Wie Pech klebt die Gurkenverordnung der EU an deren Image. Obgleich die besagte Verordnung bereits 2009 aufgehoben wurde. Dabei ist sie nicht einmal auf dem Mist der Kommission gewachsen.

Selbst bei der Lesung von Robert Menasse aus seinem neuen Europa-Buch „Die Hauptstadt“ auf dem EuropaCamp der ZEIT-Stiftung am 3. Februar 18 in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg sah sich ein Teilnehmer bemüßig, erneut die EU-Gurkenverordnung aus der Mottenkiste zu holen.

Leicht gereizt verwies Robert Menasse darauf hin, dass die Gurkenordnung vor allem im Interesse deutscher Frächter – so sagt man in Wien zu Spediteuren – gemacht worden sei.

Auch wenn es schon fast klischeehaft klingt: damit liegt Robert Menasse richtig.

Die Geschichte ist nicht ganz neu. Aber offenbar ist sie noch nicht oft genug erzählt worden, wie sich in Hamburg wieder gezeigt hat. Deshalb also hier noch einmal in aller Kürze die Geschichte der EU-Gurkenverordnung.

Die exakte Bezeichnung lautet übrigens: „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88 der Kommission vom 15. Juni 1988 zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken“. Wer Gesetzes-Lyrik schätzt, kann sich auf dem Webportal EUR-Lex an dem Text der Verordnung erfreuen.

Wie gesagt ist diese Verordnung nicht auf dem Mist der Kommission gewachsen. Den Anstoß gab die in Genf ansässige Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UN/ECE). Mehr zu dieser weithin unbekannten UN-Organisation, die 1947 gegründet wurde, lässt sich hier nachlesen.

Die EU-Gurkenverordnung ist laut Wikipedia eine weitgehend wortgleiche Übernahme einer Empfehlung der UN/ECE.

Die Verordnung regelt zum einen, dass Gurken so vom Feld des Erzeugers zum Endverbraucher zu bringen sind, dass sie dort nicht unreif und auch nicht als Gammelware ankommen. So schreibt die Verordnung folgende Mindesteigenschaften von Gurken vor:

A. Mindesteigenschaften

In allen Klassen müssen die Gurken vorbehaltlich besonderer Bestimmungen für jede Klasse und der zulässigen Toleranzen sein:

  • ganz,
  • gesund; ausgeschlossen sind Erzeugnisse mit Fäulnisbefall oder anderen Mängeln, die sie zum Verzehr ungeeignet machen,
  • von frischem Aussehen,
  • fest,
  • sauber, praktisch frei von sichtbaren Fremdstoffen,
  • praktisch frei von Schädlingen,
  • praktisch frei von Schäden durch Schädlinge,
  • nicht bitter (vorbehaltlich der für die Klassen II und III im Abschnitt »Toleranzen” zugelassenen Sonderbestimmungen),
  • frei von anomaler äusserer Feuchtigkeit,
  • frei von fremdem Geruch und/oder Geschmack,

Die Gurken müssen genügend entwickelt, die Kerne jedoch noch weich sein.

Der Zustand der Gurken muß so sein, daß sie

  • Transport und Hantierung aushalten und
  • in zufriedenstellendem Zustand am Bestimmungsort ankommen.

Die in den Einzelhandel gelangenden Gurken werden weiterhin in vier Qualitätsstufen eingeteilt. Die beiden höchsten Qualitätsstufen schreiben zusätzlich zu anderen Qualitätsmerkmalen, die eine Gurke aufweisen muss, vor, dass Gurken praktisch gerade sein müssen. In der dritten und vor allem vierten Qualitätsstufe dürfen Gurken auch krumm sein.

Diese Vorgabe wie auch weitere Vorgaben zur Sortierung von Gurken nach Länge und Gewicht hat mit Qualität nicht viel zu tun, wohl aber mit dem Interesse der Spediteure. Die nämlich haben Wert gelegt auf diese Normierungen, weil sich gerade und nach Größe und Gewicht normierte Gurken kostensparender in Versandkartons verpacken lassen als krumme Gurken.

Das Ende der Gurkenverordnung

Im Zuge einer „Entbürokratisierung“, wie die damalige EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel im Berliner Tagesspiegel anmerkte, wurden 2008 alle separaten Verordnungen für Gemüse- und Obstsorten – es gab bis dahin für eine ganze Reihe von Obst- und Gemüsesorten jeweils gesonderte Verordnungen – überarbeitet, von zu kleinteiligen Regelungen entschlackt und zu einer einzigen Verordnung zusammengefasst, nämlich zur Verordnung (EG) Nr. 1221/2008 der Kommission vom 5. Dezember 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1580/2007 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen (EG) Nr. 2200/96, (EG) Nr. 2201/96 und (EG) Nr. 1182/2007 des Rates im Sektor Obst und Gemüse hinsichtlich der Vermarktungsnormen.

Nach dieser neuen Verordnung, die zum 1. Juli 2009 in Kraft getreten ist, dürfen Gurken auch wieder krumm sein.

Interessanterweise haben dann aber diejenigen, die sich gerne über Bevormundungen aus Brüssel beklagen, sich nun über die Abschaffung der viel verspotteten Gurkenverordnung beschwert. In seiner Kolumne vom 24. April 2014 in Die Zeit schrieb Christoph Drösser jedenfalls, dass 15 von 27 EU-Mitgliedsländern gegen die Aufhebung der Gurkenverordnung waren.

Und während die Bundesregierung für die Abschaffung der Gurkenverordnung stimmte, warnte der Deutsche Bauernverband vor Gurken-Wühltischen in Supermärkten, wie der Berliner Tagesspiegel in der schon oben zitierten Meldung vom 12. November 2008 vermerkte.

Wenn die Gurkenverordnung so bevormundend unsinnig gewesen sein soll wie Spötter und Kritiker immer wieder behaupteten, stellt sich die Frage, weshalb auch neun Jahre nach der Aufhebung der Verordnung noch immer keine krummen Gurken in Supermärkten zu finden sind – auch nicht auf Wühltischen.

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