Von Jürgen Klute

Am 24. Februar 2022 wurde die Ukraine nach langer und keineswegs verdeckter Vorbereitung von der russischen Armee in Gänze angegriffen. In keiner Weise stellte die Ukraine eine Gefahr für Russland dar. Ein Staat, der von einem anderen Staat angegriffen wird, hat auch nach dem Völkerrecht ein Recht auf Selbstverteidigung – es wird also nicht erwartet vom Völkerrecht, dass ein Staat sich einem anderen widerstandslos unterwirf und sich aufgibt. Das wäre auch keine dauerhafte Lösung, da die zu erwartende Unterdrückung entsprechende Reaktionen hervorbringen würde. Sich selbst zu verteidigen setzt allerdings voraus, zumindest über Defensivwaffen zu verfügen, mit denen der Angreifer gestoppt und möglichst auch wieder aus dem Land gedrängt werden kann. Sie zur Verfügung zu stellen ist demnach legitim. Sie zu verweigern bedeutet zwangsläufig, einen völkerrechtswidrigen Krieg zu akzeptieren und damit zu akzeptieren, dass Macht vor Recht geht.

Die Bigotterie der EU-Mitgliedsländer beenden

Nun ist es andererseits auch verständlich und richtig, einen Krieg nicht eskalieren zu wollen. Damit begründet vor allem die deutsche Bundesregierung ihre Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine. Grundsätzlich halte ich diese Zurückhaltung für richtig. Dennoch ist sie mehr als bigott. Und in gewisser Weise gilt das für eine ganze Reihe weitere EU-Mitgliedsstaaten. Bereits 2014, unmittelbar nach Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine – zunächst noch regional begrenzt in Form der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dann in Form der Unterstützung von bewaffneten Separatisten in der Ostukraine – verhängte die Europäische Union ein Waffenembargo gegen Russland.

Dieses Embargo war allerdings mit Rücksicht auf die Rüstungswirtschaft mit so großen Schlupflöchern versehen, dass es leicht zu umgehen war. Das journalistische Recherchebüro „Investigate Europe“ hat am 17. März 2022 einen Bericht (EU-Mitgliedsstaaten haben auch nach dem Embargo von 2014 Waffen nach Russland exportiert) veröffentlicht, nach dem 10 EU-Mitgliedsländer von 2014 bis 2020 für insgesamt 346 Millionen Euro nach Russland exportiert haben. Die größten Anteile entfallen – wenig überraschen – auf Frankreich und Deutschland. Frankreich steht laut „Investigate Europe“ für 44 Prozent der Rüstungsexporte aus der EU an Russland, Deutschland für 35 Prozent. Neben Frankreich hat also vor allem Deutschland kräftig dazu beigetragen, die russische Armee für den Überfall auf die Ukraine auszustatten.

Während man über Jahre den Angreifer und Aggressor in diesem Krieg waffentechnisch unterstützt und daran verdient hat, fällt der Bundesregierung plötzlich ein, dass es eigentlich nicht erlaubt sei nach deutschem Recht, Waffen in Krisengebiete zu liefern. Eine an sich sinnvolle Regelung. Nur: Für Russland, dass bereits seit acht Jahren Krieg gegen die Ukraine führt, galt diese Bestimmung offensichtlich nicht. Und das ist bigott!

Reisediplomatie auf höchster politischer Ebene

Dennoch bleibt es richtig, alles zu tun, um diesen Krieg nicht zu eskalieren. Wenn aus diesem Grund möglichst wenig (Defensiv)Waffen geliefert werden sollen, dann sollten die Regierungen der EU-Mitgliedsländer und auch die politischen Spitzen der Europäischen Union zunächst natürlich diese Bigotterie beenden und dann überlegen, wie sie auf anderem Wege die Ukraine politisch-praktisch unterstützen können.

Eine Möglichkeit das zu machen, haben die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien gezeigt. Sie sind mit dem Zug nach Kyjiw gefahren und haben sich dort mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen.

Weshalb fahren nicht auch die anderen Regierungschefs einzeln oder zu zweit mit dem Zug (ab Warschau) zu ihrem ukrainischen Kollegen in Kyjiw und unterstützen und schützen ihn durch ihre physische Präsens? Auch die Mitglieder der Regierungen und die ParlamentspräsidentInnen können sich einer solchen Aktion Anschließen. Und selbstverständlich sollten sich dieser Aktion auch die EU-Kommissionspräsidentin, die EU-KommissarInnen, die beiden EU-RatspräsidentInnen (die rotierenden und der permanente) sowie der Präsident des Europäischen Parlaments und seine Stellvertreterinnen und Stellvertreter anschließen. Und warum nicht auch Staats- und Regierungschefs außerhalb der EU und der UNO-Generalsekretär. Das sind ausreichend politische Repräsentantinnen und Repräsentanten, um täglich eine kleine zwei bis dreiköpfige Delegation hochrangiger politischer RepräsentantInnen nach Kyjiw zu entsenden, um durch ihre physische Präsens die Mordbrennerei der russischen Armee zumindest einzudämmen – wenn es sein muss, bis sich ihre Ressourcen erschöpft haben.

Das ist weit mehr als ein symbolischer Akt. Die russische Armee dürfte kaum riskieren, während eines solchen Besuches Kyjiw anzugreifen oder zu bombardieren, da das Risiko viel zu hoch wäre, einen der politischen Repräsentanten, die bei Selenskyj zu Gast sind, zu töten. Es wäre ein realer nicht-militärischer Schutz und ein Signal an Putin und die russische Regierung. Eine solche politisch-praktische Unterstützung ersetzt zwar keine militärische Verteidigung, wäre aber dennoch eine konkrete Unterstützung. Denn je länger Putin ein militärischer Erfolg versagt bleibt, um so teurer wird für ihn der Krieg und je schwächer wird seine Position in Russland. Vor allem dann, wenn die Einschätzungen stimmen, dass er um jeden Preis Kyjiw einnehmen und die jetzige demokratisch gewählte Regierung gegen eine von Russland abhängige Marionetten-Regierung austauschen will. Gelingt ihm das nicht, dürfte der innenpolitische Druck auf Putin angesichts der bisher schon offenbar sehr hohen Zahl gefallener russischer Soldaten und der hohen Kosten zunehmen.

Weshalb sich gerade Deutschland für eine solche Aktion einsetzen sollte

Dem bisher im Blick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine vor allem durch Peinlichkeiten aufgefallen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (um es nicht zu vergessen: er gehört der SPD an) böte sich nun die Möglichkeit, auf EU-Ebene für eine solche politische Aktion zu werben und Unterstützung zu organisieren. Es wäre eine kleine Wiedergutmachung für die oben beschriebene Bigotterie der deutschen Bundesregierungen der letzten acht Jahre. Das wäre auch eine kleine Wiedergutmachung für das Versagen des Bundeskanzlers, seiner selbst, seiner Regierung des Bundestages und des Bundespräsidenten bei der Rede (in Form einer Video-Schaltung) des ukrainischen Präsidenten vor dem deutschen Bundestag. Die Reaktion auf die Rede von Selenskyj war der bisher tiefste Punkt, auf den die deutsche Bundespolitik – also Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident – in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik gesunken ist.

Wolodymyr Selenskyj ist Jude und Familienmitglieder von ihm waren im Widerstand gegen die deutschen Besatzer der Ukraine im zweiten Weltkrieg. Nicht zuletzt würde es auch deshalb der Bundesregierung gut zu Gesicht stehen, durch wechselnde Besuche und physische Präsens an der Seite von Wolodymyr Selenskyj zu zeigen, dass man nicht nur hole Worte für ihn und die Ukraine übrig hat, sondern bereit ist, ihn praktisch zu unterstützen und zu schützen. Denn sein Leben ist bei einer Einnahme von Kyjiw durch die russische Armee akut gefährdet.

Man kann dieser Idee entgegenhalten, dass sie sehr aufwändig sei. Aber es wäre eine glaubwürdige zivile Schutz- und Unterstützungsaktion, die Wirkung zeigen würde. Nichts zu tun ist keine Option – auch aus einem gut verstandenen Eigeninteresse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer. Und: Das eine solche Aktion praktisch durchführbar ist, haben die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien gezeigt!

Titelbild: Ukraine – Together we can by Mike Finn CC BY 2.0 via FlickR

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