Von Peter Scherrer

Wir, ein paar ältere Herren, wandern immer mal wieder. Keine wochenlangen Kilometerleistungen. Immer für ein paar Tage. Schon lange beschäftigte das Schicksal des Berliner Philosophen Walter Benjamin einen unserer Wanderfreunde. Aus dem Vorschlag, den Fluchtweg des säkularisierten jüdischen Gelehrten Walter Benjamin nachzugehen, wurde das „Walter-Benjamin-Projekt“.

Foto: Antonio Marín Segovia CC BY-NC-SA 2.0 via FlickR

Anfang November 2023. Es jährte sich die „Reichspogromnacht“, die von den Nationalsozialisten organisierte und inszenierte Schändung und Zerstörung von Synagogen und dem Mord an deutschen Juden und zum 85. Mal. Wir trafen uns im schon nach-saisonierenden Banyuls-sur-Mer. Von hier aus hatte Walter Benjamin 1940 versucht, dem Zugriff der Gestapo zu entkommen. Wir starteten um acht Uhr; denn eine lange Strecke lag vor uns. Der Wegweiser zum „Chemin Walter Benjamin“ am Haus des Bürgermeisters, an der Mairie de Banyuls-sur-Mer, war gut sichtbar angebracht und wies uns den Pfad.

Foto: Peter Scherrer

Wir entfernten uns langsam vom Stadtzentrum. Leicht bewölkt, windstill, bei 14°. Die WetterApp zeigte nur die lächelnde Sonne. Nach einigen hundert Metern hielten wir beim Denkmal für die Fluchthelfer und Widerstandskämpfer Lisa und Hans Fittko. Eine lange Stahlplatte symbolisiert den beschwerlichen Weg in die Freiheit.

Foto: Peter Scherrer

Rasch lag der Badeort Banyuls hinter uns. Die ersten zwei-drei Kilometer waren wir sehr munter, scherzten noch. Weinberge links und rechts. Befestigte Straße. Diese Steigungen waren auch für einen älteren Menschen, noch relativ einfach zu meistern. Die Markierung, ein gelber Strich, ist oft deutlich und, ganz wichtig, eindeutig angebracht. Aber die Wege wurden schmaler, der Untergrund uneben, die Anstiege mitunter recht steil. Die festen Wanderschuhe waren genau die richtige Wahl. Die Strecke zog sich hin. Hoffentlich sind wir bald oben auf dem Kamm des Berges, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Er bildet auch die Landesgrenze zwischen Frankreich und Spanien. Es wurde zunehmend mühsamer, steiler. So gegen Mittag wollten wir dort oben sein. Erreicht haben wir die Grenze aber erst anderthalb Stunden später.

Foto: privat

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Oben angekommen, ging es nur noch bergab. Steil, mitunter sehr steil, so dass man manche der schroffen Steine, die es zu überwinden galt, besser sitzend überquerte. Stolpern möchte man hier nicht. Der Muskelkater war garantiert, es kostete Kraft auf dem Schotter und Geröll hinunter zu balancieren. Nach mehr als acht Stunden hatten wir die 18 Kilo- und 655 Höhenmeter geschafft. Ankunft im spanischen Portbou, am Walter-Benjamin Memorial.

Foto: Peter Scherrer

Foto: Peter Scherrer

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Wir waren nicht auf der Flucht, nicht vom Tode bedroht, mit gutem Schuhwerk ausgerüstet, und wir hatten Proviant dabei (obwohl keiner Appetit hatte). Die Flucht über die Grenze gelang dem Intellektuellen Benjamin mit Hilfe von Lisa Fittko. 1985 erschien ihr Buch „Mein Flucht über die Pyrenäen“. Darin schildert sie sehr eindrücklich, wie sie mit Walter Benjamin und seinen zwei Begleitern den Fluchtweg zum ersten Mal gegangen war. Später wurde die Fluchtroute der Fittkos die F-Route benannt. Eben die Route der Fittkos. In diesem Podcast findet sich eine Kurzfassung ihrer Fluchtgeschichte.

Zum Video (auf YouTube)

In einer Zeit, in der hunderttausende Menschen in Kriegen und Zerstörung um ihr Leben fürchten müssen und sich deshalb auf lebensgefährliche Fluchtrouten wagen, ist es ein fast unfassbares Glück, heute ohne Papiere so über eine Grenze wandern zu dürfen. Diese „Wanderung“ in Natur, Geschichte und Gegenwart war auch eine Lektion in Demut und Dankbarkeit.

Titelbild: Peter Scherrer

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