Von Frederik D. Tunnat
Wir leben aktuell in unsicheren Zeiten, in denen nichts mehr so zu funktionieren scheint, wie wir es über Jahrzehnte gewöhnt waren: demokratisch, verfassungsbasiert, legitim, von breitem gesellschaftlichem Grundkonsens getragen.
Stattdessen erleben wir eine Zeit rasanter Veränderungen, einen fast aberwitzigen Aktionismus, eine Zeit, in der sowohl die Grundlagen, auf denen unsere freiheitlich verfasste Demokratie aufgebaut ist, als auch der gesellschaftlich-soziale Konsens extrem und schnell erodieren. Wir erleben, was Politik- und Sozialwissenschaft als autokratische Gegenbewegung bezeichnen: das Erlahmen, Infragestellen, Schleifen, Abschaffen demokratischer Grundwerte und darauf basierender freiheitlicher Prinzipien und Vorstellungen.
Das an sich kein grundsätzlich neuer Vorgang. Bereits in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts datiert die erste autokratische Gegenbewegung der Moderne, gegen die, in Folge des Ersten Weltkriegs, abgelösten autoritären Staatssysteme, in Europa vornehmlich bis dahin regierende und vorherrschende Monarchien. Diese erste autokratische Gegenbewegung gegen die soeben erst aus der Taufe gehobenen jungen, unerfahrenen Demokratien wurde angeführt und ausgelöst durch den Faschismus in Italien, gefolgt vom faschistischen Nationalsozialismus Deutschlands und dem Spaniens. Diese Gegenbewegung, die einige der neuen Demokratien hinwegfegte, dauerte von 1922 bis 1942.
Angesichts der bedingungslosen, vollständigen Kapitulation Nazi-Deutschlands, etablierten die demokratisch orientierten USA nach 1945 in ihrer Hemisphäre West- und Zentraleuropa, als autoritär auftretender demokratischer Hegemon das, was wir seitdem als demokratisch verfasste Staaten Europas bezeichnen und kennen. Osteuropa und Teile seines Südostens gelangten unter den alles beherrschenden Einfluss des autokratischen Sowjetsystems, dessen Ursprung als Gegenbewegung zum imperialistischen, autoritären Zarensystem begann, um sich rasch dessen autoritäre wie imperiale Ambitionen und Intentionen zu eigen zu machen. Die sog. Roten Zaren hatten sich erfolgreich an die Macht geputscht und gaben sie erst in den weltweiten Wirren der schicksalhaften Jahre 1989/90 für kurze Zeit aus der Hand.
Die zweite autokratische Gegenbewegung fällt in die Nachkriegsjahre 1958 bis 1975. Sie betraf vornehmlich bis dahin vorbildliche demokratische Staaten Südamerikas – beispielsweise Brasilien und Chile, die Militärdiktaturen etablierten – wirkte jedoch auch in Europa, wo sich die Gegenbewegung gegen den herrschenden Autoritarismus wandte – so in Ungarn oder in der Tschechoslowakei – während in Griechenland das monarchische System von einer Militärdiktatur abgelöst wurde. Ähnlich in Vorderasien, wo die zerbrechliche Demokratie der Türkei sich ebenfalls einer Militärdiktatur geschlagen gab. Weiter im Mittleren und Fernen Asien kamen ebenfalls, im Rahmen nationaler Gegenbewegungen, diverse Militärdiktaturen an die Macht.
Die dritte autokratische Gegenbewegung, setzte nach den Terroranschlägen des 11. September 2001, initiiert von den seinerzeit republikanisch regierten USA unter Präsident George W. Bush, ein. Wobei Präsident Bush und seine aus diversen „Falken“, sprich Gegnern allzu demokratisch orientierter USA dominierte Regierung den 11. September nur als äußeren Anlass nahmen, um ihre längst in den Schubladen schlummernden, Freiheitsrechte einschränkende Maßnahmen, sowie ihre ebenfalls längst geplante militärische Aggression im Mittleren Osten unter demokratisch legitimierten Deckmäntelchen umsetzen zu können.
Seinerzeit, im Herbst 2001, hielt ich mich zufällig in den USA auf. Die Stimmung im Land, vor, während und nach den Terroranschlägen des 11. September, hat meine Ansichten über, sowie meine Haltung gegenüber der US-amerikanischen Demokratie nachhaltig, leider überaus negativ, beeinflusst. Die von der Bush-Administration verfügten Einschränkungen, nicht nur der eigenen Staatsbürger, sondern auch meine persönlichen, als deutscher Staatsangehöriger, entsetzten mich, da ich unmittelbar erkannte und verstand, dass die massiven Einschränkungen unserer verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, in keiner Weise durch die terroristischen Anschläge, so unmenschlich-entsetzlich diese auch waren, gerechtfertigt waren und auch heute noch sind.
Die mehr als bedrückenden, entwürdigenden Ereignisse, deren Augenzeuge ich auf dem internationalen Flughafen der Automobilstadt Detroit am 14. September 2001 wurde, hat mich nachhaltig geschockt und meine Einstellung gegenüber Republikanern wie dem Staatssystem der USA nachhaltig beeinflusst. Was sich dort im Flughafen in einer angeblichen Demokratie, 72 Stunden nach den Terroranschlägen ereignete, wie Nationalgardisten, FBI-Agenten und US-Militär das Gastrecht und die legitimen Rechte ausländischer Bürger mit Füßen traten, indem sie sich gebärdeten, wie Vasallen einer x-beliebigen Militärdiktatur in der Dritten Welt, spottet jeglicher Beschreibung.
Zum Ausdruck kam ein ungezügelter Hass und ungezügelte Rachegefühle auf vermeintliche fremde Staatsbürger aus islamischen Staaten, also mögliche Sympathisanten, Familienmitglieder oder Verwandte der Terroristen, wie ich ihn weder zuvor noch danach je wieder erleben musste. Das Militär zwang unter Bedrohung mit im Anschlag und auf die Brust oder Köpfe der Flugpassagiere gehaltene automatische Waffen Frauen und Männer, die ihrer Meinung nach muslimisch aussahen, sich in der Flughalle, vor aller Augen, bis auf die Unterwäsche auszuziehen, sowie anschließend eine aggressiv ausgeführte Körpervisitation durch FBI-Beamte zu erdulden. Diese entwürdigende Prozedur blieb kaukasisch-westeuropäisch aussehenden Flugpassagieren komplett erspart, so auch mir und meiner nordisch-blonden Begleiterin. Für diese hatten die aggressiv auftretenden Militärs sogar freundliche Blicke und anzügliche Bemerkungen parat. Wegen meiner unstreitig nicht muslimisch aussehenden Begleiterin blieb uns nicht nur die entwürdigende öffentliche Leibesvisitation erspart, man verzichtete auch trotz Sicherheitsmaßnahmen darauf, unsere drei großen Koffer zu inspizieren. Während den zuvor öffentlich gedemütigten Personen anschließend noch vor aller Augen ihre Koffer geöffnet und deren Inhalt brutal auf den Boden der Flughalle geworfen wurde, wobei BHs, Reizwäsche und allerlei intime Gegenstände vor den Augen der wartenden, verängstigten Passagiere ausgebreitet wurden, wurden unsere Koffer ungeöffnet durchgewunken, und anschließend in das falsche Flugzeug Richtung Fernost geladen, weshalb wir, zurück in Deutschland, fast zwei Wochen auf unser Gepäck warten mussten. Trotz der angeblichen terroristischen Bedrohungslage auf dem Detroiter Flughafen, wurden wir nicht nur nicht leibesvisitiert, unser Gepäck nicht einmal geöffnet, sondern nach dem Passieren der Sicherheitsschleuse, wurden wir, wie sonst für VIPs üblich, von einem Stewart der Airline durch das Gebäude zum Flugzeug eskortiert, vorbei an sämtlichen regulären Checks, sodass nicht einmal unsere Identität oder unsere Flugtickets von den reichlich vorhandenen Sicherheitsbehörden geprüft wurden. Um uns für den in der Flughalle erlittenen seelischen Schaden zu entschädigen, hatte die Fluggesellschaft auf diesem ersten von Detroit Richtung Europa startendem Flugzeug, dessen regulär gebuchte Passagiere es größtenteils nicht, wie wir, in den Flughafen und an Bord geschafft hatten, mit dem Upgrade für die Erste Klasse beglückt. Eine Maßnahme, die sich anlässlich eines langen Transatlantikflugs als überaus erquicklich erwies. Wegen der wenigen Passagiere an Bord sorgte der Chefsteward höchstpersönlich für unser leibliches Wohl, und versorgte uns mit den in Überzahl vorhandenen Alkoholika und Essen an Bord, wie ich dies auf keinem anderen Flug je erleben durfte. Zum Abschied in Paris packte uns der wackere Mann, der deutlich stärker alkoholisiert war, als wir, uns unsere Rücksäcke mit allerlei Cognac und französischem Rotwein, sowie Trüffeln und anderen französischen Spezialitäten voll.
Da ich die meine verfassungsmäßigen Rechte einschränkenden Maßnahmen, als Folge der Terroranschläge, nie akzeptierte, war eine Konsequenz, dass ich seit 2001 die USA, ein Land, das ich überaus gern und ausführlich bereiste, nie wieder betrat, um mich nicht freiwillig der Antiterrorbehandlung aussetzen zu müssen. Auch in Europa verzichtete ich einige Jahre darauf, das Flugzeug zu nutzen, bis die verfassungswidrigen Maßnahmen gelockert bzw. in einigen Teilen aufgehoben wurden. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, weshalb die Masse meiner Mitbürger klaglos die massive Einschränkung unserer Bürgerrechte und unserer Reisefreiheit für einen Urlaubstrip in Kauf nimmt, statt aktiv, oder wie ich, passiv dagegen zu demonstrieren – durch Verzicht. Würde die Mehrheit von uns auf Flugreisen unter diesen bis heute üblichen Bedingungen verzichten, wären die verfassungswidrigen Maßnahmen längst kassiert worden – aus wirtschaftlichen Erwägungen. So jedoch helfen derartige einschränkende, unsere Bürgerrechte einschränkende Maßnahmen, den Boden für weitere autoritäre Maßnahmen bis hin zu Abschaffung der Demokratie bei den Menschen „salonfähig“ zu machen.
Die vierte und bis heute anhaltende autokratische Gegenbewegung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Ereignissen nach den Terroranschlägen von 2001. Dem kurzzeitigen Arabischen Frühling machten heftige autokratische Gegenbewegungen nach 2010 rasch den Garaus, so in Tunesien. Dafür setzten sich antidemokratische Regime in Ägypten, Libyen und Syrien durch. Im Zuge der aktuell anhaltenden, wenn nicht gar anschwellenden autokratischen Gegenbewegung registrieren wir gerade in den angeblich gewachsenen, etablierten Demokratien Amerikas wie Europas anhaltenden, wachsenden Einfluss antidemokratischer, rechtspopulistischer Parteien.
In diesem Zusammenhang stehen die USA als Hegemon der westlich-transatlantischen Staatengemeinschaft kurz davor, erstmals und langfristig in eine autokratische Diktatur abzugleiten. Alles deutet darauf hin, dass die Kräfte der antidemokratischen Gegenbewegung, an deren Spitze sich der Selbstdarsteller und Egotrip-Reisende Donald Trump gesetzt hat, das Rennen für sich entscheiden, mit katastrophalen Auswirkungen auf das ebenfalls von innen heraus sturmreif geschossene West- und Zentraleuropa. Nachdem Trump seine, dem ehemaligen afrikanischen Diktator Bokassa abgekupferte Diktatur in den USA etabliert haben wird, ist es nur noch eine Frage der Zeit und Reihenfolge, wann und wie das diktatorisch-totalitäre System Putins, zunächst Teile Ost- und Zentraleuropas, später auch Westeuropas einnehmen wird. Der Boden dafür ist, nachdem die Ukraine wegen aktiv unterlassener Hilfeleistung Westeuropas vor die Hunde gegangen sein wird, nicht nur in Deutschland bestens bereitet. Putins Statthalter in Form von AfD und anderer nationalistischer Parteien und Gruppierungen werden anlässlich der diesjährigen EU-Wahlen, wie nationaler Wahlen, ihre Ernte für den finalen späteren Genickschuss unserer Demokratie durch Putin einfahren.
Dass ich beileibe nicht schwarz male oder vor mich hin fabuliere, macht folgende Karte deutlich, die gemäß den V-Dem Indizes und Liberal Democracy Index den gegenwärtigen Stand der noch demokratischen Staaten wiedergibt. Obwohl sich laut beider Indizes Deutschland noch im Graubereich befinden soll, sind die angehenden diktatorischen Staaten Amerikas, die USA, bereits als akut gefährdet und sturmreif geschossen dargestellt. Die jüngste Entscheidung des
Obersten Gerichts der USA lässt nur eine Interpretation zu: Selbst die obersten Richter der USA haben sich damit abgefunden, die älteste Demokratie der Moderne zu Grab zu tragen und sie einem Selbstdarsteller und Hütchenspieler wie Donald Trump zu überlassen. „Gute Nacht Freunde, es wird Zeit für mich zu gehen“, um es mit einem Text Reinhard Meys auszudrücken. Fragt sich wohin? Wo in Europa, innerhalb der EU, die vermutlich ebenfalls wegen Putin einen qualvollen Tod sterben wird, bleibt die Demokratie das herrschende System?
Hoffen wir, dass von diesen Ländern, deren Namen wir noch nicht kennen, eine demokratische Gegenbewegung ausgehen wird, um in ein paar Jahrzehnten die dann völlig maroden autokratischen Systeme Europas neu mit demokratischem Geist zu beleben.
Titelbild: privat
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