Beitrag von Peter Scherrer

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Die Sommerpause ist vorüber, das politische Brüssel nimmt die parlamentarische Arbeit wieder auf. Uns als Gewerkschaftsbewegung ist bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai dieses Jahres ein großer Schock erspart geblieben. Das Wahlergebnis blieb deutlich hinter dem zurück, was in den Lagern der demokratischen Parteien und auch der Gewerkschaften befürchtet wurde. Die Gewinne der populistischen und rechtsextremen Parteien bei den Europawahlen sind im Wesentlichen das Ergebnis der “Lega” des Italieners Matteo Salvini, des ” Rassemblement National ” von Marine Le Pen in Frankreich, der Partei “Fidesz” des ungarischen Premierministers Viktor Orban, der Regierungspartei in Polen “Prawo i Sprawiedliwość”. (PiS), der deutschen ” AfD ” und der ” Brexit ” Partei von Nigel Farage in Großbritannien. Derzeit machen die rechtsextremen, populistischen und antieuropäischen Parteien etwa ein Viertel aller Abgeordneten aus. Auf nationaler Ebene war die jüngste vorläufige Erfolgsgeschichte einer rechtsextremen populistischen Partei die deutsche AfD, die im Landtag des Bundeslandes Brandenburg (23,5%) und im Freistaat Sachsen (27,5%) erheblich dazugewonnen hat. Die jüngsten Parlamentswahlen in Österreich waren ein spürbarer Rückschlag für die rechtsextreme FPÖ, aber noch keine einschneidende Niederlage.

Wieder einmal waren die Migrations- und Asylpolitik, die Unterstützung der “vergessenen Regionen”, die Arbeitslosigkeit (insbesondere unter Jugendlichen) und die Angst vor den negativen Auswirkungen der Globalisierung die dominierenden Themen im Wahlkampf. Verlierer der Wahlnächte waren, wie so oft in ganz Europa, die sozialdemokratischen / linken Parteien. Dabei ist zu beobachten, dass deutlich mehr Männer als Frauen ihre Stimme an rechtspopulistische Parteien geben.

Populistische Parteien setzen die Globalisierung mit dem Verlust der nationalen Souveränität (was in den Brexit-Debatten sehr deutlich zu beobachten ist), der Liberalisierung der Wirtschaft und der Deregulierung der Arbeitsbeziehungen gleich. Der Populismus richtet sich insbesondere gegen die “Eliten, die von der Globalisierung profitieren”. Für populistische Parteien finden sich diese Eliten im herrschenden Establishment, in der “Brüsseler Blase”, in den etablierten Parteien, in der Wirtschaftselite, in den “Mainstream-Medien” und auch in den “Unionsbossen” wieder. Populisten präsentieren sich als die Anwälte der “kleinen Leute”.[1] Um diesen Bedrohungen entgegenzuwirken, bieten sie an, sich in die engen Grenzen der Nation zurückzuziehen, was eine Solidarität durch eine vermeintliche nationale Identität garantiere. Fremdenfeindlichkeit und mehr oder weniger offener Rassismus sind der propagandistisch-rhetorische Klebstoff, der die Lösungsansätze miteinander verbindet.

Populisten aller Couleur haben die Europäische Union schon seit langem als gemeinsamen Feind in ganz Europa identifiziert: Sie provoziere und verstärke vermutlich nationale und regionale Nachteile. Die antieuropäischen Gemeinsamkeiten sind bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sehr deutlich zu erkennen. Es wird geltend gemacht, dass die Europäische Union reformiert werden muss. In Wahrheit wollen Populisten jedoch die Union zurück entwickeln und drohen sogar mit einem Austritt. Die Rückführung der grundlegenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Kompetenzen in den Nationalstaat vereint Populisten in ganz Europa. Sie lehnen die grundlegenden EU-Verträge über den Binnenmarkt und die Währung ab.

Bemerkenswert ist, dass der Populismus auch Teile der Mittelschicht beeinflusst. Damit wird deutlich, dass nicht sozialer Niedergang und Verarmung der Treibstoff des Populismus sind, sondern die Angst vor Veränderung und möglichem gesellschaftlichen Abstieg. In vielen Fragen der Wohlstandsverteilung, Infrastruktur und Partizipation spricht die Kritik populistischer Bewegungen zweifellos reale Probleme an.

Die Gewerkschaften müssen die Diskussion über die zukünftige Gestaltung des europäischen Binnenmarkts und der Globalisierung offener und offensiver führen. Wir sehen nicht nur Bedrohungen, sondern auch Chancen. Eine faire und nachhaltige Globalisierung kann zu einer sozial gerechten Steigerung des Wohlstands bei den Handelspartnern und in den Ländern der Europäischen Union führen. Aber dafür brauchen wir einen grundlegenden Politikwechsel. Die Europäische Union und insbesondere das Europäische Parlament als legitimer Vertreter der europäischen Bürger*innen haben die Aufgabe, Regeln für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit festzulegen und deren Durchsetzung in ganz Europa zu fordern.

Das “Wohlstandsversprechen” der Europäischen Union muss für alle gelten, nicht nur für die Starken. Auch in Deutschland müssen wir einsehen, dass es uns nur dann gut geht, wenn es unseren europäischen Nachbarn auch gut geht. Es kann in der Union keine dauerhafte Spaltung zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern geben. Das Projekt ” Verteilungsgerechtigkeit ” muss jetzt, hier und heute beginnen. So müssen beispielsweise Kampagnen wie die EGB-Kampagne “Europa braucht eine Gehaltserhöhung” wieder ins Leben gerufen werden, und zwar mit mehr Entschlossenheit und Unterstützung durch nationale Gewerkschaftsorganisationen als je zuvor.[2] Ein hervorragendes Beispiel auf Branchenebene ist die kürzlich gestartete Kampagne “To together at Work” (“Miteinander bei der Arbeit”) von “industriAll”, dem Dachverband der Gewerkschaften der Fertigungs-/Rohstoffindustrie in Europa.[3]

Der ländliche Raum braucht besondere Aufmerksamkeit und Hilfe. Öffentliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, der Zugang zu Bildung und die Teilnahme an sozialen Entwicklungen müssen allen Bürger*innen offenstehen, unabhängig davon, wo sie wohnen. Ein effizienter und gut funktionierender öffentlicher Dienst ist eine unverzichtbare Säule für eine demokratische Gesellschaft. Die Digitalisierung kann viele Dinge erleichtern. Der Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln muss für alle offen sein. Die Ziele der Regionalpolitik müssen unter breiter Beteiligung der Interessengruppen festgelegt und Maßnahmen rasch umgesetzt werden – und die Umsetzung muss transparent überwacht werden. Dies geht über den Rahmen der traditionellen Regionalpolitik hinaus, denn sie umfasst sowohl die Handlungsfelder als auch die Akteure insgesamt. Die Gewerkschaften müssen ihre regionale Präsenz neu ausrichten und verstärken. Insbesondere in den Regionen müssen die Gewerkschaften an vorderster Front stehen. Dadurch können Gewerkschaften (und die Demokratie im Allgemeinen) eine dauerhafte Glaubwürdigkeit aufbauen.

Da die Gewerkschaftsmitglieder nicht immun gegen fremdenfeindliche und nationalistische Propaganda sind, haben der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und sein Institut (ETUI) kürzlich die Frage untersucht, warum die “Attraktivität” insbesondere rechtspopulistischer Parteien zugenommen hat.[4] Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat kürzlich eine interessante Studie über EU-Gewerkschaftsstrategien veröffentlicht, um der wachsenden Bereitschaft von Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeitnehmern, für Rechtspopulisten und Nationalisten zu stimmen, entgegenzuwirken.[5] Sie betont nachdrücklich, dass die Gewerkschaften aktiver und in direktem Kontakt mit ihren Mitgliedern agieren müssen, hinsichtlich der von populistischen Parteien angewandten Methoden (d.h. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung …), um an Attraktivität zu gewinnen.

Betrachtet man die Strategien und Maßnahmen, die die Gewerkschaften anwenden, um dem Aufstieg der Parteien der Popular Radical Right (PRR) entgegenzuwirken, so sehen wir erhebliche Unterschiede zwischen den Arbeitnehmerorganisationen. Einige konzentrieren sich darauf, der Sozial- und Wirtschaftspolitik populistischer Parteien zu widersprechen, die für die arbeitende Bevölkerung oft äußerst nachteilig ist. Andere folgen der Strategie “Grenzen definieren und Türen öffnen”, was bedeutet, dass es eine definierte rote Linie der “Nicht-Zusammenarbeit” (in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit/Rassismus) gibt, aber gleichzeitig eine offene Tür für diejenigen, die ernsthafte Lösungen für bestehende Probleme fordern. Um bei den Bemühungen, populistische rechtsextreme Parteien zurückzudrängen, effektiv und erfolgreich zu sein, müssen alle Gewerkschaftsebenen vernetzt sein. Für den Betrieb eines solchen Netzwerks sind die europäischen Gewerkschaftsstrukturen von besonderer Bedeutung. Sowohl sektorale als auch sektorübergreifende Organisationen sind gefordert, untereinander und mit ihren jeweiligen Mitgliedern zusammenzuarbeiten. Das Europäische Gewerkschaftsinstitut kann gut recherchierte Informationen liefern und als Organisation eine Diskussionsplattform bieten.

Trotz Social Media ist der persönliche und Face-to-Face Kontakt von größter Bedeutung. Es versteht sich von selbst, dass Gewerkschaften sich gegenüber den Medien, bei öffentlichen Kundgebungen, Demonstrationen und Protesten zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und nationalistischer Politik äußern müssen. Gleichzeitig müssen Gewerkschafter, Organisatoren, Aktivisten und Betriebsräte am Arbeitsplatz, in Unternehmen und Verwaltungen Partei ergreifen gegen die ausgrenzende und menschenverachtende Politik von Rechtspopulisten.

Die Gewerkschaften müssen ihren Standpunkt bezüglich einer fairen und nachhaltigen Globalisierung und einer grundlegenden politischen Reform der Europäischen Union klären. Dies muss Gegenstand der täglichen gewerkschaftlichen Debatten, der Bildung und der Öffentlichkeitsarbeit sein. Es geht nicht nur um die Durchsetzung eines “Sozialen Europas”. Die Gewerkschaften tragen die Verantwortung für einen proaktiven Dialogprozess im Hinblick auf eine erneute Reform Europas und seiner Institutionen. Der 14. Kongress des EGB (im Mai 2019 in Wien) bot eine ausgezeichnete Plattform für die Diskussion über eine strukturelle und grundlegende Reform Europas. Das von der europäischen Gewerkschaftsbewegung angenommene politisch-soziale Manifest (EGB-Manifest 2019-2023) ist eine solide Grundlage für unser politisches Handeln sowohl auf europäischer als auch auf betrieblicher Ebene. Lasst uns Freiheit, Solidarität und Gleichheit für alle Menschen in Europa verwirklichen!

Anmerkungen

[1] See: Philip Manow, in „Die Politische Ökonomie des Populismus“, Edition Suhrkamp, 2018.

[2] https://www.etuc.org/en/campaigns

[3] https://news.industriall-europe.eu/Article/366

[4] Internal Workshops and public conferences serve information and experience exchange, see: https://www.etui.org/News/Back-to-the-future-Trade-unions-need-a-positive-new-narrative-to-win-back-workers-votes

[5] https://www.eesc.europa.eu/en/our-work/publications-other-work/publications/trade-union-strategies-eu-address-trade-union-members-and-workers-growing-propensity-vote-right-wing-populists-and

Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Klute / Deepl.com

Titelbild: Gerrit Burow CC BY 2-0 (das Originalfoto ist farbig)

Peter Scherrer | Foto: © ETUC


Peter Scherrer forscht zum Thema Radikale rechtsextreme Parteien. Er unterstützt den EGB als Experte für den europäischen sozialen Dialog. Zuvor war er Generalsekretär (GS) des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes und stellvertretender GS des EGB. Er ist gelernter Schlosser und studierte Geschichte an der Universität Newcastle-upon-Tyne, in Berlin und an der Universität Bielefeld und schloss sein Studium mit einem M.A. ab.

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