Von Friedhelm Grützner

Der Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler, auf den ich mich weitgehend stütze (Ders., Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 5. Aufl, München 2022), bezeichnet Russen und Ukrainer als „verspätete Nationen“, die aufgrund des übernational-imperialen Charakters des russländischen Reiches erst im 19. Jahrhundert eigenständige nationale Identitäten ausbildeten. „Die russische Nation wurde als ‚all-russische‘ oder ‚dreieinige‘ Nation, die auch die Ukrainer und die Weißrussen umfasste, imaginiert. … Das inklusive Verhältnis zu den Ukrainern war und ist ein zentrales Element der russischen Nationsbildung. Die ukrainische Nation entstand umgekehrt in Abgrenzung von Russland (und von Polen). Die einzelnen Phasen der ukrainischen und der russischen Nationsbildung und Nationalbewegung verliefen in einem Wechsel von ‚challenge and response‘“ (Kappeler S. 84). Damit spricht Kappeler den Grundkonflikt zwischen Russen und Ukrainern an, der sich vom 19. über das 20. Jahrhundert bis zu Putins Essay „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainer“ und seinen Kriegsreden hinzieht.

Der russische Nationalismus sah in den ukrainischen Autonomiebestrebungen stets eine existentielle Bedrohung für den Zusammenhalt des Reiches. Dazu Kappeler: „Aus dieser Sicht bedrohte ein möglicher Abfall der Ukrainer, der mit Abstand größten nichtrussischen Ethnie des Reiches, die Existenz der russischen Nation und den Zusammenhalt des Imperiums“ (Kappeler S. 103). Schon Katharina II. hatte 1764 anlässlich der Auflösung des Hetmanats der (proto-ukrainischen) Saporoger Kosaken verkündet: „Wenn die Hetmane Kleinrussland verlassen haben, sollte jede Anstrengung unternommen werden, sie und ihr Zeitalter aus der Erinnerung zu tilgen.“ Dass die „Kleinrussen“ in der Folgezeit überhaupt daran dachten, eine eigene Nation auf dem Boden des russländischen Imperiums zu bilden, konnte aus Sicht russischer Reichsnationalisten nur auf „polnische“ oder später „österreichische Intrigen“ zurückzuführen sein, welche die Machenschaften des „kollektiven Westens“ vorwegnahmen, für den heute die EU und die USA stehen.

Ausgesprochen hysterisch wurden die anti-ukrainischen Polemiken und die damit verbundenen Repressivmaßnahmen gegen ukrainische Selbstständigkeitsregungen, als sich die Polen 1863 gegen die russische Fremdherrschaft erhoben und der russische Reichsnationalismus ein Überspringen auf die Ukraine befürchtete. Zeitgleich mit der polnischen Erhebung wurde vom zaristischen Innenminister Peter Valuev der öffentliche Gebrauch der ukrainischen Sprache mit folgender Begründung verboten: „Eine eigene kleinrussische Sprache hat es nicht gegeben, gibt es nicht und kann es nicht geben. Der Dialekt, der vom einfachen Volk gesprochen wird, ist die russische Sprache, nur verdorben durch den Einfluss Polens. Die allgemeinrussische Sprache ist für die Kleinrussen genauso verständlich wie für den Großrussen, ja sogar besser als die jetzt von einigen Kleinrussen und besonders einigen Polen ausgeheckte sogenannte ukrainische Sprache.“ Dies Verbot galt bis 1905. Es verdient hier angemerkt zu werden, dass Putin in seinem Aufsatz „Zur historische Einheit von Russen und Ukrainern“ dieses Sprachverbot auch heute noch als nachvollziehbare Reaktion auf Aktivitäten der Polen verteidigt, da diese (als Repräsentanten des „kollektiven Westens“) die Ukrainer gegen Russland auszuspielen und es zu destabilisieren gedachten.

In das Jahr des polnischen Aufstandes gehören auch die Auslassungen des panslawistischen „Chefideologen“ Michael Katkow (1818 – 1887), der zu den Stichwortgebern der russischen Balkanpolitik gehörte. In seinem Artikel über „die Koinzidenz der ukrainophilen Interessen mit den polnischen Interessen“ ahnt er überall Verschwörungen („Eine Intrige, überall eine Intrige, eine heimtückische Intrige“). Ganz ähnlich wie in Putins Kriegsreden heißt es bei ihm: „Die Ukraine hat niemals ihre eigene Geschichte gehabt, sie war nie ein eigenständiger Staat, die Ukrainer sind authentisches russisches Volk, indigenes russisches Volk, ein essentieller Teil des russischen Volkes, ohne den dieses kaum bleiben kann, was es heute ist.“ Die Befürchtung, die ukrainische Nationalbewegung könnte den Zusammenhalt des russländischen Imperiums zerstören, finden sich nicht nur bei Slawophilen wie Katkow, sondern auch bei ursprünglichen „Westlern“. Entsprechend äußerte sich 1912 der Rechtsliberale (und frühere Marxist) Peter Struve: „Wenn die ‚ukrainische‘ Idee der Intelligenz … das Volk mit ihrem ‚Ukrainertum‘ anstecken wird, dann wird dies zu einer gigantischen und präzedenzlosen Spaltung der russischen Nation führen, die … mit einem wahren Desaster für Staat und Volk enden wird. Alle unsere ‚Grenzland‘-Probleme werden als reine Lappalien erscheinen im Vergleich mit einer solchen Perspektive der ‚Zweiteilung‘ und – sollten die Weißrussen dem Beispiel der Ukrainer folgen – Dreiteilung der russischen Kultur.“

Der Mythos von der „dreieinigen russischen Nation“ ist auch der zentrale Punkt in Putins „Essay“ vom Juli 2021, in dem er die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation bestreitet und im Sinne des großrussischen Reichsnationalismus postuliert, dass Russen und Ukrainer „ein einziges Ganzes eines im Wesentlichen gleichen historischen und spirituellen Raums“ seien. Angesichts dieser „Dreieinigkeit“ sei es völlig unerheblich, „für wen sich die Menschen halten – Russen, Ukrainer oder Weißrussen“, oder welchem Staat sie angehören wollen. In seiner Kriegsrede vom 22.02.2022 wird Putin deutlicher: „Ich möchte noch einmal betonen, dass die Ukraine für uns nicht nur ein Nachbarland ist. Sie ist ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums.“ Sie sei „vollständig von Russland geschaffen“ worden und ihre derzeitige staatliche Existenz beruhe einzig und allein auf der Fehlentscheidung Lenins, ihr diese innerhalb der Sowjetunion zuzugestehen und mit einer Austrittsberechtigung zu versehen. „Der Bazillus des nationalistischen Ehrgeizes war nicht verschwunden, und die ursprüngliche Mine, die gelegt worden war, um die Immunität des Staates gegen die Ansteckung durch den Nationalismus zu untergraben, wartete nur darauf, zu explodieren. Diese Landmine … war das Recht, sich von der UdSSR abzuspalten “ In dieser der Ukraine eingeräumten Möglichkeit, die völlig losgelöst von der Realität und der historischen Tradition“ war, erblickt Putin gewissermaßen die „Ursünde“ der Bolschewiki, welche 1991 zur Auflösung der Sowjetunion geführt habe, die als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ begreift.

Titelbild: Holodomor Memorial by Victoria Pickering CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

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Friedhelm Grützner ist promovierter Historiker und Mitglied der LINKEN in Bremen.

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