Der Europaabgeordnete Helmut Scholz gehört den beiden für den Brexit federführenden Ausschüssen des Europäischen Parlaments AFCO* und INTA* an. Im folgenden kommentiert er die Abstimmung des britischen Unterhauses zum Brexit-Deal.

* AFCO ist der Ausschuss des Europaparlaments für Konstitutionelle Fragen und damit für Verfassungsangelegenheiten, d.h. in diesem Fall für den ‚Scheidungsvertrag‘ zuständig.
* INTA ist der Ausschuss des Europaparlaments für Internationalen Handel und damit zuständig für den Vertrag zu den künftigen Beziehungen mit Großbritannien.

Standpunkt von Helmut Scholz

Mit dem Nein des britischen Unterhauses zum Vorschlag für den EU-Austrittsvertrag haben nun endgültig alle verloren: die Menschen im Vereinigten Königreich, Premierministerin Theresa May und nicht zuletzt EU-Europa.

Natürlich muss die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bürger*innen akzeptiert werden. Aber wer die unmittelbar Leidtragenden der Entscheidung sind, ist bereits heute klar: Es sind vor allem die etwa fünf Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger, die im Vereinigten Königreich oder in den EU-Mitgliedstaaten leben und die in eine rechtlich prekäre Situation geraten werden. Die mit der EU-Mitgliedschaft ihrer Staaten erworbenen fundamentalen Bürgerrechte würden einfach verschwinden und es gäbe auch keine Instrumente mehr, diese einzuklagen. Zuzugs- und Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnisse, aber auch Rentenansprüche, der Zugang zu Gesundheitsdiensten oder die Anerkennung von Berufserfahrungen sind jedoch Grundrechte, die bei einem ungeregelten Brexit nicht auf der Strecke bleiben dürfen. Ebenso wichtig ist es nun, eine tragfähige Lösung – und nicht nur eine Notvariante – für das künftige Verhältnis zu Nordirland zu finden. Wir als Linke im Europäischen Parlament haben stets auf eine Lösung gedrängt, die die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingeleitete Entwicklung fortsetzt. Wenn die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Bindungen durchschnitten würden, könnte sich die Lebenssituation der Menschen rapide verschlechtern und alte Konflikte drohten erneut aufzuflammen.

Wie auch immer aber die konkrete Ausgestaltung des Brexits aussehen wird und auf welche nächsten Schritte sich die politischen Akteure auf der Insel in den nächsten Tagen verständigen können – EU-Europa muss Lehren ziehen, die weit über den ‚Fall Großbritannien‘ hinausgehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil eine Politik, die den Interessen der Bürger*innen verpflichtet ist, nicht nur Aufgabe der EU als Ganzes, sondern auch der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten sein muss.

Lehre eins: Nationale Egoismen, vertreten von Politikerinnen und Politikern, denen innenpolitischer ‚Stimmenfang‘ und die eigene Karriere wichtiger sind als gemeinsame europäische Interessen und vor allem das gemeinschaftliche Entscheidungsprozedere, bedrohen die Zukunft der EU. Ja, viel ist zu kritisieren und noch mehr zu verändern an den Zuständen in der EU, deren Politik und ebenso der ihrer Mitgliedstaaten – die europäischen Werte und Fortschritte müssen gegen nationalistische Populisten verteidigt werden, ob diese nun in London oder in Budapest, Prag oder Warschau sitzen.

Lehre zwei: Eine Europäische Union, deren konkrete Politik von Bürger*innen als Bedrohung ihrer sozialen Situation, ihrer Jobs und ihres gewohnten Lebensalltags wahrgenommen wird und auf Kürzungspolitik setzt, wird keine Zustimmung erhalten. Verbindliche Sozialstandards, angemessene Mindestlöhne, die Schaffung einer europäischen Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, sind wichtige Schritte, um die Menschen wieder für Europa zu gewinnen. Auch durch eine entsprechende Politik auf der mitgliedstaatlichen Ebene. Der Thatcher’sche Leitsatz britischer EU-Politik ‚Ich will mein Geld zurück‘ war und ist der Anfang vom Ende gemeinsamer europäischer Integrationspolitik.

Lehre drei: Europäische Politik auf allen Ebenen – vom EU-Rat bis zur Kommune muss zurück in den täglichen Dialog mit den Bürger*innen. Das heißt konkret, Entscheidungsprozesse sind konsequent transparent zu gestalten und durchzusetzen. Entsprechende Forderungen in Sonntagsreden von Regierungschefs und -Chefinnen reichen da nicht. Die Bürger*innen müssen mitreden und mitentscheiden können, nicht allein in Alibiveranstaltungen. Das gilt von London über Berlin bis nach Bukarest. Das Europäische Parlament als demokratische Volksvertretung braucht endlich volle Rechte eines Parlaments, auch wenn dies den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten nicht gefällt. Und schließlich: Die EU benötigt die Akzeptanz der Menschen vor Ort, in den Regionen Europas. Das ist nur durch glaubwürdige Politik zu erreichen. Und wenn die Europäische Union dort sichtbar wird, wird die Europäische Idee – von Frieden, Erhaltung der Umwelt, Arbeit für alle, von sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Teilhabe – wieder stärker Fuß fassen.

Titelbild: Brexit-Protest | Foto: LeoLondon CC BY-NC-ND 2.0

Autoreninfo


Helmut Scholz ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Er gehört der Delegation der Linken im Europaparlament und der Fraktion GUE/NGL an.

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