Am 25. Oktober 2019 hat Wolfgang Ullrich im Rahmen des OffArtParlaments in der Kunsthalle Recklinghausen den Vortrag “Kunst im Wandel! – Kunst als Kreativitätsmotor?” gehalten. Ein wichtiger Aspekt des Vortrags war der Wandel des Verständnisses von Kreativität. Das folgende Interview nimmt diesen Aspekt noch einmal vertiefend auf und stellt ihn in ein Verhältnis zur Kreativ-Wirtschaft. Kreativ-Wirtschaft stand als übergreifendes Thema im Zentrum der Europäischen Kulturhaupt, die 2010 im Ruhrgebiet stattfand. Durch die Europäische Kulturhauptstadt sollte ein Impuls gegeben werden zur Entwicklung und Förderung einer Kreativ-Wirtschaft im Ruhrgebiet, um den Strukturwandel von der alten Montanindustrie hin zu neuen Wirtschaftsmodellen und -formen voranzubringen.

Jürgen Klute: Sie haben letztlich in einem Vortrag im Rahmen des OffArtParlaments in Recklinghausen dargelegt, dass Kreativität heute nicht mehr als „göttliche Gabe“ verstanden wird, sondern als menschliche Ressource. Was genau ist damit gemeint?

Wolfgang Ullrich: Lange Zeit ja seit der Antike und Homers Musenanruf zu Beginn der Ilias galt es als sicher, dass Dichter und Künstler das von ihnen Geschaffene nicht als ihr eigenes Werk auffassten; vielmehr war es ihnen von Musen eingegeben. Nichts wäre Homer daher fremder gewesen als die Idee von Urheberrechten. Auch Platon war überzeugt davon, dass Göttliches durch die Künstler zu uns spricht und es einer Ekstase bedarf, damit ein Resonanzraum entsteht. Erst wenn der Dichter „außer sich geraten ist und die klare Vernunft nicht mehr in ihm wohnt“, so sagt er, taugt er als Medium. Fast 2000 Jahre später spricht Albrecht Dürer von den „öberen eingiessungen“, denen er seine Bildideen zu verdanken habe. Nach wie vor gelten schöpferische Kräfte als unverfügbar, sie sind nichts, was dem Menschen selbst gehört. Allerdings ereignet sich im Verlauf der Neuzeit ein Akzentwechsel. Mehr und mehr wird es zum Thema, wie ein Künstler auf andere Künstler initiativ wirkt und schöpferische Kräfte in ihnen freisetzt oder auf sie überträgt. Die anfängliche göttliche Inspiration tritt zugunsten der Beschreibung der künstlerischen Weitergabe dieser Inspiration in den Hintergrund.

Jürgen Klute: Was ist der Grund für diesen Verständniswandel?

Wolfgang Ullrich: Das hat viel mit einem anderen Menschenbild zu tun. Es hat sich durchgesetzt, eine grundsätzliche Gleichheit und Gleichberechtigung aller zu unterstellen – und es nicht zu akzeptieren, dass manche Menschen geradezu göttliche Fähigkeiten und einen auserwählten Status haben, andere hingegen völlig unprivilegiert sind. Man unterstellt heute also lieber, dass grundsätzlich alle über kreative Kräfte verfügen – und dass sie alle von einem Kunstwerk oder etwas anderem zu eigener kreativer Leistung stimuliert werden können.

Jürgen Klute: Lässt sich genauer sagen, ab wann und in welchem Zeitraum dieser Wandel stattgefunden hat?

Wolfgang Ullrich: Das hat sich ab ungefähr 1900 vorbereitet und ist dann in den 1960er Jahren – im Zuge der 68er-Bewegung – voll zur Geltung gekommen. Leo Tolstoi hat am Ende des 19. Jahrhunderts als erster die Losung formuliert, jeder Mensch könne ein Künstler sein, für Joseph Beuys war das dann drei Generationen später schon eine Tatsache. Tolstoi hatte noch die Vorstellung, die Menschen könnten sich gegenseitig mit Kreativität anstecken, diese sei also ein virales Ereignis – Beuys dachte das gleichsam theologischer, denn für ihn war klar, dass der Mensch schon allein deshalb kreativ ist, weil er als Ebenbild Gottes ebenso schöpferisch sein muss wie dieser. Damit war klar: Kreativität ist keine göttliche Gabe, sondern Wesensmerkmal des Menschen.

Jürgen Klute: Dieses nicht mehr ganz so neue Verständnis von Kreativität hat sich mittlerweile auch mit dem Verständnis der Europäischen Kulturhauptstadt verbunden. Das war ganz deutlich vor zehn Jahren zu sehen, als die Europäische Kulturhauptstadt zu Gast war im Ruhrgebiet unter dem Titel „Ruhr 2010“. Kreativität, so hieß es damals bei den Machern der „Ruhr 2010“, solle der neue Rohstoff werden, der die Kohle ersetzt und der Wirtschaft im Ruhrgebiet zu neuer Größe und neuem Wohlstand verhilft. Dazu eine doppelte Frage: Was halten Sie von diesem Konzept und was ist aus ihrer Sicht von diesem Ansatz geblieben nach 10 Jahren?

Wolfgang Ullrich: Nicht erst seit 2010, sondern schon seit den 1970er Jahren, als erstmals ein Bewusstsein für die Endlichkeit von Ressourcen entstand, ist es beliebt geworden, sich gerade auch die Kreativität als Rohstoff vorzustellen. Vor allem hat sich das Bild festgesetzt, die Kreativität sei eine im Menschen befindliche Ressource, ja so etwas wie ein ungehobener Schatz.

Dieses Bild verleitet zu weiteren Vorstellungen in Analogie zur Energieförderung. Wie im Fall von Gas oder Öl akzeptiert man, aufwendiger Verfahren zu bedürfen, um die wertvolle Ressource zu bergen. Jederzeit scheint es dabei auch möglich, auf weitere Vorräte zu stoßen. Und daher ist zuerst einmal eine beruhigende Vorstellung, sich Kreativität als Rohstoff und Energieform zu denken. Immerhin lässt sich so zudem die Erwartung hegen, sie sei nicht nur aus dem eigenen Inneren zu gewinnen, sondern man könne sie ebenso zusätzlich erwerben: Wenn mit kaum etwas mehr gehandelt wird als mit Bodenschätzen und Energieträgern, dann sollte doch auch die Ressource ‚Kreativität‘ frei flottieren. Das aber heißt, dass Kreativität zu einem Konsumartikel wird. Wer nicht genügend davon hat oder in sich findet, sucht nach Möglichkeiten, sich entsprechende Stimulanzien und Atmosphären zu besorgen, um sich aufzuladen. Das wiederum führt zu einer gewaltigen Ökonomisierung von Kreativität – auf einmal spricht man von der Kreativwirtschaft oder von ‚creative industries’. Den Strukturwandel des Ruhrgebiets hat die Rohstoff-Metapher sicher beflügelt und begünstigt – insofern ist ihre Bedeutung kaum hoch genug einzuschätzen.

Jürgen Klute: In diesem neuen Verständnis wird Kreativität zu einem Konsumgut. Diese Entwicklung zieht sich hin in den Bereich der Wirtschaft, die immer erneut kreativ sein muss, um konkurrenzfähig zu sein. Diese Entwicklung zeigt sich sogar im Antragswesen für Fördermittel – egal in welchem Bereich. Es darf sich nichts wiederholen, jeder Förderantrag muss sich durch neue Ideen – also Kreativität – von alten Anträgen und konkurrierenden Anträgen unterscheiden. Was bedeutet das eigentlich für das Verhältnis von Kreativität – Kunst – Kultur?

Wolfgang Ullrich: Durch den Boom der Kreativität wird diese auch zum Imperativ. Auf die Idee, sie als Ressource zu begreifen, kommt man nicht zuletzt, weil der Eindruck so verbreitet ist, sie sei immer zu knapp. Fast jeder hätte gerne mehr Kreativität, da sie bei so vielen Gelegenheiten verlangt wird. Das betrifft ja nicht nur Anträge für Fördermittel. Der fortwährende Kreativitätsdruck ist vielleicht sogar mitverantwortlich für Stress, gar für Burn-Outs oder andere psychische Krankheiten.

Jürgen Klute: … und was bedeutet das für das Konzert der Europäischen Kulturhauptstadt, die ja ursprünglich dazu gedacht war, Kunst- und Kulturschaffenden für ein Jahr in der jeweiligen Kulturhauptstadt Europas ein Forum zum Austausch und zum gegenseitigen Kennenlernen zu geben. Bekanntermaßen ist die EU ja als friedenspolitisches Projekt gedacht, das auf ökonomischer Integration basiert. Kultur – jedenfalls in einem engeren Sinne – hat dabei zunächst keine Rolle gespielt. Das Konzept der Europäischen Kulturhauptstadt sollte dieses Defizit etwas kompensieren – im Sinne einer Seele für Europa (a soul for Europe) bzw. im Sinne des Satzes „Art is a basic need“.

Wolfgang Ullrich: Gewiss geht es auch hier darum, dass sich jede Stadt, die Kulturhauptstadt werden will, möglichst besonders lebendig, dynamisch, kreativ darstellt. Mein Eindruck ist, dass man sich innerhalb des Bewerbungsprozesses weniger auf das verlässt, was man aufgrund seiner Geschichte zu bieten hat, als dass man sich als Hort großer Entwicklungen, als Zukunftsschmiede in Szene setzt. Dazu heuert man Kulturmanager an, die es hochprofessionell verstehen, eine Stadt noch lebendiger, noch jünger, noch kreativer erscheinen zu lassen. Mittlerweile hat sich das aber auch schon etwas totgelaufen – aber es gibt noch keine rechte Alternative dazu, Kultur primär als  Kreativität zu begreifen.

Jürgen Klute: Künstler wie z.B. Picasso oder Beuys habe ich immer auch verstanden als Menschen, die nicht nur kreativ sind, sondern die in ihren Werken der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten – einen kritischen; Menschen und Gesellschaft mit sich selbst konfrontieren. In diesem Sinne hat Kunst auch eine reflektierende Funktion. Kann Kunst, die von einem heutigen Kreativitätsverständnis geprägt ist, eine solche Funktion noch wahrnehmen?

Wolfgang Ullrich: Tatsächlich scheint es mir einen gewissen Wandel zu geben, so dass sich von der Kunst heute viele eher eine inspirierende als eine reflektierende Funktion erhoffen. Sie wollen von einem Werk die Erfahrung vermittelt bekommen, sie selbst könnten ebenfalls kreativ sein. Sich motiviert und angeregt zu fühlen, tut ihrem Selbstbewusstsein gut und macht es ihnen leichter, ihr Auf-sich-gestellt-Sein, ja ihre Individualität als etwas Positives zu erleben, vor allem aber jene Kreativitätsimperative zu ertragen. Und wenn Kunst kritisch ist, dann ebenfalls am liebsten so, dass sie partizipative Angebote macht, man also selbst am Artikulieren von Kritik mitwirken kann. Politischer Aktivismus ist heutzutage die beliebteste Form von kritischer Kunst – eben weil er es vielen erlaubt, sich selbst aktiv und kreativ einzubringen.

Jürgen Klute: In Ihrem Recklinghausen Vortrag haben Sie auch auf den gesellschaftlichen Funktionswandel von Museen hingewiesen. Was genau hat sich gewandelt?

Wolfgang Ullrich: Auch das Museum ist zunehmend ein Ort, an dem Besucher und Rezipienten sich selbst als kreativ erleben können und wollen. Ausdrücklich formulierte dies als einer der ersten Pontus Hultén in seiner Eigenschaft als Gründungsdirektor des Pariser Centre Pompidou, als er 1977 davon sprach, das Museum sei „kein Ort mehr, an dem Kunstwerke konserviert werden“, sondern „ein Ort, an dem das Publikum selbst zum Schöpfer wird“. Während es im alten, exklusiven Museum darum ging, sich auf Meisterwerke zu konzentrieren, und während man dort auf einen identitätsstiftenden Kanon eingeschworen wurde, alles also auf Fortschreibung einer Tradition und damit auf Bewahrung ausgerichtet war, dient ein Museumsbesuch mittlerweile viel eher einer Stärkung der Individualität des Besuchers, wobei die Werke als Anregung dienen, sich selbst als kreativ zu erfahren und mehr Selbstbewusstsein auszubilden. Damit erleben Museen und Ausstellungshäuser den wohl markantesten Funktionswandel ihrer mehr als zweihundertjährigen Geschichte, zugleich aber eine Aufwertung. Sie sind nicht länger dem Verdacht ausgesetzt, lediglich Luxuseinrichtungen für eine kleine bildungsbürgerliche Klientel zu sein. Vielmehr begreifen sie sich als regelrechte Kreativitätsagenturen.

Jürgen Klute: Übernehmen Museen damit nicht Funktionen, die zu früheren Zeiten Religion wahrgenommen hat bzw. – im europäischen Kulturkreis – Kirchen und was bedeutet das gesellschaftlich und für Kunst und Kultur?

Wolfgang Ullrich: Insofern Museen in gewisser Weise für das Seelenheil der Besucher verantwortlich sind, könnte man ihnen eine religionsähnliche Rolle zusprechen. Das allerdings ist nicht wirklich neu. Früher erwartete man von ihnen, dass sie dank der in ihnen gezeigten Werke zu läutern vermögen oder dass sie Konflikte lösen, weil alles in ihnen gleichermaßen allein dazu da ist, betrachtet zu werden. Heute begreift man die Werke eher als Musen, die Museen als Institutionen, die einen Musendienst leisten. Man könnte sagen: Je mehr sie inspirieren, desto spiritueller und kreativer geht es insgesamt zu.

Jürgen Klute: Vielen Dank für das Interview.

Bildnachweise:

Titelbild: Sebastina Schack CC BY 2.0 via FlickR

Foto (Zitat von Joseph Beuys): Walt Jabsco CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Foto Wolfgang Ullrich: privat

Foto Wolfgang Ullrich (Kunsthalle Recklinghausen): Jürgen Klute CC BY-NC-SA 4.0

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Wolfgang Ullrich: Geb. 1967 in München. Ab 1986 Studium der Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik in München. Magister 1991 mit einer Arbeit über Richard Rorty; Dissertation 1994 über das Spätwerk Martin Heideggers. Danach freiberuflich tätig als Autor, Dozent, Berater. 1997 bis 2003 Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste München, danach Gastprofessuren an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg und an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seither freiberuflich tätig in Leipzig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater.

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