Antisemitismus ist auch Jahrzehnte nach dem Genozid der deutschen Nationalsozialisten an den Juden ein brennendes Thema. Und zwar keineswegs nur in Deutschland. Seit längerem gibt es Debatten um die britische Labour-Party und ihrem Verhältnis zum Antisemitismus. Die BDS-Boykott-Bewegung führt ebenfalls zu heftigen Debatten darüber, ob diese Bewegung als antisemitisch einzustufen ist oder nicht. Der deutsche Bundestag hat dazu am 17. Mai 2019 eine Resolution beschlossen, die sich gegen diese Boykottbewegung wendet. Am 18. Oktober 2019 haben mehrere Uno-Sonderberichterstatter einen Brief an den deutschen Außenminister geschrieben, in dem sie diese Resolution kritisieren, weil nach ihrer Auffassung dieser Bundestags-Beschluss “einen besorgniserregenden Trend setzt, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken” (UNO rügt Antisemitismus-Beschluss des Bundestags, Der Spiegel, 25.10.2019).

Vor diesem Hintergrund haben die Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) und medico international e.V. ein Gutachten zur “Arbeitsdefinition Antisemitismus” der IHRA verfassen lassen, das jetzt veröffentlicht wurde. Der Autor des Gutachtens, Dr. Dr. Peter Ulrich erläutert in dem folgenden Interview dieses Gutachten.

Europa.blog: Du hast im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von medico international ein Gutachten zur Arbeitsdefinition Antisemitismus verfasst. Was war der Anlass für diese Studie?

Peter Ullrich: Nun, da musst du die fragen! Grundsätzlich aber: die Arbeitsdefinition verbreitet sich seit ihrer Unterstützung durch die IHRA immens. Aber es gab von Anfang an starke inhaltliche und politische Kritik, insbesondere wegen ihrer Vagheit und wegen ihrer starken nahostpolitischen Implikationen. Nun ging es darum abzuwägen, wie es zu der Definition kam, was sie leistet und was nicht.

Europa.blog: Was ist die Kernaussage der von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) „Arbeitsdefinition Antisemitismus“?

Peter Ullrich: Tja, wenn man das so einfach sagen könnte, gäbe es weniger Anlass für eine kritische Auseinandersetzung. Sie definiert Antisemitismus „als eine bestimmte Wahrnehmung von Juden“. Die genaue Bestimmung dieser Wahrnehmung bleibt die Definition allerdings schuldig; es gibt dann da nur eine Aufzählung vieler möglicher Erscheinungsformen. Außerdem ist der Fokus auf Wahrnehmung problematisch – Antisemitismus ist kein empirisch-sinnliches Phänomen der Wahrnehmung von Juden, sondern ein Feindbild, von den Antisemiten aktiv geschaffen. Und das sind nur einige der Probleme. Es gibt neben dem Kernproblem der Vagheit auch noch weitere, viele Inkonsistenzen und Leerstellen. An manchen Punkten, besonders im Hinblick auf den Äußerungskontext Nahostkonflikt, ist die Definition mit ihren Beispielen sehr weit und unspezifisch. Andere Aspekte und Kontexte von Antisemitismus fehlen aber völlig, beispielsweise sein weltbildstiftender Charakter oder v.a. seine zentralen Auftretenskontexte. Im Gegensatz zum Nahostkonflikt wird Rechtsextremismus in der Definition überhaupt nicht erwähnt. Und so setzt diese Definition die ganze Diskussion weiter auf eine etwas falsche Fährte.

Europa.blog: Welche Verbreitung und Akzeptanz hat die Antisemitismus-Definition der IHRA mittlerweile gefunden?

Peter Ullrich: Sie verbreitet sich rasant und wird an immer mehr Stellen implementiert, vom EU-Parlament, über derzeit etwa 10 Staaten bis runter zu deutschen Bundesländern, Kommunen oder NGOs. Rebecca Gould nennt sie wegen ihrer faktischen Verbindlichkeit für diverses Verwaltungshandeln „Quasi-Recht“.

Europa.blog: Die Antisemitismus-Definition des IHRA ist eine „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Was bedeutet diese Bezeichnung im Blick auf die rechtliche Einordnung dieser Definition? Ist sie juristisch nutzbar zur Ermittlung eines Straftatbestandes bzw. wird sie als solche mittlerweile genutzt und welche Legitimation hätte diese Definition dann ggf.?

Peter Ullrich: Der Begriff Arbeitsdefinition wurde hier u.a. gewählt, weil sich bei der ursprünglichen Schaffung des Textes nicht alle Staaten einig waren – so blieb es etwas unverbindlicher. Leider wurde aber an der Definition nicht mehr weitergearbeitet. Angesicht ihrer eklatanten Lücken wäre das aber zwingen erforderlich. Trotzdem dient sie zur Legitimierung von Beschlüssen aller Art, insbesondere für die Diffamierung von zugespitzten nahostpolitischen Positionen und die Beschränkung der öffentlichen Debatte. Ich will damit nicht sagen, dass es in dem Bereich keine Probleme gäbe, ganz im Gegenteil. BDS beispielsweise unterstütze ich nicht; insbesondere in Deutschland finde ich das auch eher als unsensibel. Allerdings muss man auch verstehen, welche Hilflosigkeit sich in dieser Bewegung nach Jahrzehnten der Besatzung ausdrückt. Aber alles Unschöne in dem Kontext als Antisemitismus zu verstehen, wo doch auch ein realer Konflikt und seine nationalistische Deutung auf allen Seiten eine Quelle von Feindschaft ist, ist reduktionistisch.

Durch ihre Vagheit lädt die Definition zu Missbrauch geradezu ein und wo man komplexe Verknüpfungen sehr distinkter Problemdimensionen diskutieren müsste, wird eine fiktionale Eindeutigkeit geschaffen. Aber wer sich zur Begründung von Handeln auf diese Definition bezieht, tut nur so als wäre es kriteriengeleitet.

Europa.blog: Zu welchem Ergebnis kommst du in deinem Gutachten? Was empfiehlst du im Blick auf den Umgang mit der Antisemitismus-Definition des IHRA – insbesondere angesichts der Verantwortung der deutschen Gesellschaft für die Shoa?

Peter Ullrich: Antisemitismus bleibt ein drängendes Problem, und zwar bis hin zum Terror. Wir müssen die Frage also äußerst ernst nehmen. Bei seiner Erfassung und Bekämpfung hilft uns diese Definition aber nicht weiter, auch weil sie falsche Schwerpunkte setzt. Wir brauchen also eine bessere.

Europa.blog: Eine abschließende Frage: Das Antisemitismus noch immer ein Problem ist, ist unbestreitbar. Strittig ist hingegen, was als Antisemitismus zu werten ist und was nicht. Deutlich wird das u.a. in den Diskussionen um die BDS-Boykottbewegung. Der Bundestag hat am 17. Mai 2019 eine Resolution beschlossen, die sich gegen diese Boykottbewegung wendet. Am 18. Oktober 2019 haben mehrere Uno-Sonderberichterstatter einen Brief an den deutschen Außenminister geschrieben, in dem sie diese Resolution kritisieren, weil nach ihrer Auffassung dieser Bundestags-Beschluss “einen besorgniserregenden Trend setzt, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken” (Uno rügt Antisemitismus-Beschluss des Bundestags, Der Spiegel, 25.10.2019). Trotz deiner Anfragen an die Antisemitismus-Definition des IHRA – kann die Definition zur Klärung in diesem Konflikt beitragen, in dem es um die nicht immer ganz scharfe Abgrenzung zwischen Antisemitismus einerseits und aus demokratischer Sicht zulässiger wie aus menschenrechtlicher Perspektive nötigen Kritik am Umgang der israelischen Regierung mit den Palästiner*innen andererseits geht?

Peter Ullrich: Sie kann es ein bisschen, wenn man völlig den Rahmen ihrer bisherigen Anwendungspraxis außer Acht lässt. Schließlich fordert die Definition (außer in der abgespeckten Variante, die die Bundesregierung angenommen hat) immer eine „Beachtung des Gesamtkontexts“. Doch genau das findet meist nicht statt. Es gibt ja Antisemitismus im Nahostkonflikt und bei palästinasolidarischen Kräften oder sogenannten „Israelkritiker*innen“ – aber man braucht klarere Instrumente, um hier konkret unterscheiden zu können.

Europa.blog: Danke für das Interview!

Titelbild: Star of David pride (Canada) by Can Pac Swire CC BY-NC 2.0

The photographer himself commented on his photo (on FlickR) as follows:

Having been born out of the sexuality-liberation movement, the pride parade has always been political and controversial. Grass-root anti-corporate and left-wing groups used to form the bulk of the parade marchers. These days, it’s dominated by groups sponsored by Corporate Canada and Corporate America.

For several years, an “anti-Israeli illegal occupation of Palestine” group called Queers Against Israeli Apartheid participated in the parade, but the Jewish group protested and succeeded in getting the anti-Israeli group banned from the parade. Meanwhile, the Jewish group makes sure they show a strong presence at the parade.

Das Gutachten zum Download [DE + EN]

Das Gutachten steht in einer deutschsprachigen und einer englischsprachigen Version hier zum Download zur Verfügung:

[DE] Peter Ulrich: Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance

[EN] Peter Ulrich: Expert Opinion on the „Working Definition of Antisemitism“ of the International Holocaust Remembrance Alliance

Der Text der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ ist im Anhang des Gutachtens in vollständiger Länge dokumentiert.

Autoreninfo

Peter Ulrich | Foto: privat


Dr. Dr. Peter Ullrich ist Soziologe und Kulturwissenschaftler an der TU Berlin, Ko-Leiter des Bereichs “Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte”  am Zentrum Technik und Gesellschaft sowie Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung. Er forscht zu sozialen Bewegungen, Protesten und Polizei und der Wissenssoziologie des Antisemitismus sowie der Antisemitismusdebatten. Er ist u.a. Autor von “Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus und Erinnerungsdiskurs” (Göttingen, Wallstein 2013) und Koautor von “Antisemitismus als Problem und Symbol” (zus. m. Michael Kohlstruck, Berlin 2015).

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