Es liegt nahe, den Sturz der niederländischen Regierung als eine erbärmliche Zurschaustellung politischer Unfähigkeit abzutun, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Er mahnt jedoch, dass wir begreifen müssen, wie viel Schaden der Demokratie und dem Rechtsstaat zugefügt wurde.
Essay von Ilja Leonard Pfeijffer |23. Juni 2025
Angesichts der Banalität ihrer Erscheinungsform, der Unfähigkeit, mit der sie umgesetzt wird, und der Abstumpfung der Öffentlichkeit droht die Demontage des Rechtsstaats und der Demokratie mit einem Achselzucken abgetan und selbst von den scharfsinnigsten Analysten mit Kopfschütteln relativiert zu werden. Als wäre sie nichts weiter als das, was sie zu sein scheint: eine lächerliche Manifestation von Vulgarität und Dummheit, während die einfachen Menschen in der verfluchten Realität mit zu vielen realen Problemen zu kämpfen haben, um sich abstrakte Sorgen leisten zu können.
Der Grund für den Erfolg des rechtsextremen, illiberalen Wandels liegt zu einem nicht zu unterschätzenden Teil in der belanglosen Inszenierung, in die er sich hüllt. Wer verstehen will, was vor sich geht, hat die undankbare Aufgabe, Entgleisungen und Absurditäten ernst zu nehmen.
Die Versuchung ist groß, den Sturz der niederländischen Regierung als Farce und als erbärmliche Zurschaustellung politischer Amateurhaftigkeit abzutun. Es war vorhersehbar, dass Geert Wilders, Vorsitzender und einziges Mitglied der rechtsextremen PVV [Partij voor de Vrijheid = Partei der Freiheit, A.d.Ü.], die aus den Wahlen vom 22. November 2023 als stärkste Partei hervorgegangen war, zu einem ungünstigen Zeitpunkt einen Anlass inszenieren würde, um seine eigene Regierung zu stürzen. Genauer gesagt: Exakt das habe ich am Samstag, dem 25. Mai 2024 [Dieses erste Wilders-Kabinett ohne Wilders ist das Sprungbrett für die eigentliche Machtübernahme] an dieser Stelle in dieser Zeitung vorhergesagt habe, womit ich übrigens auch damals keinen Anspruch auf Originalität erhoben habe.
Königsdrama
Auch der konstruierte Grund war absehbar und wurde vorhergesagt. Er sei wegen seines Versprechens gewählt worden, eine strenge Asylpolitik zu gestalten, sagte er, und das sei nicht geschehen. Seine Geduld sei am Ende. Er präsentierte einen drakonischen Zehn-Punkte-Aktionsplan und forderte von seinen Koalitionspartnern, diesen zu unterschreiben.
Da diese Punkte teilweise bereits im Koalitionsvertrag vereinbart waren und im Übrigen verfassungswidrig oder aus anderen Gründen unrealistisch waren, und da seine Koalitionspartner ihn darauf hinwiesen, dass die Regierung, in der eine PVV-Ministerin für die Asylpolitik zuständig war, und nicht die Fraktionsvorsitzenden der Koalitionsparteien, die Aufgabe habe, die vereinbarte strengere Politik umzusetzen, hielten sie es für unnötig, den Zehn-Punkte-Plan zu unterzeichnen. Daraufhin zog er seine Unterstützung für die Regierung zurück.
Was bei der Amtseinführung der Regierung unter der Führung von Wilders‘ parteilosem Strohmann Dick Schoof am 2. Juli 2024 nicht vorhersehbar war, war, dass die Wiederwahl von Donald Trump zu besorgniserregenden geopolitischen Verschiebungen und dringenden Fragen zur europäischen Sicherheit führen würde. Dadurch wurde die politische Debatte in den letzten Monaten von wichtigeren Themen als der Asylmigration beherrscht.
Geert Wilders ist zwischen die sich verschiebenden Platten der geopolitischen Kräfteverhältnisse geraten. Er ist groß geworden dank seines Talents, die politische Agenda zu bestimmen und dafür zu sorgen, dass sich die Debatte immer wieder um seine eigenen Themen dreht: Einwanderung und Islam. Aber jetzt steht die Welt plötzlich in Flammen. Stürmische internationale Entwicklungen von epochaler Bedeutung übertönen seine Steckenpferde. In der geopolitischen Debatte hat er wenig zu gewinnen. Er nimmt darin sogar eine heikle Position ein, weil er einst mit Putin flirtete und Trump als Helden und Vorbild sieht. Seine Popularität begann in den Umfragen zu schwinden.
Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, dass Wilders‘ destruktives Manöver, seine eigene Regierung zu stürzen, ein letzter Versuch ist, die politische Debatte wieder auf seine eigenen Themen zu lenken.
Gerade weil seine Lieblingsministerin, Marjolein Hillegonda Monica Faber-van de Klashorst, als Vertreterin der PVV für die Asylpolitik der Regierung verantwortlich war und weil sie aufgrund einer fatalen Kombination aus atemberaubender Inkompetenz und verblüffender Arroganz in dieser Angelegenheit buchstäblich nichts zustande gebracht hat – womit sie aus Wilders‘ Sicht ihre Aufgabe vorbildlich erfüllt hat, denn er ist weniger an einer Lösung des Asylproblems interessiert als an einer Demonstration seiner Unlösbarkeit innerhalb der demokratischen Spielregeln –, ist die Versuchung groß, das von Wilders inszenierte Königsdrama als unglaubwürdiges Amateurtheater abzutun.
Totaler Stillstand
Die Schlussfolgerung, dass er bei den bevorstehenden vorgezogenen Wahlen eine schwere Niederlage erleiden wird und dass selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Wahlsiegs niemand mehr mit ihm regieren will, liegt auf der Hand. Und gerade weil jetzt jeder versteht, dass niemand mehr mit ihm zusammenarbeiten will, wird er bei den Wahlen eine schwere Niederlage erleiden, könnte man meinen. Er hat seinen eigenen „cordon sanitaire“ [Brandmauer, A.d.Ü.] errichtet.
Nach einer langen und chaotischen Regierungsbildung hat das Kabinett Schoof letztlich elf Monate und einen Tag lang geschäftsführend regiert. Wir blicken auf elf Monate des völligen Stillstands zurück, in denen die einzige gute Nachricht darin bestand, dass der ersten rechtsextreme Regierung der Niederlande jegliches Talent fehlte, um ihre Ambitionen zu verwirklichen.
Die einzige gute Nachricht war, dass die erste rechtsextreme Regierung der Niederlande jegliches Talent vermissen ließ, um ihre Ambitionen zu verwirklichen.
Gerüchten zufolge langweilten sich die Senatoren in der Ersten Kammer so sehr, weil keine Gesetzesvorlagen aus der Zweiten Kammer kamen, dass sie sich in die Haushaltspläne vertieften, um etwas zu tun zu haben. Dann stellte sich heraus, dass mit diesen Haushaltsplänen alles Mögliche nicht stimmte, aber das ist ja immer so. Der CDA-Vorsitzende Henri Bontenbal [CDA = Christen-Democratisch Appèl, A.d.Ü.] fasste es so zusammen: „Man könnte diesen Kabinettssturz als Krönung von zwei Jahren völligen Chaos‘ betrachten.“ Damit wird diese kurze Periode in der niederländischen Geschichte mit einem Achselzucken abgetan und mit einem Kopfschütteln als banale Manifestation von Unfähigkeit relativiert.
Zentrum der Macht
Abgesehen davon, dass der Stillstand schädlich war, weil mehrere dringende Dossiers nicht weiterbearbeitet werden konnten, ist es wichtig zu begreifen, wie viel Schaden der Demokratie und dem Rechtsstaat zugefügt wurde. Während der Regierungsbildung forderten die drei Koalitionspartner von Wilders, dass er eine Erklärung unterzeichnen sollte, in der er zusagte, den Rechtsstaat zu respektieren.
Die Tatsache, dass sie wussten, dass dies nicht selbstverständlich war, hätte für sie ein entscheidender Grund sein müssen, jede Form der Zusammenarbeit mit Wilders abzulehnen. Das war jedoch nicht der Fall, und damit wurde diese rechtsstaatsfeindliche Partei, die so undemokratisch ist, dass ihre Satzung nur ein einziges Mitglied vorsieht, in die Machtzentrale aufgenommen.
Wilders unterzeichnete die Rechtsstaatlichkeitserklärung, hat sie aber anschließend wiederholt in eklatanter Weise missachtet. Der vorläufige Tiefpunkt ist die letzte der vorgeschlagenen Maßnahmen aus seinem Zehn-Punkte-Plan, die vorsieht, dass die Polizei mehr Gewalt gegen Demonstranten anwenden soll (als Beispiel nennt er pro-palästinensische Demonstrationen) und dass Bürgermeister, die sich lieber zurückhaltend zeigen bei der Anwendung von Gewalt, sofort entlassen werden sollen.
Die Art und Weise, wie er seine eigene Regierung zu Fall gebracht hat, könnte als Farce und als Beweis für seine Unkenntnis demokratischer Verfahren und Prinzipien bezeichnet werden. Denn als Fraktionsvorsitzender der größten Regierungspartei und als Vertreter der Legislative forderte er von seinen Kollegen, sich zu einer Politik zu verpflichten, die in die Zuständigkeit der Exekutive fällt.
Er hat die Regierung komplett übergangen und den niederländischen Ministerpräsidenten erst telefonisch informiert, nachdem er in den sozialen Medien bekannt gegeben hatte, dass seine Regierung gestürzt war. Er hatte vergessen, dass seine eigenen Minister laut Staatsrecht selbst ihren Rücktritt hätten einreichen müssen. Kurz gesagt, er hat wie üblich alles ganz allein gemacht, so wie es ihm passte, ungeachtet der Gesetze und Gepflogenheiten.
Andererseits war der gesamte Kabinettssturz mit der Lüge begründet worden, dass die Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen behindert worden sei. Es ist offensichtlich, dass nicht Unfähigkeit, sondern Vorsatz hinter seinen Manövern stand und dass die scheinbare Farce in Wirklichkeit ein gezielter Angriff auf die Spielregeln des demokratischen Rechtsstaats sein sollte. Wilders hat nicht nur seine eigene Regierung sabotiert, sondern auch die Verfahren, die jemand respektieren muss, der seine eigene Regierung sabotiert.
Vorsätzliche Unfähigkeit
„Hier geht es nicht um einen amateurhaften Politiker, der aus Wut eine Regierung sprengt”, schreibt Rosan Smits in einer lesenswerten Analyse für die niederländische Journalistenplattform „De Correspondent“. „Es geht nicht einmal um politische Meinungsverschiedenheiten über die Asylpolitik. Wir haben es hier mit einem berechnenden Spieler zu tun, der auf einem anderen Spielfeld spielt als seine Koalitionspartner. In seinem Spiel dienen die Mittel der Demokratie nur dazu, sie zu untergraben.”
Was Wilders in den letzten elf Monaten erreicht hat, ist, dass sich seine faschistoide Politik der Entmenschlichung, des Hasses und der Untergrabung des Rechtsstaats inzwischen so komfortabel in der Machtzentrale eingenistet hat, dass seine verfassungswidrigen Forderungen sogar von seinen eigenen Koalitionspartnern mit einem Achselzucken abgetan wurden. Die Vorschläge, die er in seinem Zehn-Punkte-Plan formuliert, wären für sie vor elf Monaten völlig inakzeptabel gewesen. Die Tatsache, dass er es wagt, diese Vorschläge zu machen, hätte für sie ein Grund sein müssen, jede Form der Zusammenarbeit wütend aufzukündigen.
Aber inzwischen haben sich Wilders‘ Ansichten so sehr normalisiert, dass die Koalitionspartner bereit waren, den Zehn-Punkte-Plan als Bestätigung der bestehenden Politik zu interpretieren, woraufhin Wilders selbst die Regierung sprengen musste.
Wahlkampf-Glücksspiel
Die große Frage ist nun stellt, ob Gewöhnung und Normalisierung so weit fortgeschritten sind, dass die etablierten rechten Parteien eine Zusammenarbeit mit Wilders auch für die Zukunft für denkbar halten. Wilders ist ein Wahlrisiko von epischem Ausmaß eingegangen, doch besteht die Chance, dass ein großer Teil der Wähler seiner Version der Geschichte Glauben schenkt und das Risiko für ihn gut ausgeht.
Die einzige Möglichkeit, dies mit Sicherheit zu verhindern, besteht darin, aus dem strategischen Fehler der VVD [Volkspartij voor Vrijheid en Democratie = Volkspartei für Freiheit und Demokratie, A.d.Ü.] zu lernen, die kurz vor den Wahlen vom 22. November 2023 den „cordon sanitaire“ aufgehoben hat, und aus all dem, was seitdem geschehen ist.
Die Normalisierung des faschistischen Gedankenguts ist im Gange und weit fortgeschritten. Die Demokratie kann nur durch ein Bündnis aller demokratisch gesinnten Parteien gegen die antidemokratischen Kräfte geschützt werden. Alle scheinbare Unfähigkeit ist Vorsatz. Chaos ist kein Zufall, sondern das primäre Ziel.
Wir haben die undankbare Aufgabe, uns gegen die zerstörerische Macht von Entgleisungen und Absurditäten zu wehren.
Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 14. Juni 2025 unter dem Titel „We hebben de ondankbare taak om ons te weren tegen de destructieve macht van blunders en absurditeiten“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute
Titelbild: Geert Wilders; Foto: Roel Wijnants CC BY-NC 2.0 DEED via FlickR
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