Peter Scherrer ist seit 2015 stellvertretender Vorsitzender des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB / ETUC). In dem folgenden Artikel formuliert er, wie sich aus seiner Sicht die Europäische Union ändern muss und fordert die europäischen Gewerkschaften auf, sich an dem Erneuerungsprozess der EU aktiv zu beteiligen.

Der Beitrag erschien urspünglich unter dem Titel “Rethinking Europe—a challenge for trade unions” am 16. Mai 2019 auf dem englischsprachigen Portal Social Europe.

Dieser Beitrag ist keine offizielle Position des EGB/ETUC, sondern gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.

Beitrag von Peter Scherrer [1]

Kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament debattieren fast 700 Delegierte auf dem 14. Kongress[2] des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) die Zukunft unseres Kontinents. Selbstredend stehen bei den Gewerkschaften die Sozial- und Wirtschaftspolitik im Vordergrund. Der anstehende Kongress wird die Forderungen und Ziele der europäischen Gewerkschaftsbewegung formulieren. Klar ist, dass die Durchsetzung gewerkschaftlicher Ansprüche an die europäische Politik nicht einfacher wird. Die europapolitische Landschaft hat sich fundamental verändert.

Wie sieht diese Landschaft aus? Rechtspopulistische und europafeindliche Parteien sind nicht nur in nationalen Parlamenten vertreten, sie sind Regierungsparteien und damit im EU-Rat vertreten. Es gibt die unbeantwortete Frage nach einer einheitlichen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Es fehlt eine überzeugende und wirkungsvolle europäische Antwort auf die Gefahren des Klimawandels. Die weitere Verfestigung einer Teilung Europas in den „reichen Norden“ und den „armen Süden“ stellt Europa vor eine Zerreißprobe. Und dann ist da noch das wabernde Problem des Brexit. All das lässt anscheinend keinen Raum für eine Frage, auf die wir jedoch schnell eine Antwort brauchen: wie können wir die Europäische Union so reformieren, dass sie besser, transparenter, effizienter und handlungsfähiger wird? Eine gründliche Überarbeitung und Neuausrichtung der Entscheidungsstrukturen, der Finanzierung und der Institutionen ist unausweichlich. Daran müssen sich auch die Gewerkschaften in den kommenden Jahren beteiligen.

Die Gewerkschaften sind gefordert, in der bevorstehenden Legislaturperiode auf mindestens zwei Hauptgleisen ihre Politikvorstellungen mit voller Energie zu entwickeln, einzubringen und zu verteidigen. Erstens müssen sie zu allen Punkten, die Europa sozialer machen, detaillierte Vorschläge erarbeiten. Dazu gehören Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, aktive Tarifpolitik, Arbeitnehmerbeteiligungsrechte, Arbeits- und Gesundheitsschutz und vieles mehr.

Zweitens müssen die Gewerkschaften mit gleicher Energie und Beharrlichkeit einen aktiven Beitrag zum Um- und Ausbau des „Projektes Europa“ leisten. Wollen wir Freiheit, Frieden, Demokratie und eine tolerante Gesellschaft dauerhaft sichern, so müssen wir Europa neu aufstellen. Sollen die Ideale, die europäischen Werte, Realität bleiben – und zurückgewonnen werden, da wo sie schon jetzt unter die Räder gekommen sind – so müssen wir jetzt handeln. Visionen brauchen konkrete Politikvorschläge, um erfahrbar zu werden. Die Gewerkschaften müssen sich an der Reform der Europäischen Institutionen und Strukturen aktiv beteiligen. Das erfordert eine systematische und gut strukturierte interne Debatte aus der eine gemeinsame, verbindliche und überzeugende Stimme der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der europäischen Politikbühne resultieren muss. Mit folgenden Vorschlägen möchte ich den Austausch von Ideen anregen: [3]

  • Nach den Wahlen und der Bestellung der neuen EU Kommission verabreden sich die Mitgliedsstaaten, einen „Konvent“ einzuberufen. Ziel ist die Erarbeitung eines neuen und ambitionierten EU-Vertrags. Der große Wurf, eine europäische Verfassung wäre angezeigt, ist aber wohl nicht durchsetzbar. Aber eine fundamentale Reform des EU- Vertrages ist unverzichtbar.
  • Der neue Vertrag verlagert signifikant Kompetenzen vom Europäischen Rat hin zum Europäischen Parlament (EP). Er sieht eine spürbare Reduzierung der Einstimmigkeitsbeschlüsse auf nur ganz wenige Fälle vor, beispielsweise militärische Interventionen. Werden europäische Regeln und Gesetze verabschiedet, dann müssen die von Europäerinnen und Europäern gewählten Mitglieder des EP das letzte Wort haben – und nicht der Rat. Das EP bekommt das Recht zu Gesetzesinitiativen, und die Europäische Kommission wird direkt durch das Parlament gewählt und kontrolliert.
  • Die Anzahl der EU-Kommissionsmitglieder wird verkleinert. Damit wird die Regel aufgehoben, dass jeder Mitgliedsstaat ein Kommissionsmitglied stellt.
  • Der jetzige „Ausschuss der Regionen“ – bekommt zukünftig eine Doppelfunktion. Er tritt sukzessive an die Stelle des Rates. Nach wie vor befasst er sich mit der Entwicklung der Regionen innerhalb der Mitgliedsländer. Eine zweite Kammer, besetzt durch die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten formuliert deren Ansprüche und Positionen gegenüber dem EP und der Europäischen Kommission.
  • Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) muss grundsätzlich reformiert werden. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, dass der EWSA demnächst zwischen den Mühlsteinen der schwindenden Finanzen und dem stets beschworenen „dringend nötigen Bürokratieabbau“ zerrieben wird. Der EWSA muss ausschließlich ein Gremium der Sozialpartner sein, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Europäische Sozial- und Beschäftigungspolitik müssen grundsätzlich und rechtlich verbindlich im ESWA vorbereitet werden. Die EWSA Mitglieder müssen gewählt werden. Sozialwahlen, wie sie in etlichen EU Mitgliedsländern zur Besetzung von Mandaten in Verwaltungsräten bei Kranken- oder Rentenkassen existieren, könnten hier als Modell dienen. Vorstellbar wäre, dass Mitglieder des EP für den EWSA nominiert werden um gesetzgeberische Initiativen, die das EP auf einem definierten Politikfeld erhält, zusammen mit gewählten Mitgliedern des EWSA vorzubereiten.
  • Die Methode der „Einladung zum Mitmachen“ sollte eingeführt werden. Wenn „Kernländer“ sich auf die Vertiefung von Politiken einigen können (z.B. Sozial-, Fiskal- oder Verteidigungspolitik), so müssen sie dieses auch umsetzen können. Sie schaffen sich gewissermaßen einen „politischen Euroraum“.
  • Dies ist die Voraussetzung für die Schaffung eines Eurobudgets das der Sicherung von Investitionsinitiativen und der EU-Währungsfonds dienen soll. Dieses gemeinsame Budget bedarf verbindlicher Haftungsregeln.
  • Eine „Steuerharmonisierungskommission“ wird gegründet, um sukzessive die großen Unterschiede in der Besteuerung abzubauen. Eine europäische Finanztransaktions- und Digitalsteuer sollten als Erstes realisiert werden. Den Mitgliedsstaaten, die Niedrigsteuern als Geschäftsmodell betreiben, muss der Übergang in eine angeglichene Steuerpolitik wenn nötig durch Ausgleichsmaßnahmen ermöglicht werden.
  • Es bedarf eines „europäischen Länderfinanzausgleiches“ unter den EU-Mitgliedsländern. In allen Ländern soll über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren ein gesetzlich garantiertes Mindestmaß an Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung und Rente gelten. Einige nationale Haushalte müssten also durch EU-Mittel aufgestockt werden – nicht bedingungslos, sondern kontrolliert und an Regeln gebunden.
  • Ein „soziales Fortschrittprotokoll“ kann dabei helfen. Es dient als regelmäßiger Monitor der sozialen Entwicklung. Damit verbunden ist die Erarbeitung länderspezifischer Empfehlungen. Die schrittweise Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bleibt die grundlegende Motivation für die Weiterentwicklung Europas. Europäische Kohäsion ist immer noch das Ziel der europäischen Gemeinschaft. Es ist die gelebte Solidarität der Regionen innerhalb der Europäischen Union.
  • Frieden schaffen ohne Waffen funktioniert offenbar nicht. Es bedarf des Aufbaus einer europäischen Armee. In den kommenden Jahren sollten „gemischte“ Einheiten geschaffen werden. Einsätze werden gemeinsam im zu schaffenden „Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ abgestimmt. Wehrtechnik wird gemeinschaftlich, mit gleichen Standards, produziert, wie beispielsweise der Eurofighter. Gleichzeitig sollten aktiv Abrüstungsinitiativen initiiert und beharrlich verfolgt werden. Ziel ist es, dass die Europäische Union gemeinsam Verantwortung für die Sicherheit aller Europäer und Europäerinnen übernimmt. Dies gilt ebenso für die Abwehr von Terrorangriffen.
  • Ein „Rat für nachhaltige Industrieproduktion“ unter Beteiligung von Regierungsmitgliedern, Sozialpartnern (hier eher Industrieverbände als Arbeitgeberverbände) und Innovations- und Wissenschaftszentren der Industrienationen sollte rasch ins Werk gesetzt werden. Dieser Rat sollte durch einen(n) europäischen Wirtschaftskommissar/in koordiniert werden. Ziel sind verbindliche Absprachen für eine europäische Industriepolitik.
  • Erfolgreiche Innovationspolitik braucht kluge Köpfe. Bildung, Wissenschaft und Forschung müssen als Gemeinschaftsaufgabe die Stärken der Regionen weiter fördern und werden so den Wirtschaftsstandort Europa global wettbewerbsfähig halten.

Wollen die europäischen Gewerkschaften aktiv eine neue Europäische Union gestalten so sind sie gefordert rasch ihre Positionen zu debattieren, zu entwickeln und zu verteidigen. Wollen wir uns nur wie ein Korken von der Strömung treiben lassen oder wollen wir selbst Teil der Strömung sein? Die Zukunft Europas allein der Politik zu überlassen ist keine Option!

Anmerkungen

[1] Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und stellt keine Position des Europäischen Gewerkschaftsbundes dar.

[2] 14. EGB Kongress vom 21.-24. Mai 2019 in Wien, siehe www.etuc.org

[3] Ein ausführlicherer Beitrag zur Zukunft Europas findet sich im gerade erschienen Band „Jetzt für ein besseres Europa!“ Peter Scherrer, Juliane Bir, Wolfgang Kowalsky, Reinhard Kuhlmann und Matthieu Méaulle, Brüssel 2019, ETUI, www.etui.org

Titelfoto: European Parliament (Brussels), by NLanja CC BY-NC 2.0

Peter Scherrer | Foto: © ETUC

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