhältnis von Geist und Macht“ auszutarieren und die Kulturpolitik muss auch weiterhin alles dafür tun, „damit aus einem kleinen Kreis von Kennern ein großer Kreis von Kennern“ wird. (Bertolt Brecht).

Grüne Kultur wird mit 3 “i” geschrieben

Frage: Du hast vor einiger Zeit einmal gesagt, dass die GRÜNEN Kultur mit 3 „i“ schreiben und dazu auch einen kleinen Text verfasst. Was ist mit diesem Konzept der 3 „i“ gemeint? (Das Konzept von Oliver Keymis ist hier als PDF-Datei abrufbar.)

Oliver Keymis: Identität, Inklusion und Interkultur müssen auch kulturell definiert werden, ja das bedeutet für mich und für uns GRÜNE, Kultur mit drei „i“ zu schreiben. „Identität“ bedeutet Bindung an Werte, die gesellschaftlich allgemein als relevant angesehen werden. Zugehörigkeit prägt Identitätswerte. Kunst und Kultur können ein Schlüssel sein zur Identität, zur Bindung an die jeweilige Gesellschaft, in der man lebt oder leben will.

„Inklusion“ deute ich in diesem Zusammenhang so, dass die Kultur und die Künste eine inkludierende Rolle par excellence spielen können, denn generell und an sich grenzt die Kunst niemanden aus, sondern verstehen sich Kultur und Kunst als permanente Angebote für jedes Menschen Sinne und Geist.

Und „Interkultur“ schließlich, meint, dass man mit Kunst und Kultur im besten Sinne und richtig verstanden, und endlich auch wirklich stark gefördert als eine Art gesellschaftliches Grundnahrungsmittel(!), ernsthaft und ganz erheblich kulturelle Vielheit und Vielfalt neu und anders leben und gestalten kann, besser vermitteln und weiterentwickeln. Und so endlich begreifen wir interkulturell, voneinander zu lernen, uns in unserer Diversität zu akzeptieren, immer wieder neugierig auf die kulturelle Identität des anderen zu sein, gemeinsam zu gestalten und schließlich immer wieder gemeinsam zu versuchen, in Frieden und Freiheit miteinander zu leben. Das ist ein, zugegeben, hehrer Anspruch, aber wer hätte gegen anspruchsvolle kulturpolitische Ziele ernsthaft etwas einzuwenden?

Frage: Die GRÜNEN haben in NRW in den letzten Jahren eine Regierungskoalition mit der SPD gehabt. Welche Überschneidungen zeigt dein grünes kulturpolitisches Konzept der 3 „i“ mit den kulturpolitischen Vorstellungen der SPD – die schließlich dem Genossen Gorny und seinem ECCE eine zentrale Rolle in der Mittelvergabe zugeschoben hat, die von Kritikern als eine Art Privatisierung der Kulturförderung angesehen wird?

Oliver Keymis: Wir haben in der rot-grünen Kulturpolitik viele dieser eben formulierten Ansprüche durch gemeinsame Entscheidungen in den letzten Jahren vorangebracht. Ich erinnere an den „Kulturrucksack“, den inzwischen über 220 Kommunen in NRW mitschnüren, an das Programm „Kultur und Schule“, ich erinnere auch an die vielen interkulturellen Angebote, die über den Landesmusikrat in die verschiedensten Musikeinrichtungen und über die Soziokultur in den rund 65 Soziokulturellen Zentren unseres Landes weiterentwickelt wurden und werden.

Oder an die vielen Programme, die sich auf dieser Basis an unseren Theatern und Orchestern ebenso herausgebildet haben, wie an unseren Musikschulen im Land. Hier überall gibt es die angesprochenen „Überschneidungen“. – Was hier insgesamt mit den bescheidenen Landesmitteln und parallel dazu mit dem enormen finanziellen Kultur-Engagement unserer NRW-Kommunen in den letzten Jahren vorangebracht wurde – auch mit Blick auf die eben definierten drei „i“, das ist sehr beachtlich.

Und mit dem Kulturfördergesetz haben wir nunmehr auch unsere Landeskulturförderung entsprechend strukturiert, eine Aufgabenbeschreibung vorgenommen und durch die neuen Instrumente „Kulturförderplan“ und „Landeskulturbericht“ Planungs- und Bewertungsmöglichkeiten in einer Weise organisiert, wie es sie sonst so in der Kulturförderung eines Landes nirgends in Deutschland gibt.

Frage: Noch einmal direkter: Wo schlägt sich das Konzept der 3 „i“ konkret in der Kulturpolitik der erkennbar GRÜNEN nieder?

Oliver Keymis: Nach der Wahlniederlage im Mai 2017 zunächst aktuell gar nicht mehr, denn nun regiert eine andere Mehrheit dieses Land. Die alte Landesregierung hatte diese Themen insbesondere auch im Bereich der kulturellen Bildung und auch im Bereich Erinnerungskultur stark verankert. Die übrigen Bereiche habe ich ja eben bereits aufgezählt. Im Übrigen gehe ich fest davon aus, dass auch die neue Landtagsmehrheit und die neue Landesregierung an die guten und erfolgreichen kulturpolitischen Arbeitszusammenhänge ihre politische Arbeit anknüpfen wird, so liest es sich ja auch im kulturpolitischen Kapitel des CDU-FDP-Koalitionsvertrages. Also dürfte eine gewisse Kontinuität – auch mit Blick auf die drei „i“ – gewährleistet sein, worauf die Kulturszene in NRW ja auch zu Recht setzt, denke ich.

Kultur und Digitalisierung

Frage: Unsere Gesellschaften befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel, der auf internationaler Ebene mit dem Begriff Digitalisierung benannt wird. Sie spielt eine zunehmend dominante Rolle in mittlerweile allen Lebensbereichen und lässt sich keineswegs auf ein industrielles Modernisierungs- und Rationalisierungskonzept reduzieren, wie der interessanterweise eigentlich nur in der BRD benutzte Begriff Industrie 4.0 suggeriert. Welche Rolle spielt in dem Konzept der 3 „i“ das Thema Digitalisierung, welche kulturpolitische Antwort gibt dieses Konzept auf die Herausforderung der Digitalisierung? 

Oliver Keymis: Alle drei Orientierungsbegriffe, also „Identität“, „Inklusion“ und „Interkultur“ sind immer auch mit Blick auf die ‚Herausforderungen der Digitalisierung‘ zu verstehen, denn die Menschen entwickeln sich ja nicht „jenseits“ der Digitalisierung, sondern unsere kulturellen und digitalen Entwicklungen wachsen mit- und zueinander.

Es vermischen sich auch immer mehr Dimensionen, in der sogenannten „Games-Industrie“ ist das gut zu beobachten. Inwieweit es hier – neben den eindrucksvollen technischen Entwicklungen – dann auch zu neuen künstlerischen und kulturellen gesellschaftlichen Entwicklungen ‚digitale Hinführungen‘ geben wird, ist erst zum Teil zu sehen.

Sicher ist, dass wir unsere Gesellschaften diesem Digitalisierungsprozess werden verstärkt anpassen müssen, ökonomisch, ökologisch und soziologisch. Sicher ist auch, dass diese Entwicklungen Gegenentwicklungen auslösen, die auch künstlerisch und kulturell kreativ und interessant sein können – und die womöglich wiederum neue Entwicklungen und Engagements von Menschen mit- und untereinander ermöglichen. Dass uns dabei die wichtigen Begriffe „Identität“, „Inklusion“ und „Interkultur“ nicht verloren gehen dürfen, liegt auf der Hand, wenn die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt gedeihlich vonstattengehen soll und das sollte sie doch.

Das Ruhrgebiet als kulturpolitische Besonderheit

Frage: Lass uns für einen Moment den Blick auf das Ruhrgebiet richten. Zu der Initiative OffArtParlament und zum Atelier Das Gelbe Haus in Recklinghausen hast du ja einen engen Kontakt. Der frühere langjährige Gelsenkirchener Kulturdezernent Peter Rose hat kürzlich in einem Interview auf diesem Blog sehr schön die kulturellen Besonderheiten des Ruhrgebiets beschrieben, die sich daraus ergeben haben, dass das Ruhrgebiet erst in den letzten rund 170 Jahren als Industrieregion entstanden ist. Welchen Ort hat das Ruhrgebiet mit seinen kulturellen Eigenarten in deinem kulturpolitischen Konzept der 3 „i“ und in deinem Verständnis von Kultur(Politik)?

Oliver Keymis: Das Ruhrgebiet ist meiner Meinung nach eben keine Metropole wie Paris, London, Moskau oder New York, sondern es ist eine Metropolregion, ein regionaler Schmelztiegel, in dem seit knapp 200 Jahren dank der Industrialisierung, auch da hat Peter Rose völlig recht, eine ganz besondere Kultur entstanden ist.

Wie fast nirgends sonst auf der Welt lebt man im Ruhrgebiet mit rund 180 Nationen zumeist friedlich Tür an Tür, trifft sich an der ‚Bude‘ oder am ‚Büdchen‘ oder am Döner-Grill, findet sich manchmal „echt schrecklich“ und dann auch wieder bunt und vielfältig und irgendwie „ruhrig“.

Ich will das nicht idealisieren, aber wenn man es mit anderen Regionen vergleicht, ist die Metropolregion Ruhrgebiet irgendwie sehr „paritätisch“, es ragt eben kaum etwas heraus, außer alten Fördertürmen, Stahlwerksbauten – soweit noch als „Weltkulturerbe“(!) vorhanden – und Abraumhalden, auf denen wir uns Symbole als künstlerische Landmarken von Künstlerinnen und Künstlern haben setzen lassen. Und dank IBA und RuhrTriennale ist das alles inzwischen auch international so herausragend und beachtet, dass wir uns alle manchmal die Augen reiben und selbst darüber wundern. Und ich bin sicher, ohne Initiativen wie das „OffArt-Parlament“ von Kreativ-Unternehmer Reiner Kaufmann vom Atelier „Das Gelbe Haus“, der mit seiner Initiative zur „Off-Art-Charta“ im März 2010 parallel zur Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010 auf die Freie Szene und ihre Bedeutung für die Region aufmerksam machte, also ohne solche Initiativen, gäbe es viele solche Erfahrungen in der heutigen Form sicher nicht – ich erinnere beispielsweise an die nicht unumstrittene Kunstausstellung „Fliegendes Museum“ im ‚Hafthaus Herne‘.

Frage: In jüngerer Zeit gab es ja ein paar interessante und durchaus auch umstrittene kulturpolitische Entwicklungen im Ruhrgebiet. Ich habe da vor allem die gerade auch schon von dir erwähnte IBA (Internationale Bauausstellung / Emscherpark, 1989 – 1999) vor Augen, in der es stark um Industriekultur ging, dann die Europäische Kulturhauptstadt 2010 im Ruhrgebiet, die vor allem die Kreativwirtschaft beflügeln sollte, und dann aktuell in diesem Jahr Essen als grüne Hauptstadt Europas, in der es um ökologische Fragen geht. Ist das Ruhrgebiet nicht auf einer ganz anderen kulturpolitischen Schiene als du sie vor Augen hast?

Oliver Keymis: All diese verschiedene Maßnahmen und Engagements haben unter dem Strich die Region und das Land vorangebracht, auch wenn man sich über einzelne Auswirkungen und manches Scheitern zu Recht beklagen könnte. –

Insgesamt empfinde ich es nicht so, dass das Ruhrgebiet auf einer „ganz anderen kulturpolitischen Schiene“ laufen würde, allerdings müsste es insgesamt integrativer zugehen, müsste es irgendwie eine Einrichtung geben, die über die Metropolregion Ruhrgebiet hinweg – ähnlich wie seinerzeit beider Kulturhauptstadt „Ruhr 2010“ – die kulturpolitischen Prozesse der Region überblickt und Zusammenhänge herstellt, ohne zu verkleinern und etwas schmaler zu machen, ohne einzelne Initiativen und bereits bestehende Einrichtungen anzutasten. – Eigentlich geht es eher um eine Verbreiterung der kulturellen Plattform des Ruhrgebiets, es bieten sich ja manche Konstruktionen als Vorbild oder Beispiel an – obwohl ich sicher bin, wenn ich jetzt ein Konstrukt beispielhaft nennen würde, es bräche sofort und zu Recht ein Sturm der Entrüstung los, denn ich weiß offen gesagt auch nicht, wie man die Vielfalt in der Einheit und umgekehrt diese Einheit in der Vielfalt organisatorisch so unverdächtig wie möglich in der Metropolregion Ruhrgebiet gestalten könnte – und dabei so viele Teilhabende wie möglich in diesen Prozess einbindet.

Frage: Im Ruhrgebiet gibt es seit längerem einen mehr oder minder hintergründigen Konflikt. Die in der Region lebenden Künstler sehen sich oft nicht wahrgenommen von den regionalen und kommunalen Kulturpolitikern und -managern, die bei großen Kulturveranstaltungen bevorzugt auf namhafte Künstler und Kulturschaffende von außerhalb des Ruhrgebiets zurückgreifen, etwa bei der europäischen Kulturhauptstadt 2010 oder bei dem Projekt Emscherkunst. Das OffArtParlament um Hans van Ooyen und Reiner Kaufmann haben dies seit über 10 Jahren immer wieder thematisiert. Hans van Ooyen und Reiner Kaufmann fordern seit langem eine Resozialisierung der Kunst. Seit kurzem stellt R. Kaufmann das Konzept des Kunstwirkens in den Mittelpunkt seiner Arbeit als Künstler und Lebenskreativer. Wie wertest du diese Ansätze, sind sie integrierbar in dein Konzept der 3 „i“? Wie siehst du diesen Konflikt und wo siehst du einen Lösungsansatz, der den Künstlern und Kulturschaffenden in der Region gerecht wird?

Oliver Keymis: Hans van Ooyen und Reiner Kaufmann schätze ich sehr, weiß, was sie seit langem bewegt und dass der Urvater der sozialen Plastik, Joseph Beuys, nicht nur Pate stand bei der Gründung der GRÜNEN, sondern auch für die Forderung der beiden Kreativen, die Kunst zu resozialisieren. Und ich teile ihren Wunsch nach einer stärkeren Selbsteinbringung der hiesigen kreativen Kräfte und ihre entsprechende Einbindung durch alle Verantwortlichen in und für die Region. Beim politischen Schielen auf die Internationalität geht manches Mal der Blick auf die eigene, hier bereits vorhandene Vielfalt, das enorme künstlerische Potential und die stark ausgeprägte und vielgestaltig erlebte und gelebte Interkulturalität verloren. Dass diese Ansätze bestens in ein Konzept der „Kultur mit drei “i“ einzubinden sind, versteht sich faktisch von selbst.

Und gleichwohl brauchen wir beides, den kreativen Blick immer wieder auch von außen, wie vor allem auch den von innen, wir brauchen unsere starken Ruhr-Museen wie unsere starken Ruhr-Theater und Ruhr-Orchester und wir brauchen vor allem auch immer wieder die vielen Kreativen und Kulturschaffenden, die in der Metropolregion Ruhrgebiet leben und arbeiten, denn es ist bis heute die dichteste Kunst- und Kulturlandschaft der Welt, von der wir hier sprechen, so wie Nordrhein-Westfalen eine der dichtesten und interessantesten und vielfältigsten Kunst- und Kulturlandschaften Europas, ja sogar weltweit ist – und das wäre NRW sicher nicht ohne die Metropolregion Ruhrgebiet.

Kulturpolitik im Spannungsfeld von Land und Kommune

Frage: Die praktische Handlungsebene der Kulturpolitik ist die kommunale Ebene. Dort sind Theater, Konzerthallen, Kinos, aber auch deren Akteure aktiv und in der Regel auch angestellt. Nun greift das Land NRW mit dem Kulturfördergesetz nicht unerheblich in die Kulturpolitik ein. Wie verhalten sich im Bereich Kulturpolitik nach deiner Ansicht diese beiden Ebenen – Land und Kommunen – zueinander? Ist es ein konflikthaftes Verhältnis, ein hierarchisches Verhältnis?

Oliver Keymis: Mit dem neuen Kulturfördergesetz greift das Land NRW nicht in die Kulturpolitik ein, sondern es gibt sich damit endlich selbst einen Handlungs- und Aufgabenrahmen, definiert also für das Land in diesem Gesetz und vor allem in seiner ausgesprochen lesenswerten Begründung, wofür und warum es Landeskulturförderung gibt. Das ist das Neue.

Das Gesetz selbst umfasst auf rund 24 Seiten rund 30 Paragraphen. Entscheidend und zum Gesetz dazugehörend sind aber vor allem die knapp 90 Seiten Begründung, also all das, was mit diesem Gesetz gemeint ist. Keinesfalls findet man dort ein auf Konflikte oder Hierarchie angelegtes Konzept.

Das Land will die herausragende kulturpolitische Arbeit der Kommunen, die nach wie vor den Löwenanteil der Kulturkosten tragen, nach Kräften unterstützen, neue Impulse setzen, Zusammenarbeit verbessert anbieten und zeigen, das ihm die Kultur etwas wert ist, dass es wertzuschätzen weiß, was die Kommunen für Kunst und Kultur in diesem Land leisten.

Dass am Ende des kulturpolitischen Tages es auch hier immer um mehr Mittel für Kunst und Kultur geht, dass auch die Kommunen im Haushaltssicherungskonzept endlich frei weiter ihre Kultur fördern dürfen sollen, dass die Übertragbarkeit der Mittel (Überjährigkeit) ebenso ermöglicht werden müsste, wie endlich ein erheblicher Bürokratieabbau beim Beantragen öffentlicher Fördermittel erfolgen sollte; über all das gibt es bei Land und Kommunen insgesamt Einigkeit. Aber die rechtlichen Hürden zur Umsetzung sind hoch und das neue Kulturfördergesetz hat viele Aufgaben beschrieben, aber noch nicht alle sind gelöst. Hier wird die Arbeit fortzusetzen sein, für alle, die sich der Weiterentwicklung der Kunst und der Kultur in NRW verschrieben haben.

Neue Landesregierung – neue Kulturpolitik?

Frage: Die neue Landesregierung wird nicht mehr von SPD und GRÜNEN gestellt, sondern von der CDU und der FDP. Für NRW ist das beinahe schon eine kleine Revolution. Was erwartest du von der neuen Landesregierung kulturpolitisch? Gibt es da noch Spielräume für ein grünes oder im weiteren Sinne linkes Verständnis von Kulturpolitik? Gibt es zwischen schwarz-gelber Kulturpolitik und dem Konzept der 3 „i“ aus deiner Sicht Schnittmengen?

Oliver Keymis: Die letzte schwarz-gelbe Koalition unter Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers hat immerhin den Kulturförderetat von rund 70 Mio. EURO auf rund 140 Mio. EURO verdoppelt in fünf Jahren.

Und wer das Kulturkapitel im neuen CDU-FDP-Koalitionsvertrag genau liest, wird sich nicht wundern, wenn ich behaupte, dass Gutes bleibt.

Im Unterschied zu vielen anderen Politikfeldern hat die neue schwarz-gelbe Koalition hier eben keine „Rückabwicklung“ angekündigt, sondern im Gegenteil die Evaluation und Weiterentwicklung der bisherigen Kulturpolitik auf der Basis des bisher Erreichten und Beschlossenen und dabei sogar eine Aufstockung des Kulturetats um rund 100 Mio. EURO in den nächsten fünf Jahren angekündigt. Das wird einige Perspektiven eröffnen, weckt natürlich auch manche Begehrlichkeiten und ist auch nur die Hälfte dessen, was eine Verdoppelung des Kulturetats des Landes von 200 auf 400 Mio. EURO, also real gesprochen, von heute ca. 0,27 % des Gesamthaushaltes von NRW (rund 70 Milliarden EURO) auf rund 0,54 % dieses Haushaltes bedeutet hätte.

Aber man muss ja noch Ziele haben und sicher ist, wenn wir die Kultur und die Kunst im Land weiter stark und entwicklungsfähig ausgestalten wollen, dann werden wir auf Dauer auch als Land NRW erheblich mehr Geld in die Kultur investieren müssen, damit unsere Städte und Gemeinden kulturell stark und das Land Nordrhein-Westfalen auch künftig als dichteste und vielfältigste Kunst- und Kulturregion weltweit erhalten bleibt.

Vielen Dank für das Interview.


Titelfoto: Oliver Kymis (Foto: privat)

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