Von Peter Scherrer
Mein letzter Aufenthalt im Kosovo liegt schon einige Jahre zurück und deshalb hatte ich reichlich Neugier im Gepäck, als ich in die ehemalige autonome Region Jugoslawiens reiste. Ich wollte mir einen Eindruck davon verschaffen, wie sich soziale und industrielle Beziehungen in der “Republik Kosovo” entwickelt haben. “News” aus dem Kosovo handeln häufig von den Spannungen zwischen den Regierungen Serbiens und dem Kosovo. Über Gewerkschaften im Kosovo wird selten berichtet, deshalb dazu hier einige Schlaglichter.
Gewerkschaftsbund BSPK
Vor zwei Jahren wählte die Dachorganisation Gewerkschaften, der BSPK (Bashkimi i Sindikateve të Pavarura të Kosovës), eine neue Führung. Der neue Vorsitzende, der Literaturprofessor Atdhe Hykolli, wie auch die Führungsspitzen der zehn Mitgliedsgewerkschaften des Bundes, orientieren sich bei ihrer Arbeit an europäischen Arbeitsbeziehungen. Gewerkschafts- und Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz gelte es ebenso wie einen tragfähigen Sozialdialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu entwickeln[1]. De facto gibt es einen solchen Dialog in privaten Unternehmen nicht. Die Gewerkschaften des BSPK haben fast keine Mitglieder in der privaten Wirtschaft und so gibt es auch keine Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften. Der Gewerkschaftsbund BSPK hat insgesamt 50.000 Mitglieder und zehn Gewerkschaftsföderationen.
Die Gewerkschaften haben ihre Mobilisierungsfähigkeit deutlich verbessern können, meint Atdhe Hykolli. Bei mehreren Gelegenheiten unterstützten sich die Verbände bei Protesten und Streiks. Bei einer großen Demonstration im vergangenen Jahr gingen 22.000 ArbeiternehmerInnen unter dem Dach der BSPK auf die Straße. Die Forderungen waren ein Gesetz über Löhne, Krankenversicherungen und die Unterzeichnung eines Rahmentarifvertrags. Insbesondere das Gesetz über Löhne (die Kontroverse betrifft die Berechnung von Gehältern und Löhnen) wird von der BSPK kritisiert und als ungerecht angesehen. Die Regierung hatte zugesagt, dieses “Lohnfindungsgesetz” auf den Weg zu bringen, so Hykolli.
Gesundheitsdienst und Krankenversicherung
Die Schaffung einer Pflicht-Krankenversicherung fordern die Arbeitnehmerorganisationen besonders vehement. Es gibt nur eine öffentliche gesundheitliche Grundversorgung. Die Konsultation eines Arztes ist kostenfrei, aber Behandlungen/Therapien müssen vollständig bezahlt werden. Es gibt keine obligatorische Krankenversicherung für ArbeitnehmerInnen am Arbeitsplatz. Auch hier hatte die Regierung zugesagt, diese einzuführen, aber derzeit sind ArbeitnehmerInnen nur dann krankenversichert, wenn der Arbeitgeber sie „freiwillig“ versichert. De facto haben 95% der Arbeitnehmer keine Krankenversicherung.
Diskussion um den Mindestlohn
Die öffentliche Diskussion über Mindestlöhne war und ist kontrovers. Im Wirtschafts- und Sozialrat forderte die BSPK einen monatlichen Mindestlohn von 300 Euro. Der Wirtschafts- und Sozialrat empfahl 264 Euro. Diese Empfehlung ist noch nicht von der Regierung bestätigt worden. Der Wirtschafts- und Sozialrat besteht aus je fünf Vertretern der Regierung, fünf Vertretern der Handelskammer/Wirtschaft und fünf Vertretern der Gewerkschaften. Das beratende Gremium verfügt über keine Entscheidungskompetenzen. Nur die Regierung hat das Recht, den Mindestlohn festzulegen.
Die gesetzliche Wochenarbeitszeit beträgt 40 Stunden pro Woche und acht Stunden pro Tag. ArbeitnehmerInnen haben gesetzlichen Anspruch auf 20 Tage Urlaub. Nach fünf Jahren Beschäftigung, gibt es einen weiteren Urlaubstag, nach zehn Jahren zwei Urlaubstage und so weiter. Ältere und qualifizierte Beschäftigte haben dann etwa 25-27 Tage Urlaub im Jahr.
Mitgliedsbeiträge über Internetplattform
27.700 Mitglieder zahlen Mitgliedsbeiträge und müssen dies über eine Regierungs-Plattform namens „eKosova“ tun. Dieses neue System wurde von der aktuellen Regierung im letzten Jahr eingeführt. Zuvor wurden die Mitgliedsbeiträge vom Bruttogehalt des Arbeitgebers abgezogen. Seit letztem Jahr müssen sich Gewerkschaftsmitglieder bei der eKosova-Plattform registrieren, um die Mitgliedsbeiträge zu zahlen. Das BSPK hat eine beträchtliche Anzahl zahlender Mitglieder verloren und war gegen die Einführung des neuen Systems. Die Regierung ist nun in der Lage zu wissen, wer Gewerkschaftsmitglied ist und wer welchen Betrag an Beiträgen gezahlt hat.
Ein allgemein gültiger Tarifvertrag steht kurz vor der Unterzeichnung und soll für alle Arbeitnehmer gelten. Für einige Bereiche der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gilt er bereits, beispielsweise für die Lehrer an Schulen und Hochschulen. Aber die Gewerkschaft für Angestellte in der Regierungsverwaltung kritisiert, dass die abgeschlossene Rahmenarifvereinbarung für sie nicht funktioniert und es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten bei der Gehaltszahlung käme. Während des Protestes für einen Rahmentarifvertrag habe die Regierung aktive Gewerkschaftsmitglieder entlassen.
Auch von der Gewerkschaft der Energiewirtschaft wird massiv ein funktionierendes Gesetz zur Lohnbestimmung gefordert. Ein Kritikpunkt ist, dass Beschäftigte hier oft an Wochenenden unbezahlte Sonderschichten leisten müssen. Mehrere Gerichtsverfahren in diesem Zusammenhang waren erfolgreich, aber die Urteile seien nicht in die Realität umgesetzt worden, so Gewerkschafter aus der Energiewirtschaft[2].
Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit
Bemängelt wird von den Gewerkschaften auch das Fehlen eines wirksamen Gesetzes zu Berufskrankheiten. Der Nachweis einer Berufskrankheit sei oftmals unmöglich, weil es dazu keine Regelungen gibt, heißt es dazu von den Gewerkschaften. Arbeitsunfälle sind häufig und sie seien nur unzureichend von Versicherungen des Arbeitgebers abgedeckt, so die Gewerkschafter. Ein Grund für zahlreiche Arbeitsunfälle seien fehlende oder oftmals völlig veraltete Schutzausrüstungen.
Wirtschaft und Handel
Es gibt mehrere Handels-, Handwerks- und Wirtschaftsvereinigungen im Kosovo. Die älteste und relevanteste ist die „Kosova Chamber of Commerce”. Sie hat 16.000 Einzelmitglieder und ist der Dachverband für 35 Verbände. Insgesamt vertritt sie 500 Unternehmen in Kosovo. Ihr Präsident ist Lulzim Rafuna. Er vertritt gleichzeitig das Investitionsforum der Kammern des Westbalkans. Für ihn sollten Bildung, Gesundheit, Rechtsstaatlichkeit, Finanzpolitik und eine effektive Arbeitskräftestrategie ganz oben auf der Agenda der Regierung bzw. der staatlichen Institutionen stehen.
Der Vertreter der Wirtschaft erwartet von der Regierung eine langfristige Strategie zur Rückkehr junger Arbeitskräfte, die das Land verlassen haben. Beschäftigung suchen junge Menschen aus dem Kosovo in der Europäischen Union, häufig in Deutschland, Österreich, aber auch in der Schweiz. Lulzim Rafuna fordert deshalb von der Regierung eine Strategie, durch Anreize Arbeitsmigranten zur Rückkehr zu bewegen. Sie könnten dann zu einem neuen Geschäftsklima beitragen und beispielsweise ein Start-up-Unternehmen gründen. Solche Anreize könnten seiner Meinung nach darin bestehen, ihnen Startkredite als Subventionen und/oder Steuererleichterungen zu gewähren. Zusammen mit den Gewerkschaften wartet die Handelskammer darauf, dass die Regierung eine neue Initiative des Wirtschafts- und Sozialrats in Kosovo vorlegt. Derzeit sei der Rat nicht aktiv[3].
SBASHK – Die Lehrergewerkschaft
Die größte Gewerkschaft unter dem Dach des BSPK ist die Bildungs- und Wissenschaftsgewerkschaft SBASHK. Sie organisiert LehrerInnen, Universitätsmitarbeiter, Beschäftigte in den Kindergärten und Personal im Kultursektor. Die SBASHK hat mehrere Büros und hauptamtliche Beschäftigte. Das Vorstandsbüro ist in Pristina. Schon 1989, noch unter der Regierung Milosevic und damals illegal, gründeten LehrerInnen diese Arbeitnehmervertretung. Sie ist schon seit 1996 Mitglied der internationalen Lehrerverband “Education International” (EI). Die SBASHK ist im Internet präsent und in sozialen Medien aktiv. Sie veröffentlichen mehrere Newsletter und haben viele Medienkontakte innerhalb Kosovos[4].
Auswirkungen der Digitalisierung durch die Regierung
Bevor die Regierung das System der Zahlung des Gewerkschaftsbeitrages änderte, organisierte die SBASHK etwa 25.000 von rund 27.000 LehrerInnen im Land. Nach der Neu-Registrierung (als Mitglieder das Formular für die Zahlung über die eKosova-Plattform selbst ausfüllen mussten) haben sie noch 17.000 registrierte und zahlende Mitglieder. Die eKosova-Plattform wurde direkt nach dem Lehrerstreik im letzten Jahr eingeführt. Der Lehrerstreik dauerte vom 25. August bis zum 1. Oktober 2022. Für die SBASHK-Führung ist die Einführung des neuen Zahlungssystems eine Reaktion der Regierung auf den erfolgreichen Streik.
Die eKosova-Plattform wurde von der Regierung geschaffen und da sie von der Regierung betrieben wird, verfügt sie auch über die hinterlegten Informationen (Mitgliedsdaten und entrichtete Beiträge).Eine weiteres Beispiel der Kritik an der Digitalisierung durch die Regierung ist, dass im Oktober SBASHK 460 neue Mitglieder gewonnen hatte. Die Beiträge dieser zahlenden Mitglieder wurden aber bislang nicht an die Gewerkschaft überwiesen. Die Beitragszahlungen befinden sich immer noch im System von eKosova. Die Regierung verfügt über das Geld der zahlenden Mitglieder einer Gewerkschaft, so die SBASHK[5]. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 0,5% des Nettomonatsgehalts. Im Durchschnitt sind dies zwei bis drei Euro pro Monat.
Bergarbeiter in Mitrovica – Trepca
Beim Treffen[6] mit der Führung der SPMTK, der Gewerkschaft der Bergarbeiter Kosovos, in Mitrovica, ist der Streik das Thema. Die Produktion wurde nach dem Streik vom 24. Oktober bis zum 3. November zwar wieder aufgenommen, aber noch immer gibt es zahlreiche Probleme. Auf der Zeche sind 710 Arbeiter beschäftigt, davon arbeiten 300 unter Tage. Hier fördern die Kumpel Zink, Gold, Silber, Blei und einige Mineralien. Insbesondere während des Streiks forderte die Gewerkschaft eine Lohnerhöhung, Verbesserungen im Bereich Gesundheit und Sicherheit, die Einführung einer Versicherung bei Unfällen und den Austausch veralteter Schutzausrüstung.
Natürlich war die Höhe des Entgeltes, aber auch die pünktliche Zahlung der Löhne ein großes Thema. Nach dem Streik gab es eine Vereinbarung über bessere Löhne, aber die Löhne werden immer noch nicht gezahlt. Darüber hinaus wurden mehrere Mitglieder der Führung (ich traf fünf von ihnen, einschließlich des Präsidenten) von der Arbeit suspendiert. Sie durften noch nicht zur Arbeit zurückkehren. Die SPMTK wird deshalb vor Gericht gehen, erwägt aber auch einen erneuten Streik.
Seit 2017 gehören 80 Prozent des Bergbauunternehmens Trepca dem Industrieminister und 20 Prozent der Anteile wurden den Mitarbeitern gegeben. Diese Änderung basiert auf einem vor sechs Jahren eingeführten Gesetz. Derzeit ist es schwierig, Trepca zu privatisieren und bisher gibt es auch keine Diskussion über einen Eigentümerwechsel. Aufgrund des Mangels an einem angemessenen sozialen Dialog ist die Zukunft des Werks unsicher.
Statistische Eckpunkte
Das Durchschnittsalter (Medianalter) im Kosovo beträgt im Jahr 2022 rund 31 Jahre. Bis zum Jahr 2050 wird sich der Altersdurchschnitt der kosovarischen Bevölkerung laut Prognose auf rund 44,4 Jahre erhöhen.[7]
Die Arbeitslosenquote sank von 35,3 Prozent im Jahr 2014 auf 20,7 Prozent (Stand 2021)[8].
Das legale Zahlungsmittel ist der Euro. Der Einfluss der Rücküberweisungen von Migranten in die Wirtschaft des Kosovo ist erheblich. Im vergangen Jahr waren es immerhin 17,1 Prozent des BIP[9].
Der Durchschnittslohn liegt bei etwa 400 € in der Privatwirtschaft, im öffentlichen Dienst bei 550 € und in staatlichen Unternehmen bei 680 € netto.
Die allgemeine Inflationsrate lag im Jahr 2022 bei 12 Prozent, allerdings stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs um 50 Prozent[10].
[1] Gespräch mit Atdhe Hykolli, 20.11.2023
[2] Treffen mit Gewerkschaftern am 20.11.2023
[3] Gespräch mit Lulzim Raffuna am 20.11.2023
[4] https://www.sbashk-rks.org
[5] Gespräch mit dem Vorstand der SBASHK am 21.11.2023
[6] am 21. November 2023
[7]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1323775/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-kosovo/
[8] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/415797/umfrage/arbeitslosenquote-im-kosovo/
[9]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/699929/umfrage/anteil-der-rueckueberweisungen-inflow-am-bruttoinlandsprodukt-kosovos/
[10] Daniel Braun, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Länderbericht Kosovo, Februar 2023
Titelbild / Fotos: Peter Scherrer
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