Christoph Gille hat unter dem Titel „Junge Erwerbslose in Spanien und Deutschland. Alltag und Handlungsfähigkeit in wohlfahrtskapitalistischen Regimen“ eine Forschungsarbeit veröffentlicht, in der die Situation junger Erwerbsarbeitloser in Spanien und Deutschland untersucht und verglichen wird. In dem folgenden Interview stellt Christoph Gille die zentralen Ergebnisse seiner Untersuchung vor.
Das Buch ist u.a. hier erhältlich: https://www.springer.com/de/book/9783658244613
Interview von Jürgen Klute
Europa.blog: Herr Gille, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Dissertation ausführlich mit jungen arbeitslosen Menschen in Spanien und in Deutschland befasst. Was hat Sie zu dieser Untersuchung motiviert?
Christoph Gille: Es gab wohl zwei Gründe dafür. Der erste lag im Kontext: Meine Dissertation ist im Rahmen eines Forschungskollegs entstanden, in dem wir uns mit unterschiedlichen Feldern gegenwärtiger Veränderungen des Sozialstaates beschäftigt haben. In 2014, zu Beginn des Kollegs, hatte die Finanzkrise ihre volle Wirkung am Arbeitsmarkt entfaltet. Insbesondere in Südeuropa spitzte sich die Situation dramatisch zu. In Spanien, Griechenland und Kroatien betrugen die Jugendarbeitslosigkeitsquoten zum Teil weit über 50 Prozent, in Italien und Portugal lagen sie bei rund 40 Prozent. Gleichzeitig wurde in dieser verheerenden Situation kein sozialstaatlicher Ausgleich gewährt. Im Gegenteil: durch die auferlegte Sparpolitik wurden soziale Rechte ab- statt aufgebaut. In dieser für viele Menschen krisenhaften Situation lag es nahe, den Wandel des Sozialstaats am Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit zu untersuchen.
Der andere Grund lag wohl in meiner eigenen Berufsbiografie. Als Sozialarbeiter hatte ich jahrelang mit jungen Menschen gearbeitet, die in der Sexarbeit ihr Geld verdienten. Es wurde mir sehr deutlich, wie sehr die sozialen Gefüge, in denen Menschen leben, bestimmen, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben oder eben auch nicht haben. In der Sexarbeit landet man häufig, weil es die beste von noch schlechteren Möglichkeiten ist. Und wer aus der Sexarbeit aussteigt, tut das meistens, weil sich eine bessere Möglichkeit auftut, das eigene Leben zu gestalten. Sozialstaatliche Regelungen spielen für beides eine ganz wichtige Rolle: Habe ich einen Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt? Erhalte ich eine Grundsicherung, wenn ich aussteige? Ist mein Leben in meinen sozialen Beziehungen geschützt oder bedroht? Und auch kulturelle Normen sind bedeutsam: Wird meine Sexualität und meine Form von Geschlecht akzeptiert? Kann ich mit dem, was ich tue, meinen sozialen Verpflichtungen nachkommen und so Anerkennung gewinnen? Was mir dadurch deutlich geworden ist: Handlungsfähigkeit ist den Individuen nicht einfach gegeben. Stattdessen sind es die sozialen Situationen, die wesentlich mit strukturieren, wer welche Möglichkeiten des Handelns hat. Das gilt nicht nur aber eben auch für die Situation der Arbeitslosigkeit – das war eine der Ausgangsannahmen für meine Forschung.
Europa.blog: Ihre Arbeit umfasst knapp 500 Buchseiten. Können Sie mit ein paar Sätzen skizzieren, was genau ihre Fragestellung war, was Sie untersucht haben? Was wollten Sie genau herausfinden?
Christoph Gille: In der klassischen Sozialpolitik-Forschung gibt es einen ganzen Zweig, der Sozialstaaten untersucht und als „vergleichende Wohlfahrtsstaatenforschung“ bezeichnet wird, häufig auch einfach als „Regimeforschung“. Meistens wird dort mit Makrodaten gearbeitet: Man schaut, wer in welchem Staat auf welche Geld- und Sachleistung einen Anspruch hat und wer welche Leistungen oder welche soziale Infrastruktur auch konkret in Anspruch nimmt. Darüber versucht man dann Merkmale von Sozialstaaten zu bestimmen.
In meiner Forschung wollte ich die Perspektive umdrehen, und nicht von oben, sondern von unten auf die Sozialstaaten blicken. Wie gestaltet sich der Sozialstaat aus der Perspektive der Subjekte und wie gestaltet er sich durch sie? Mit welcher Bedeutung belegen die Menschen das wohlfahrtskapitalistische Gefüge und wie bringen sie es dadurch hervor? Über diese Perspektive habe ich versucht, die Sozialstaaten aus einer akteursbezogenen Position heraus zu bestimmen. Dabei kommt man zu interessanten Antworten, die sich auch häufig den dominanten politischen Rationalisierungen entziehen. Wenn man stattdessen die sozialstaatlichen Programmatiken zum Ausgangspunkt nimmt, bekommt man das so nicht eingefangen.
Eine zweite Frage richtete sich auf das Leben in den verschiedenen wohlfahrtskapitalistischen Gefügen selbst: Wie stellen die jungen Erwerblosen in ihren unterschiedlichen Kontexten Handlungsfähigkeit her? Was tun Sie in einer Situation, in der Ihnen durch die Arbeitslosigkeit wesentliche Zugänge zu Ressourcen – sowohl materieller wie symbolischer Art – verwehrt sind, um sich als selbstbewusste und selbstwirksame Subjekte zu konstituieren? Als Antwort darauf zeigte sich ganz deutlich – wie auch schon eine Forschungsgruppe um Heinz Steinert und Arno Pilgram zu Beginn der 2000er eindrucksvoll belegt hatte –, dass junge Menschen auch in der Situation der Arbeitslosigkeit tätige Gestalter*innen ihres eigenen Lebens bleiben. Ein wichtiges Argument gegen die Stigmatisierung als „faul“ oder „untätig“, die Arbeitslose häufig erfahren.
Europa.blog: Der Untersuchungszeitraum Ihrer Arbeit umfasst die Jahre der EU-Krise, die unter dem Vorzeichen massiver Sparprogramme stand, die nicht zuletzt von der deutschen Bundesregierung forciert wurden. Gleichwohl war die Situation in Spanien ungleich dramatischer als in Deutschland. Erschweren diese Unterschiede nicht einen Vergleich zwischen Spanien und Deutschland?
Christoph Gille: Eher nein. Zum einen braucht man für den Vergleich von verschiedenen Staaten Kontraste, um Charakteristika herauszuarbeiten. Über die Unterschiede wird sichtbar, was im Alltag häufig als selbstverständlich wahrgenommen wird. Über den Kontrast wird dann wieder deutlich, dass der Alltag sozial gestaltet und nicht einfach gegeben ist. Und die beiden Länder Deutschland und Spanien unterscheiden sich ja nicht nur durch große Unterschiede in den Erwerbstätigen- und Arbeitslosenzahlen. Sie unterscheiden sich auch mit Blick auf die sozialstaatlichen Instrumente, die zum Einsatz kommen, und auch durch die Denkweisen, die mit ihnen verbunden sind.
Zum anderen hängen die unterschiedlichen Situationen der beiden Länder aber auch sehr eng zusammen und gerade das ist interessant zu betrachten. Die geringe Arbeitslosigkeit in Deutschland kann nicht ohne die hohe Bedeutung der Industrie und des Exports für die Volkswirtschaft verstanden werden. Der volkswirtschaftliche Überschuss der deutschen Ökonomie wird in anderen Ländern erwirtschaftet und zu nicht unwesentlichen Teilen auf dem europäischen Binnenmarkt. Wenn hier also die Wirtschaft gut läuft, kann man auch fragen: auf wessen Kosten eigentlich?
Und auch die Erwerbsarbeitskrise in Spanien ist eng mit deutschen Interessen verflochten: In den Jahren vor der Krise war in Spanien ein investitionsgesteuerter Immobilienboom entstanden, der auch durch deutsche Anlagen angetrieben wurde. Mit dem Eintritt in die Eurozone erschien es sicher, in Spanien zu investieren. In der Folge entstanden sehr viele Arbeitsplätze für den Bau von Immobilien, die nie genutzt werden sollten. Nach dem Einsetzen der Finanzkrise wurden sie alle wieder vernichtet. 1,6 Millionen Arbeitsplätze wurden nach 2008 im spanische Bausektor zerstört, das sind 60 Prozent des gesamten Sektors! Die Banken dagegen, die diese Dynamik ermöglicht hatten, wurden sowohl in Spanien als auch in Deutschland mit staatlichen Garantien gerettet. Einfach von den Unterschieden zu sprechen unterschlägt also, dass hinter den Unterschieden eine transnationale Dynamik liegt, die durch das gemeinsame Gefüge des europäischen Binnenmarktes und der Währungsunion ausgelöst wird und an unterschiedlichen Orten ganz unterschiedliche Wirkungen zeigt.
Europa.blog: Und was sind dann die deutlichsten Unterschiede zwischen den Regimen, in denen die jungen Arbeitslosen in Deutschland und Spanien leben?
Christoph Gille: Es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden, die deutlich werden. Aber ich möchte Ihnen zunächst nur ein Beispiel nennen. In Spanien fällt aus der akteursbezogenen Perspektive zuerst die völlige Abwesenheit des spanischen Wohlfahrtsstaates auf. Er kommt schlicht nicht vor. Niemand berichtet von den staatlichen Akteuren, z.B. den lokalen Arbeitsbehörden oder Sozialdiensten. Besonders auffällig wird es, wenn dann doch mal der eine oder die andere junge Erwerbslose in ein sozialstaatliches Programm gerät. Einer der jungen Spanier erzählt zum Beispiel, dass er sich vor kurzem für einen Job beworben habe, er nach dem Bewerbungsgespräch genommen wurde und jetzt dort arbeite. In dieser Darstellung kommt nicht zur Sprache, dass es sich bei der Beschäftigung um ein sechsmonatiges arbeitsmarktpolitisches Programm handelt, das berufliche Kompetenzen stärken soll und mit dem eine Entlohnung von etwa 150 Euro im Monat verbunden ist. Die „Arbeit“ besteht aus einem Trainingsprogramm bei der Kommune, es handelt sich nicht um Erwerbsarbeit. Ähnliche Darstellungen findet man auch bei vielen anderen jungen Erwerbslosen, an denen man die Abwesenheit staatlicher Absicherung erkennen kann.
In Deutschland dagegen wird der Sozialstaat aus der Perspektive der Erwerbslosen als zuweisender Staat charakterisiert. In ihrer Darstellung verbinden die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen den Zugang zu sozialen Ansprüchen mit Bedingungen und legen damit ihre sozialen Positionen fest. In allen Erzählungen fällt auf, dass etwa Leistungen des Jobcenters mit der Aufforderung der Annahme von prekarisierten Jobs verbunden werden oder mit arbeitsmarktpolitischen Programmen, die aus der Sicht der Subjekte die Arbeitsmarktsituation nicht verbessern. Noch deutlicher wird das, wenn man die Unterschiede zwischen Erwerbslosen betrachtet, die aus verschiedenen Herkunftsklassen stammen. Während junge Menschen, deren Familien oder soziale Netze kaum über ökonomische Ressourcen verfügen, die Zuweisungen häufig widerstrebend annehmen müssen, um ihre materielle Absicherung zu garantieren, entziehen sich jungen Menschen aus den höheren Klassen ganz selbstverständlich diesen Zuweisungen. Man geht erst gar nicht zum Jobcenter oder zum Arbeitsamt, um die eigene privilegierte Position nicht zu gefährden. Man nimmt an, dass die Zuweisungen der Arbeitsverwaltung mit einer biografischen Abwertung einhergehen.
Europa.blog: Welche Erklärungen haben Sie für diese Unterschiede?
Christoph Gille: In Merkmalen wie diesen fallen zwei Dinge zusammen: Zum einen bestimmte sozialstaatliche Institutionen und Interventionen und zum anderen bestimmte Denkweisen über das soziale Gefüge. Im Falle des fehlenden Wohlfahrtsstaates in Spanien liegt die institutionelle Ursache darin, dass junge Erwerbslose über keinerlei soziale Rechte verfügen. Wer unter 25 ist und keine Arbeit hat, ist von der staatlichen Grundsicherung ganz einfach ausgeschlossen. Und auch im höheren Alter kann man nicht von einer universellen Abdeckung etwa durch die Arbeitslosenversicherung oder durch eine Grundsicherung ausgehen. Damit müssen alle jungen Erwerblosen und ein großer Teil der Älteren auf Unterstützungssysteme im privaten Umfeld zurückgreifen, meistens auf die Familie. Das wiederum verstärkt soziale Ungleichheit: Wer über ein Umfeld verfügt, dass wirtschaftlich besser gestellt ist, den oder die treffen die fehlenden sozialen Rechte weniger, als solche Erwerbslose, deren Umfeld kaum über ökonomische Ressourcen verfügen. Und weil die Familien und sozialen Netzwerke der allgegenwärtige Garant sozialer Absicherung sind, schreibt sich das auch in die Denkweisen der jungen Erwerbslosen ein. Mitarbeiter*innen der Arbeitsverwaltungen werden wie Freunde adressiert. Man versucht, Loyalität herzustellen, die dann individuell belohnt werden kann. Soziale Rechte als Grundlage für die Interaktion sind dagegen nicht erkennbar.
Im Falle des deutschen Regimes finden sich zahlreiche institutionelle Regelungen, die den zuweisenden Charakter des deutschen Sozialstaates hervorbringen. Denken Sie etwa an die etwa 300.000 jährlichen Anfänger*innen im Übergangssektor, die zahlreichen arbeitsmarktpolitischen Programme, in die junge Erwerbslose vermittelt werden. Die Teilnahme wird unter anderem dadurch strukturiert, welcher Kundengruppe Erwerbslose im Jobcenter angehören. Und treffen junge Erwachsene die eigensinnige Entscheidung, nicht teilzunehmen, werden Sie mit Sanktionen bedroht, die bis zur Verweigerung der Mietzahlungen gehen können. Aus der akteursbezogenen Perspektive wird deutlich, dass der Sozialstaat keinesfalls mehr als Garant universeller sozialer Rechte verstanden wird, sondern als ein Instrumentarium, das die eigene Position festlegen will. Aus Sicht der jungen Erwerbslosen fördern die staatlichen Institutionen nicht Autonomie, sie verweigern sie.
Europa.blog: Haben Sie noch ein weiteres Beispiel für die Unterschiede?
Christoph Gille: Interessant ist zum Beispiel auch der Blick auf die Erwerbslosigkeit selber. In Spanien wird sie durchgängig als kollektives und damit auch als gesellschaftliches Phänomen verstanden. Junge Erwerbslosen sprechen fast kontinuierlich im Plural, wenn sie von sich in der Situation der Arbeitslosigkeit sprechen. Auch der permanente Bezug auf den Zusammenhang mit der Mehrfachkrise der ökonomischen und politischen Ordnung zeigt diese soziale Einbettung von Erwerbslosigkeit. Diese Perspektive ist in Deutschland dagegen verloren gegangen. Im Zusammenspiel mit den institutionellen Eingriffen, die immer primär die Einzelnen für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen – denken Sie wieder an die so genannten Maßnahmen oder die Beratungen im Jobcenter –, zeigt sich ein rigoros subjektivierendes Verständnis von Arbeitslosigkeit. Eine der Befragten formuliert das so: „Irgendwas muss ich doch falsch machen, weil es gibt ja Arbeit.“. Das schwierige daran ist, dass auch hier Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird. Wer keinen Zugang mehr dazu hat, dass es sich bei Arbeitslosigkeit in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft immer auch um einen sozialen Zustand handelt, entzieht sich eine ganze Palette an Handlungsmöglichkeiten, die dagegen in Spanien zugänglich bleiben.
Europa.blog: Junge Erwerbslose in Deutschland und Spanien sind ja Bürger*innen nicht nur ihrer Länder, sondern zugleich auch Bürger*innen der Europäischen Union. Neben allen Unterschieden gibt es also auch ein gemeinsames politisches Dach, unter dem junge Menschen in Spanien und Deutschland leben. Haben Sie dem entsprechend auch Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Erwerbsarbeitslosigkeit bei den Jugendlichen in den beiden Ländern beobachten können?
Christoph Gille: Das erstaunlichste Ergebnis, mit dem ich so auch nicht gerechnet hatte, sind wohl die vielen Gemeinsamkeiten des Lebens in der Situation der Arbeitslosigkeit in beiden Ländern. Die Formen, Handlungsfähigkeit herzustellen, sind ganz ähnliche und reichen sowohl in Spanien als auch in Deutschland über das Eingehen prekärster Pseudo-Arbeit über die Verrichtung von Sorgearbeit bis hin zur Befreiung aus gewaltvollen sozialen Ordnungen. Um das zu verstehen, muss man ein ganzes Bündel verschiedener Aspekte berücksichtigen: Unter anderem die in beiden Staaten doch auch sehr ähnliche wohlfahrtskapitalistische Grundordnung, aber auch gleiche Anerkennungsordnungen, die in beiden Ländern z.B. für junge Männer und Frauen unterschiedlich strukturiert sind. Schließlich wird sowohl in Spanien als auch in Deutschland die große Bedeutung der Klassenzughörigkeit deutlich. Wie es die Wohlfahrtsstaatenforschung annimmt, zeigt sich hier die konservative Ausrichtung der beiden Sozialstaaten, in denen Ungleichheit eher reproduziert statt abgebaut wird.
Zugleich weisen die Gemeinsamkeiten aber auch darauf hin, dass sich aufgrund der transnationalen europäischen Dynamiken auch subjektive Lebensverhältnisse angleichen. Der gemeinsame Markt, der entstandene Wettbewerb zwischen den Nationen und der „neuartige Konsolidierungsstaat“, wie Wolfgang Streeck ihn nennt, führen dazu, dass soziale Rechte junger Erwerbslose sowohl in Deutschland als auch in Spanien abgebaut wurden. Auch wenn junge Arbeitslose in Deutschland über mehr Rechte verfügen als in Spanien, von den Rekordzahlen am Arbeitsmarkt und in den öffentlichen Haushalten profitieren sie nicht. Im Gegenteil, das Sanktionsregime ist immer noch in Kraft und die Ausbildungsmöglichkeiten werden noch immer in ausgrenzenden Sondersystemen versucht. Und wir finden sowohl in Spanien als auch in Deutschland eine Fragmentierung der Arbeitsmärkte, die politisch hervorgebracht ist. So lassen sich in beiden Ländern stark prekarisierte Arbeitsverhältnisse finden, wenn sie sich auch in der konkreten Ausgestaltung und in der institutionellen Rahmung unterscheiden. Wenn wir also immer nur von den vermeintlich großen Unterschieden zwischen Deutschland und Spanien reden, unterschlagen wir, dass sich auch in Deutschland Menschen in äußerst schwierigen Lebenssituationen befinden und die insgesamt gute ökonomische Situation auf Kosten größerer Fragmentierung am Arbeitsmarkt erkauft ist.
Europa.blog: Das Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik gilt in Deutschland vielen – insbesondere im linken Teil der Gesellschaft einschließlich vieler Gewerkschafter – den Sozialstaatsmodellen der anderen europäischen Länder als qualitativ überlegen. Sie zeigen nun aber in ihrer Untersuchung auf, dass das deutsche Sozialstaatsmodell im Unterschied zum spanischen den Jugendlichen zwar stärkere Rechte gewährt, gleichzeitig beschreiben sie es als ein Modell, das einen stark zuweisenden Charakter hat und in seiner Wirkung die Jugendlichen vereinzelt. Wie schätzen sie aufgrund ihrer Forschungsarbeit das deutsche Sozialstaatsmodel grundsätzlich ein?
Christoph Gille: Es ist sicher richtig, dass der deutsche Sozialstaat viele Errungenschaften kennt. Aber gleichzeitig festigen viele Elemente im deutschen Sozialstaat gesellschaftliche Positionen und damit auch gesellschaftliche Ungleichheit. Denken Sie etwa an das dreigliedrige Schulsystem, das System der Rentenversicherung oder die gesetzlich gestützte Möglichkeit, ab einer bestimmten Einkommenshöhe eine private Krankenversicherung abzuschließen. Andere Länder kennen da andere Modelle. Ähnlich kann man auch die Leistungen im Fall von Arbeitslosigkeit einschätzen. Es ist ein großer Gewinn, dass junge Menschen in Fall von Erwerbslosigkeit abgesichert sind. Das hilft zum Beispiel auch, um sich aus ausbeutenden und gewaltvollen privaten Beziehungen befreien zu können. Die kommen nämlich sowohl in Spanien als auch in Deutschland und anderswo häufig vor, auch wenn uns unser Ideal von Familie kaum erlaubt, das wahrzunehmen. Aber diese sozialstaatlichen Absicherungen werden an Bedingungen geknüpft, die zuweisenden Charakter haben. Neben einer konkreten Abwertung, die z.B. durch eine Positionierung im Niedriglohnsektor erfolgen kann, sehe ich noch eine andere Schwierigkeit dieses Modell: Junge Menschen werden weniger in ihrer Eigenaktivität ernst genommen, sondern stattdessen sehr dicht beaufsichtigt. Eine spanische Wissenschaftlerin, Amparo Serrano Pascual, spricht davon, dass Sozialstaaten wie die deutschen davon ausgehen, dass Menschen aktiviert werden müssten, und nicht davon, dass sie aktiv sind. Der deutsche Sozialstaat ist an dieser Stelle stark widersprüchlich: Er will die Menschen zur Eigenverantwortlichkeit erziehen, aber gleichzeitig spricht er ihnen diese Eigenverantwortlichkeit ab.
Europa.blog: Im Mai stehen die nächsten Europawahlen an. Welche politischen Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihrer Untersuchung und welche Empfehlungen geben Sie Politiker*innen aufgrund Ihrer Forschungsarbeit? Was muss dringend in der Europapolitik anders bzw. besser werden, damit die EU im Sinne und im Interesse ihrer Bürger*innen, insbesondere der jungen Menschen, weiterentwickelt werden kann?
Christoph Gille: Eine der wesentlichen Herausforderungen für die europäische Politik ist aus meiner Sicht, die Trennung zwischen der transnationalen Wirtschaftsordnung und der nationalen Sozialpolitik zum Thema zu machen. Es muss verstanden werden, dass die Wirtschaftsordnung nicht von ihrer politischen Einbettung zu trennen ist, auch wenn es manchen Menschen zupasskommen mag. Wenn der soziale Friede zwischen und innerhalb der europäischen Staaten gefördert werden soll, muss sozialpolitisch für Ausgleich gesorgt werden, wenn wirtschaftliche Entwicklungen Ungleichheit fördern. Das ist aus meiner Sicht die noch nicht eingelöste Lehre der Mehrfachkrise nach 2008. Es reicht nicht, eine europäische Sozialcharta zu haben, sondern es gilt, diesen Rechten im Alltag Geltung zu verschaffen. Dazu gibt es ja in letzter Zeit eine Reihe interessanter Vorschläge, z.B. zur Einführung sozialer Grundsicherungen in ganz Europa, zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung, zu sozialen Mindeststandards etwa bei den Löhnen oder zu einem gemeinsamen Haushalt, der durch Investitionen Ausgleich herzustellen versucht. Und sicher muss auch die weitere Regulierung eines von der Realwirtschaft entkoppelten Finanzkapitalismus dabei weiter zentral stehen. Für die jungen Erwerbslosen könnte man besser heute als morgen damit beginnen.
Mit einer „Jugendgarantie“ dagegen, die nichts garantiert, keinen Job und keine finanzielle Absicherung, kommt man dagegen nicht weiter. Im Gegenteil: Man diskreditiert das politische System, wenn von einer „Garantie“ gesprochen wird, die aber durch nichts gedeckt ist. Letztlich zeigt sich das Problem Europas damit auch als demokratisches Problem: Denn wenn Individuen und Staaten durch die scheinbare Trennung von Wirtschafts- und Sozialordnung keinen Einfluss mehr ausüben können auf ihre Lebenssituation, suchen sie nach anderen Wegen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Dann ist es das Zurück zu nationalistischen Ideen, das Hoffnung verbreitet. Ich allerdings habe großen Zweifel daran, ob solche Ideen Lösungen für Menschen bereithalten, denen es heute ökonomisch nicht gut geht – egal ob sie in Spanien oder in Deutschland leben. In einem demokratisierten Europa sehe ich dagegen die Chance, dass sich Menschen auch über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg für eine Sozialordnung einsetzen können, die ihre Handlungsmöglichkeiten vergrößert.
Europa.blog: Vielen Dank für das Interview.
Titelbild: Indignados | Foto: Monica Centelles CC BY-NC-ND 2.0
Autoreninfo
Christoph Gille arbeitet als Vertretungsprofessor für Theorien der Sozialen Arbeit an der Hochschule Koblenz. Das Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit, Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit und ihre inter- und transnationale Einbettung bilden Schwerpunkte seiner Tätigkeit. Er war außerdem als Sozialarbeiter in niederschwelligen Einrichtungen für männliche und Trans-Sexarbeiter* tätig und hat in den Niederlanden, Belgien und Argentinien gelebt.
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