Der folgende Text ist eine nachträglich Verschriftlichung eines Vortrages vor der Bundesarbeitsgemeinschaft der Partei DIE LINKE Konkrete Demokratie – Soziale Befreiung vom 5. Januar 2019 in Erfurt.

Beitrag von Jürgen Klute

Die Europäische Union (EU) ist kritikwürdig. Insbesondere im Blick auf die Krisenpolitik seit etwa 2010 lässt sich viel Kritisches zur EU sagen und die Reformbedarfe vor allem im Bereich der Sozial- und Steuerpolitik sind unübersehbar.

Dennoch sollte gerade eine linke Partei die EU nicht pauschal verurteilen, sondern sie als ein politische Projekt ernst nehmen, dass auf eine Konfliktlösung ohne militärische Mittel setzt. Denn Die Linke setzt sich in ihrem Grundsatzprogramm für eine Welt ein, in der man ohne Waffen zu friedlichen Lösung von Konflikten und Interessengegensätzen kommt. Dazu sind aber politische Institutionen erforderlich, die ein Aushandeln von Konflikten und Interessengegensätzen auf demokratischem, politisch-diplomatischem Wege ermöglichen. Die EU stellt einen politisch-institutionellen Rahmen dar, in dem genau das möglich ist. Nach innen hin hat die EU dieses Versprechen bisher eingelöst.

Dass es außerhalb der EU weiterhin Kriege gibt, an denen auch EU-Mitgliedsstaaten im Verbund mit der NATO beteiligt sind, ist wahr und gehört scharf kritisiert. Aber das ist kein Argument gegen den politisch-institutionellen Rahmen der EU, der innerhalb der Mitgliedsländer den Rahmen für nicht-militärische Konfliktlösungen geschaffen hat. Am Brexit und dessen Auswirkungen auf Nordirland und teils auch Gibraltar wird die Bedeutung dieses politisch-institutionellen Rahmens greifbar und anschaulich: Die Konflikte, die mit den genannten Gebieten verknüpft sind, wurden zwischen Großbritannien und Republik Irland bzw. Spanien während der britischen EU-Mitgliedschaft durch Verhandlungen im Rahmen der drei EU-Institutionen Parlament, Rat und Kommission sowie dem Europäischen Gerichtshof friedlich gelöst und die Ergebnisse wurden von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt. Da Großbritannien mit dem Brexit diesen politischen-institutionellen Rahmen verlässt, wird sich noch zeigen müssen, wie zukünftig ohne diesen Rahmen Konfliktlösungen funktionieren können und werden.

Die Linke sollte darauf hinarbeiten, diesen politisch-institutionellen Rahmen zu stärken und so auszubauen, dass er auch auf internationaler Ebene stärker als bisher für politisch-diplomatische Konfliktlösungen wirksam werden kann. Denn ebensowenig wie Kriege vom Himmel fallen, sondern menschengemacht sind, fällt auch kein Frieden vom Himmel, sondern er erfordert kluges und engagiertes politisches Handeln und entsprechende institutionelle Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen.

Ein starkes friedenspolitisches Engagement ist um so wichtiger, als seit seit geraumer Zeit eine Diskussion über eine europäische Armee läuft. Diese Debatte wäre von linker Seite zu konfrontieren mit dem Selbstanspruch der EU, Konflikte und Interessengegensätze nicht militärisch, sondern durch parlamentarische Aushandlungsprozesse zu lösen und mit dem bisherigen Erfolg dieses Ansatzes im Inneren. Daraus wäre eine logische Konsequenz, auf eine Militarisierung der EU zu verzichten und die diplomatischen Institutionen, über die die EU verfügt, auszubauen und mit den nötigen Ressourcen für ein stärkeres globales ziviles Konfliktmanagement auszustatten.

Allerdings würde das eine (selbst)kritische Auseinandersetzung der Linken mit dem Konzept des staatlichen Gewaltmonopols erfordern. Dieses auf dem Westfälischen Frieden von 1648 basierende Staatskonzept verpflichtet Bürger*innen zum Verzicht auf den Besitz und das Tragen von Waffen. Im Gegenzug ist der Staat als einzig legitimer Inhaber des Gewaltmonopols verpflichtet, für die innere und äußere Sicherheit der Bürger*innen Sorge zu tragen.

Die Herausforderung für Die Linke besteht darin, Wähler*innen davon zu überzeugen, dass die Gewährleistung der äußeren Sicherheit ohne Militärische Instrumente möglich ist. Andernfalls würde das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen werden, was einer (Teil)Privatisierung des Gewaltmonopols gleichkäme.

Angesichts dessen, dass die EU im wesentlichen von Küsten umgeben ist und lange Landgrenzen nur zu Russland und zur Ukraine bestehen, sollte es möglich sein, Bürger*innen davon zu überzeugen, dass die äußere Sicherheit der EU auch ohne Armeen gewährleistet werden kann. Für die Sicherheit an den Küsten reicht ein Küstenschutz aus. Eine Sicherung der Grenzen zu Russland und der Ukraine ist der inneren Logik der EU folgend durch eine vertragliche Regelung mit den beiden Ländern im Sinne der klassischen EU-Nachbarschaftspolitik erreichbar. Für den Schutz vor grenzüberschreitender Kriminalität reicht eine personell gut ausgestattete Grenzschutzpolizei aus.

Angesichts des seit längerem angespannten Verhältnisses zu Russland ist das zwar nicht von heute auf morgen zu leisten. Aber für eine Rückkehr zu einer diplomatischen Konfliktregulierung ist es keineswegs zu spät. Das setzt allerdings auch einige diplomatische Aktivitäten innerhalb der EU vor allem mit den baltischen Ländern und Polen voraus. Aus historischen Gründen betrachten diese Länder die EU vor allem als – ein durchaus auch militärisches – Schutzschild gegenüber Russland. Diese Länder wären davon zu überzeugen, dass ein nachhaltiger Schutz nicht durch Panzerbataillone zu erreichen ist, sondern durch vertraglich und politisch-institutionell abgesicherte Partnerschaften.

Dazu könnte es nützlich sein, sich die gegenüber Westeuropa deutlich andere Kriegsgeschichte in Mittel- und Osteuropa anzuschauen. Die sechs westeuropäischen Gründungsländer der EU (die drei Benelux-Länder, Deutschland, Frankreich, Italien) hatten eine überwiegend gemeinsame Konfliktgeschichte, die sich vor allem auf den 1. und 2. Weltkrieg bezieht. Das spiegelt sich wieder in Straßburg als offiziellem Sitz des Europäischen Parlaments und Brüssel als Sitze von Rat und Kommission (und Zweitsitz des Europäischen Parlaments) und Luxemburg als Sitz des Generalsekretariats des EP. Die Konflikt- und Kriegsgeschichte Mittel-, Ost- und Südeuropas spiegelt sich im „Setting“ dieser Institutionen allerdings nicht wider. Das legitimierende Narrativ der EU ist aber nie um diese anderen historischen Dimensionen mittel-, ost- und südeuropäischer Mitgliedsländer ergänzt worden. Das erweist sich in der gegenwärtigen Krise der EU als problematisch.

Zu dem ist es nötig, den in immer mehr EU-Mitgliedsstaaten aufsteigenden Nationalismus (der auch mit der unterschiedlichen Geschichte Mittel- und Osteuropas verknüpft ist) zu bekämpfen. Denn letztlich ist er die größte Gefahr für den inneren Frieden in Europa bzw. der EU. Eine Bekämpfung des Nationalismus und der ihn puschenden rechten Parteien erfordert allerdings auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle Deutschlands in der EU-Krisenpolitik und mit der von der Bundesregierung EU-weit durchgesetzten Austeritätspolitik. Dieses Thema kann und soll hier nicht vertieft werden, es ist allerdings eng mit dem Friedensthema verbunden.

Zu einer kritischen Reflexion der Rolle der Bundesrepublik bzw. der Bundesregierung innerhalb der EU gehört auch die ökonomische Stärke der Bundesrepublik (Stichwort: Exportüberschüsse) und die daraus resultierende erneute Dominanzrolle Deutschlands in der EU. Innerhalb Deutschlands wird das kaum zur Kenntnis genommen und reflektiert – auch nicht in der Linken und in der Friedensbewegung. In den Nachbarländern ist – vor allem 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg – die Wahrnehmung für diese Entwicklung nach wie vor geschärft.

Man schaue nur in das Septemberprogramm des damaligen Reichskanzler Theobald Bethmann Hollweg vom 14. September 1914. Dort beschreibt er die wirtschaftspolitischen Kriegsziele des Deutschen Reiches (mehr dazu: J. Klute: Vom katastrophalen Scheitern der Nationalstaaten zur Europäischen Republik – Vor 100 Jahren endete der 1. Weltkrieg). Manches davon erinnert fatal an die heutige wirtschaftliche Dominanz Deutschland in der EU. Nur dass die heutige Dominanz auf wirtschaftlichem und nicht auf militärischem Wege erreicht wurde.

Eine solche Dominanz zu verhindern oder zumindest einzuhegen, war und ist ein Ziel der EU (bzw. ihrer Vorläuferorganisationen) als auch des Euros als gemeinsamer Währung.

Und selbst die NATO dient zumindest zum Teil diesem Ziel, das von ihrem ersten Generalsekretär Lord Ismay mit der knappen Formel „Keep the Soviets out [of Europe], the Americans in and the Germans Down“ umrissen wurde (vgl. dazu: “Die Nato in den Sechzigerjahren: Angst vor den Deutschen”, Der Spiegel, 05.01.2019). Eine nach zwei furchtbaren von deutscher Seite vom Zaun gebrochenen Kriegen nachvollziehbare Position.

Wer also die NATO abschaffen will – eine durchaus begründbare Position – muss dann allerdings auch eine Antwort auf die Frage geben, wie dieses Ziel – „keep the Germans down“ – dann sichergestellt werden soll, dass in Deutschland nicht erneut ein ganz Europa bedrohender Militarismus aufblüht. Angesichts der Tatsache, dass eine faschistische und nationalistische Partei wie die AfD sich in allen Landtagen und im Bundestag etablieren konnte, halte ich das keineswegs für eine rhetorische Floskel.

Abgesehen davon, dass diejenigen, die vorhandene politische Strukturen nur abschaffen wollen, bisher eine Antwort schuldig geblieben sind, wie denn dann das entstehende politische Machtvakuum so gefüllt werden kann, dass es nicht zu chaotischen Gewaltverhältnissen kommt. Ein Blick in die Geschichte – auch in die jüngere und jüngste – zeigt, dass ein politisches Machtvakuum immer mit hohen Risiken verbunden ist. Ich votiere hier nicht dafür, dass alles bleiben soll wie es ist. Ich votiere allerdings dafür, dass eine Partei, die sich als Friedenspartei definiert, sich Gedanken macht über die friedenspolitischen Konsequenzen ihrer Forderungen. Sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit.

Zu den in der Linken ungeklärten und in der Tat nur schwer zu beantwortenden Fragen gehört weiterhin die Frage, wie in bestimmten Situationen mit Gewalt umzugehen ist. Ich meine damit z.B. die Situation der Kurden in der Türkei und in Nordsyrien und die der Yesiden während der Angriffe durch den IS. Ich sehe nicht, dass es auf diese Frage eine abschließende Antwort gibt. Sie muss m.E. jeweils neu in der konkreten Situation gefunden werden. Wie auch immer eine Antwort aussieht, muss sie auf eine möglichst schnelle Beendigung von bewaffneten Konflikten zielen und zu politischen Konfliktlösungen überleiten. Aber auch dazu ist eine funktionierende politische Handlungsebene erforderlich die oberhalb der Ebene von Nationalstaaten liegen muss, wenn sie Wirksamkeit entfalten soll. Gerade hier könnte die EU mit ihrer Erfahrung in ziviler Konfliktlösung auch außerhalb ihres Territoriums zur Entschärfung von Konflikten beitragen. Auch deshalb ist eine strake Linke auf EU-Ebene wichtig.

Exkurs: Die Rolle der Berliner Sparpolitik in diesem Konflikt

Dass nationale Außenpolitik hier wenig ausrichten kann und kaum in der Lage ist, über die unmittelbaren Eigeninteressen hinauszublicken, will ich hier kurz anhand des von Merkel mit Erdogan ausgehandelten Flüchtling-Deals nachzeichnen. Die Türkei hatte bereits 2012 die EU um finanzielle Unterstützung für die bereits damals aus Syrien kommenden Flüchtlinge bemüht. Aufgrund der von Berlin durchgesetzten Sparpolitik auf EU-Ebene sind die wiederholt vorgetragenen Unterstützungsbitten der Türkei stets abgelehnt worden. 2014 stieg die Zahl der Flüchtlinge massiv an, aber die Zahlungen an das Welternährungsprogramm der UN, aus dem Flüchtlinge unterstützt werden, wurde nicht aufgestockt infolge der Sparpolitik. 2015 wurden die Zahlungen der EU-Mitgliedsländer drastisch gekürzt. Erst die dadurch ausgelöste Not in den Flüchtlingslagern hat die Flüchtlinge nach Europa getrieben.

Umgekehrt hat die steigende Zahl der Flüchtlinge rechte Populisten in Europa befeuert. Mit der Folge, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den bekannten Flüchtlingsdeal mit Erdoğan ausgehandelt hat. Offenbar hat der diese Situation der Schwäche, in die die Berliner Sparpolitik die gesamte EU getrieben hat, dazu genutzt, sich von der Bundesregierung zusichern zu lassen, dass man sich aus Erdoğans mörderischer Kurdenpolitik heraushält bzw. die Türkei sogar Waffenlieferung unterstützt – ohne jede Sensibilität für die möglichen Folgen.

Der mittlerweile inhaftierte kurdische Fraktionsvorsitzende der HDP im türkischen Parlament, Selahattin Demirtaş war vor seiner Verhaftung mehrfach in Berlin und auch in anderen europäischen Hauptstädten und hat dort den verantwortlichen Politikern – in Berlin Steinmeier und Gabriel – die Lage in der Türkei erläuterte und um Unterstützung für die Fortsetzung des Friedensprozess gebeten. Das Ergebnis ist bekannt.

Ohne die von Berlin durchgesetzte Sparpolitik der EU hätte es einen anderen Verlauf der Entwicklung geben können. Denn dann hätte die EU die Türkei ab 2012 bei der Versorgung der Flüchtlinge aus Syrien unterstützt können. Die Türkei hatte in 2012 rund 100.000, heute aber zwischen 2 und 3 Millionen Flüchtlinge. Eine materielle Unterstützung wäre eine Entlastung für die Türkei gewesen. Eine finanzielle Unterstützung hätte durchaus auch an eine Verstetigung des Friedensprozesses mit den Kurden geknüpft werden können.

Der Preis, der für diese politischen Fehler, die eine ihrer wesentlichen Wurzeln in der Berliner Sparpolitik haben, ist hoch. Die Kurden, die Menschen im Mittleren Osten bezahlen mit ihrer Zukunft. Und der politische Preis, den die EU und viele der Mitgliedsländer heute zahlen müssen, ist bei weitem höher als eine finanzielle Unterstützung, die 2012 für die Türkei nötig gewesen wäre.

[Ende des Exkurses]

Angesichts der erneuten wirtschaftlichen und politischen Dominanz Deutschlands schauen die Nachbarländer um so genauer auf die Entwicklungen der Bundesrepublik. Als diese Entwicklung die öffentliche Debatte erreichte – etwas 2012/2013 – haben Merkel und Gauck die neue Rolle Deutschland sofort mit der Bundeswehr in Verbindung gebracht und nach deren Funktionsfähigkeit angesichts dieser Rolle gefragt. Weder Die Linke noch die Friedensbewegung hat dem vernehmlich widersprochen und eine zivile Ausgestaltung der neuen Rolle der Bundesrepublik auf europäische und globaler Ebene eingefordert. Ich halte das für einen schwerwiegenden Fehler. Hier wäre ein massiver Druck seitens der Friedensbewegung und der Linken nötig gewesen, den Fokus auf zivile Konfliktlösungsstrategien zu lenken und auf den Sinn der EU als politisch-institutioneller Rahmen für eine nicht-militärische Konfliktregulierung zu verweisen und dessen Ausbau einzufordern.

Ich möchte an dieser Stelle noch auf eine andere Entwicklung verweisen, die in der politischen Debatte bisher kaum angekommen ist. Dazu ein Zitat aus dem Wiener Standard vom 4. Januar 2019 (Politologin Kaldor: “Es ist die Atmosphäre, in der ‘Neue Kriege’ entstehen”):

„Mary Kaldor gilt als die Mutter der “Neuen Kriege”. Die britische Politikwissenschafterin beobachtete in den 1990er-Jahren im zerfallenden Jugoslawien, Bergkarabach und im Ostkongo eine Form von Konflikten, die sich klar von jenen des Kalten Krieges unterschieden: Statt nationaler Armeen kämpften staatliche und nichtstaatliche Akteure gegeneineinander und gegen die Regierung. Gesteuert wurden sie nicht von Generälen, sondern von Warlords, die nicht für den Staat, sondern auf eigene Rechnung arbeiteten – weil sie finanziell von der Kriegswirtschaft profitieren. In der Politikwissenschaft ist das Konzept verbreitet, Politiker werden damit vertraut gemacht. In der breiteren Diskussion kommt es trotzdem kaum vor.“

Seit dem Westfälischen Frieden hat sich ein Konzept durchgesetzt, das klar zwischen Krieg und Frieden unterscheidet und Krieg und Frieden in rechtliche Formen gegossen hat. Um einen Krieg zu beginnen, bedarf es bestimmter rechtlicher Schritte in Form einer Kriegserklärung. Ebenso wird der Krieg durch einen Friedensvertrag beendet. Mary Kaldor verweist in dem Interview im Standard darauf, dass diese klare Unterscheidung von Krieg und Frieden sich immer mehr auflöst.

Herfried Münkler hat in der Dezemberausgabe 2018 der Blätter für deutsche und Internationale Politik unter dem Titel „Kein Frieden ohne Gewaltmonopol. Syrien, Chemnitz und die Aktualität des Dreißigjährigen Krieges“ ähnliche Entwicklungen beschrieben. Er spricht von „hybriden Kriegen“, die keine klare Trennung von Krieg und Frieden mehr zulassen.

Bereits am 1. Februar 2017 hat der belgische Historiker David Engels in einem Interview in der deutschen Ausgabe der Huffington Post die These vertreten: “Wir haben keine Chance, einen Bürgerkrieg zu vermeiden”. Damit meint er folgendes:
„Ich glaube allerdings nicht an einen Krieg bewaffneter Bürgerlegionen, dafür ist unsere Politik zu wenig militarisiert. Ich rechne aber mit Vorstädten, die der staatlichen Kontrolle entgleiten. Mit Landstrichen, die von paramilitärischen, ethnischen oder religiösen Gruppen beherrscht werden. Mit überhand nehmender Kriminalität. Mit wirtschaftlichem Bankrott und völligem politischen Immobilismus. Die Bürger Europas werden sich dann mit Freuden dem ersten in die Arme werfen, der dem Kontinent einen funktionierenden Sozialstaat, Ruhe und Ordnung schenkt.“

In einigen Dörfern Ostdeutschlands, in denen kaum noch staatliche Institutionen bzw. Repräsentanten des staatlichen Machtmonopols präsent sind, zeigen sich Entwicklungen, die man in diesem Sinne interpretieren kann: so z.B. Dörfer, die von Rechten dominiert werden und in denen sich Bürger*innen kaum noch trauen, diese Entwicklungen öffentlich zu kritisieren, weil sie sich von rechten Terroristen bedroht fühlen.

Ich kann und will an dieser Stelle nicht tiefer auf diese Überlegungen von Kaldor, Münkler und Engels eingehen sondern kann nur empfehlen, sich die genannten Texte einfach mal genauer anzuschauen und zu fragen, welche Konsequenzen aus den dort beobachteten und kommentierten Entwicklungen aus friedenspolitischer Sicht zu ziehen sind und was das im Blick auf die EU und ihre Zukunft bedeutet.

Aus meiner Sicht gilt auch hier, dass einzelne Staaten kaum in der Lage sind, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen. Das wird nur auf EU-Ebene gelingen. Aber wahr is tauch: Ohne tiefgreifende Reformen der EU wird sie keine diesen Entwicklungen angemessene Antworten finden.

Aus meiner Sicht ist es für Die Linke von zentraler Bedeutung, ihr Verhältnis zur EU zu klären und in der EU nicht die Ursache aller (sozial)politischen Übel zu sehen. Die EU enthält nach wie vor ausreichend Potentiale für eine Politik, die an Frieden, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Ob diese Potentiale zur Entfaltung kommen, hängt letztlich davon ab, wer die Politik auf EU-Ebene bestimmt. Die Linke muss deshalb um die EU kämpfen und darf sie nicht den Rechten und den Nationalisten überlassen. Denn auch ohne die EU gibt es weiterhin den Kapitalismus und auch den Neoliberalismus und auch die NATO und die Kriegstreiber in den EU-Mitgliedsstaaten. Die EU ist aber eine politische Handlungsebene, auf der diesen Entwicklungen etwas entgegen gesetzt werden kann und auf der vor allem eine friedensorientierte Politik für Europa möglich und durchsetzbar ist, wie die letzten 70 Jahre zeigen.

Darum muss Die Linke kämpfen: sowohl in den Mitgliedsländern der EU als auch auf EU-Ebene! Und es reicht nicht nur nicht aus, nur auf die Notwendigkeit einer Überwindung des Kapitalismus zu verweisen, um Kriege zu beenden. Denn diese Haltung ist auch historisch unsinnig. Der Kapitalismus hat ohne Zweifel seine spezifischen Kriegsursachen, er ist aber nicht die Kriegsursache schlechthin. Kriege gab es schon in der Antike und in noch früheren Zeiten, in denen der Kapitalismus noch ein unbekanntes Phänomen war.

Da Europa mehr als einmal den Rest der Welt mit in Krieg, Chaos und Elend gezogen hat, ist es nicht unerheblich, wenn innerhalb Europas Krieg kein Mittel der Politik mehr ist. Das hat nichts mit einer Glorifizierung der EU zu tun. Die ist ebenso unsinnig wie eine Verteufelung der EU. Es geht um eine nüchterne Sachpolitik, die auf Frieden, soziale Gerechtigkeit und nachhaltiges Wirtschaften ausgerichtet ist. Keines dieser Ziele kann auf nationalstaatlicher Ebene oder gar unter dem Vorzeichen eines Nationalismus erreicht werden.

Titelbild: At The Darkest Point | Foto: Jeremy Brooks CC BY-NC 2.0

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