Das Ruhrgebiet ist eines der ältesten und größten Industriegebiete Europas. Seit Jahren steht es vor der Herausforderung einer sozialen und vor allem auch angesichts der Klimakrise vor einer ökologischen Transformation. Prof. Dr. Stefan Berger und Dr. Ute Eickelkamp haben in diesem Jahr das Projekt »Interdisziplinäre empirische Forschung zum Naturverständnis und ökologischen Denken in alten und neuen Arbeitermilieus im Ruhrgebiet« auf den Weg gebracht. Gefördert wird das auf zwei Jahre angelegte Projekt durch die Fritz Thyssen Stiftung. Europablog stellt im Folgenden dieses international verknüpfte Projekt vor und wird auch über den weiteren Verlauf des Projektes berichten.

Seit dem 1. Februar 2023 untersuchen der Historiker Stefan Berger und die Sozialanthropologin Ute Eickelkamp das Naturverständnis von Menschen aus der alten Montanindustrieregion Ruhrgebiet. Berger ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum, sowie Leiter des Instituts für soziale Bewegungen (ISB). Eickelkamp ist Sozialanthropologin und arbeitet am ISB der Ruhr-Universität Bochum; zuvor arbeitete sie als Dozentin an der Universität in Sydney (Australien).

Durch Gespräche, teilnehmende Beobachtung sowie durch die Analyse von Dokumentarfilmen und Unteralgen und Büchern in Archiven wollen Berger und Eickelkamp die Arbeitergeschichte der Umwelt in der Emscherzone erforschen. Der Schwerpunkt des Forschungsprojektes liegt auf den Natur- und Umweltperspektiven von Menschen aus mehreren Generationen, die sich dem Arbeitermilieu zugehörig fühlen – ehemalige Bergleute und ihre Frauen, Textilarbeiterinnen, Schlosser, Bauarbeiter, Chemiearbeiter, Fahrer, Verkäuferinnen, PflegerInnen – in drei Recklinghäuser Stadtteilen, die zu den historischen Arbeitervierteln gehören: Recklinghausen-Süd, Recklinghausen-König-Ludwig und Recklinghausen-Hochlarmark. Die Orte dieser Untersuchung sind Kleingartenanlagen, Hausgärten, der Emscherradweg, die Ufer des Rhein-Herne Kanals, ein Wochenmarkt, ein Stadtpark und ein Bergbau- und Industrieverein.

Ergänzt wird das Forschungsprojekt durch eine künstlerische Perspektive: Der Künstler und Kunstpromoter Reiner Kaufmann aus dem Atelier „Das gelbe Haus“/C.A.M.P.U.S. e.V in Recklinghausen-Süd erkundet in Form von Atelierwerkstätten und Aktionen im Ateliergarten die philosophisch-religiösen und kulturellen Bedeutungsfelder von Anbaugemüse und Biodiversität in einer türkischen Nachbarschaft.

Erste vorläufige Ergebnisse, die durch spezielle Interviews noch erweitert und vertieft werden sollen, deuten auf eine historisch recht unterschiedliche und politisierte Dynamik des ökologischen Transformationsprozesses hin. Wahrnehmung, Teilhabe und Identifizierung mit der Umgestaltung der Umwelt und damit der Lebenswelt in der Emscherzone, verlaufen keineswegs gleichförmig und haben sich verändert, im Tandem mit der Auflösung der Montanindustrie und vielfältiger zusätzlicher Krisen.

Nicht alles, was grün oder blau ist, wird von den Menschen in der Region als Natur aufgefasst. So stellen die geplanten oder in Eigenarbeit gestalteten Haus- und Kleingärten, landwirtschaftliche Flächen, und Stadtparks einen sozial-kulturellen Raum dar, der im Laufe seines geschichtlichen Wandels recht unterschiedlich wahrgenommen wurde und wird. ‚Natur‘ ist für viele dort, wo der Mensch wenig Kontrolle ausübt – in neuen Feuchtbiotopen, Wäldern, auf Halden und ehemaligen Industriestandorten, sobald sich Flora und Fauna selbständig ansiedeln. Der häufig beklagte Rückgang lebendiger Gemeinschaften auf der Straße, im Hof, und im Kleingarten wird von den hier lebenden Menschen als soziale ‚Verwüstung‘ wahrgenommen. „Früher war hier am Kanal viel los, es war wie im Freibad“, und „Leute reden kaum noch richtig auf der Straße miteinander; es ist still geworden wie im Dschungel“ heißt es etwa in dem Dokumentarfilmen Emscher Skizzen.

In bisher 25 Einzel- und Gruppengesprächen haben sich fast alle Teilnehmenden positiv über den Emscherumbau geäußert. „Das haben die toll hingekriegt“ ist eine typische Antwort von deutschen, polnischen und türkischen Frauen und Männern aus verschiedenen Berufssparten, Altersgruppen, und parteipolitischen Ausrichtungen, auf die Frage, was sie vom Umbau der Emscher in einen naturnahen Fluss halten. Das war vor 15 Jahren noch anders. In den über zehn Jahre hinweg entstandenen Dokumentarfilmen Emscher Skizzen von Christoph Hübner und Gabriele Voss, begegnen wir Menschen, die die Baumaßnahmen mit Skepsis beobachteten. Sich an die Überflutungen der Emscher erinnernd kommentierte eine Frau: „Wir können uns nur überraschen lassen.” Obgleich es ein vielfältiges Angebot zur Bürgerbeteiligung gab, wird der Emscherumbau als ein Projekt der großen Transformationsakteure gesehen; dem entspricht ein ausgeprägtes Wir-Gefühl unter den Mitarbeitern der Emschergenossenschaft als Transformationsakteure, die den Menschen ihren Fluss ‚zurückgeben‘ (Emscher Skizzen). Zur Erinnerung: Der 2022 abgeschlossene Emscherumbau war ein Projekt der von 1989 bis 1999 andauernden Internationalen Bauausstellung (IBA Emscher-Park) im nördlichen Ruhrgebiet.

Obwohl einige Bergleute zu Gartenlandschaftsgärtnern umgeschult wurden und die meisten ein großes Interesse an dem, was in ihrem Umfeld geschieht zeigen, haben bisher nur wenige von der Internationalen Gartenschau 2027 gehört, so die beiden Forscher. Dagegen erinnern sich viele an die Internationale Bauausstellung und kennen den Grugapark in Essen.

„In Kleingartenanlagen erfuhren wir“, so Berger und Eickelkamp, „von einem schrittweisen Kulturwandel.“ Zu den klassischen Subsistenzgärten der Bergleute haben sich Freizeitanlagen und Oasen der Biodiversität gesellt. Vor allem jüngere Familien suchten – verstärkt während der Corona Pandemie – nach privaten Räumen im Freien. Ihre Parzellen mit Blühstreifen für Honigbienen, Rutschen, Schwimmbecken und Grill sind durch hohe Hecken vor den Blicken der Nachbarn abgeschirmt, im Gegensatz zu den von Obst- und Gemüseanbau geprägten Gärten oft älterer Menschen, die dem Vereinswesen näher verbunden geblieben sind, erläutern die beiden Forschenden. Gleichzeitig beobachteten alle Ansprechpartner im Kleingarten, wie sich der Klimawandel auf das Wachstum der Zier- und Nutzpflanzen niederschlägt. Kleingärten bedeuten, obwohl mit Arbeit verbunden, Erholung im Grünen, sie sind der Lebensmittelpunkt vieler Rentner, erweiterte Privatsphäre im Freien für Familien mit Kindern, als auch ein Stück Heimat. Erinnerungen an eine schöne Kindheit sind bei vielen Menschen in der Region im Garten genauso verankert wie das verlassene zu Hause in Syrien, Schlesien, Russland, Polen und der Türkei für manche Zuwanderer, Vertriebene und Flüchtlinge. Das zeigte bereits der Filmzyklus Prosper Ebel von Hübner und Voss für die 1970er Jahre. Allerdings deutet auch einiges darauf hin, dass die historisch beobachtete kulturelle Integration in den halb-öffentlichen Räumen der Arbeitergärten heute nicht mehr so stark ausgeprägt ist.

Der Emscherumbau, das blau-grüne Fahrradnetzwerk, die IGA und die in den 1980er Jahren vollzogenen Umbauten der aus dem bei der Kohleförderung mit zu Tage geförderten Gestein aufgeschütteten Bergehalden in Kulturlandschaften sind Leuchtturmprojekte, die überwiegend positiv bewertet werden. Doch solle man nicht vergessen, dass sich die Menschen in der Emscherzone schon vorher und aus Eigeninitiative ihr kleines Paradies in Zwischenräumen geschaffen hatten, wie Roland Grütter, Autor des Buches „Im Tal der Könige: Ein Handbuch für das Ruhrgebiet“,  es ausdrückte. Organisch gewachsene Verweilorte an Wegkreuzungen, auf der Emscherinsel oder am Rande des alten Betriebsweges – zum Beispiel das sommerliche Ausflugsziel junger Familien, eine Pommesbude im Wohnwagen mit mobilen Tischen und Stühlen, wo es „schöner ist als auf Mallorca“ – verschwinden durch die großflächige Planung der Emscherlandschaft durch die EGLV (Emschergenossenschaft und Lippeverband).

Umfang, gesellschaftliche Bedeutung und die Zukunftsorientierung der ‚großen grünen Transformation‘ des Ruhrgebiets erinnern durchaus an die Jahre des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Die Vision einer klimagerechten Wirtschaft und Gesellschaft erscheint rückblickend als Wiedergutmachung der extremen Umweltzerstörung seit den 50er Jahren durch den Bergbau und die anderen Bereiche der Schwerindustrie, obwohl der Strukturwandel bis in die 80er Jahre kein ökologischer war, lassen Berger und Eickelkamp anklingen. Wir beobachten aber auch, dass sich die historische Verknüpfung von Arbeiterbewegung und Natur (mit Anfängen in den Vereinen der Naturfreunde des späten 19. Jahrhunderts bis zu den Bürgerinitiativen gegen Luftverschmutzung von den späten 50ern bis in die 80er Jahre) mit der Atomisierung der Arbeiterschaft und angesichts staatlich gelenkter Klimaschutzmassnahmen auflöst. Obwohl einige den politischen Allwärtigkeitsbegriff  ‚Nachhaltigkeit‘ für inhaltslos halten, sorgen sich ArbeiterInnen, auch jene in existentiellen Nöten, um die Zukunft: „Zukunft heißt für mich erst einmal, den nächsten Tag zu überstehen. Dennoch habe ich Angst, dass der Klimawandel das Leben für meinen Sohn bedroht“, und „Die Reichen schwitzen nicht, nur wir“, hörten die beiden Forschenden in einem Arbeitslosenzentrum. Wir beobachten, so Eickelkamp und Berger weiter, dass Einstellungen zu Natur und Umwelt im Schatten der Energiekrise durch den Russisch-Ukrainischen Krieg, der Corona Pandemie, wachsenden Flüchtlingszahlen, und der Klimakrise entstehen.

Zusammenfassend lässt sich laut den beiden festhalten: Natur bleibt ein politisierter Begriff in der Emscherzone. Die historische Verwurzelung „essbarer“ – also Lebensmittel erzeugender –  Gärten in der Landwirtschaft als Vorgeschichte und Alternative zum Pütt und als Basis zur Existenzsicherung in Industriedörfern und in Krisenzeiten ist weiterhin erkennbar. Allerdings werden auch kulturelle Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Gärten wahrgenommen. Gleichzeitig entstehen neue Bedeutungshorizonte als Oasen der Artenvielfalt, Freizeit und gesunden Ernährung. Gärten sollen aber auch Pflanzen und Tiere vor allem für Kinder erlebbar machen, wobei die Aufwertung in einem Einbetten in einen größeren Kontext der Erlebnifizierung von Arbeit und Natur steht. Umweltveränderungen werden in ihren spezifischen Auswirkungen vor Ort gesehen und verstanden. Schließlich bleibt ‚Natur‘ ambivalent mit Wildnis verknüpft, als bedrohlich und befreiend.

Titelbild: Daniel Mennerich CC NC-ND 2.0 via FlickR

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