Von Jürgen Klute

Das Gesellschaften und Staaten sich gegen Desinformation wehren, ist im Grundsatz nachvollziehbar und auch richtig. Kompliziert und mit unter auch riskant wird es, wenn es konkret wird. Das gilt auch für die Europäische Union, die sich seit 2012 verstärkt mit dem Thema Desinformation befasst und Strategien zu deren Abwehr entwickelt.

Eric Bonse, freier, in Brüssel lebender und arbeitender Journalist, der auf EU-Themen spezialisiert ist und sie aus einer EU-Perspektive analysiert und kommentiert, hat für das Institut für Medienverantwortung (IMV) eine Studie über die Strategien von EU und Nato zur Abwehr von Desinformationen verfasst. Die Studie wurde am 7. Oktober 2021 unter dem Titel „Wie EU und Nato gegen Desinformation vorgehen. Schutz vor ‚hybriden Angriffen‘ aus Russland – oder Eingriff in die Informations- und Medienfreiheit?“ auf dem Webportal des IMV veröffentlicht.

Die 21 Seiten umfassende Studie von Bonse geht zunächst der Frage nach, was in den EU-Institutionen unter Desinformationen verstanden wird und wo die EU den Ursprung von Desinformationen verortet. Auffällig ist, dass die EU sich vor allem auf Russland und einige osteuropäische Länder als Ursprung von Desinformationen konzentriert, aber Quellen für Desinformation innerhalb der EU ausblendet. Belege, die eine solche Fokussierung rechtfertigen, haben die zuständigen EU-Institutionen nach den Analysen von Bonse bisher jedoch nicht vorgelegt.

Im weiteren beschreibt Bonse die konkrete Vorgehensweise der EU bei der Abwehr von Desinformationen. Zum einen gibt es mehrere Taskforces, die sich der Aufgabe widmen. Die EU-Abteilung für Strategische Kommunikation (Stratcom) arbeitet gezielt mit Journalistinnen und Bloggerinnen in Ost- und Südeuropa zusammen. Zunehmend spielt auch die Beobachtung von Medien und Medienportalen eine Rolle. Zur Abwehrstrategie von Desinformationen gehört mittlerweile auch ein 2018 von er EU eingeführter freiwilliger Verhaltenskodex für Onlinemedien. Der soll, wie Bonse schreibt, zu einer gesetzlichen Regelung weiterentwickelt werden:

Das Ziel sei es, den bestehenden freiwilligen Verhaltenskodex zu einem Kodex mit verbindlichen Verhaltensregeln als Teil des im „Gesetz über digitale Dienste“ vorgesehenen Koregulierungsrahmens weiterzuentwickeln, heißt es in einem „Q&A“. 20 Der Kampf gegen Desinformation soll gesetzlich verankert und rechtlich bindend werden – ein bedenkliches Novum in der Medienpolitik.

Als besonders kritisch wertet Bonse die Kooperationen der EU mit der NATO in der Abwehr von Desinformation, denn „damit erhalten auch die USA und andere Nicht-EU-Staaten Einfluss auf das europäische Vorgehen“.

Insgesamt kritisiert Bonse, dass die EU bisher keinen Einblick in die inneren Arbeitsprozesse der Abteilungen zur Abwehr von Desinformationen ermöglicht.

In einem weiteren Abschnitt seiner Studie widmet Bonse sich der Frage der Rechtsgrundlagen und der Legitimierung der beschriebenen EU-Aktivitäten. Er wertet die Maßnahmen als rechtlich schwach begründet und sieht die Grenzen zwischen legitimier Interessenverteidigung und rechtswidriger Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit mehr und mehr verschwimmen.

Bonse Fazit lautet:

Was als Aktionsplan der EU für die „Strategische Kommunikation“ rund um den Ukraine-Konflikt 2015 begonnen hat und als defensive Maßnahme zur Abwehr russischer „Desinformations-Kampagnen“ präsentiert wurde, hat in kaum mehr als fünf Jahren einen völlig anderen Charakter angenommen. Nunmehr werden „Fake News“, Cyberangriffe und andere Einmischungs-Versuche in der gesamten EU, aber auch bei den östlichen Partnern, den südlichen Mittlemeeranrainern und auf dem Balkan erfasst. Es geht längst nicht mehr nur um Außenpolitik, sondern auch um öffentlich kontrovers diskutierte Fragen wie die Gesundheitspolitik (Corona), die Klimapolitik oder die innere Sicherheit.

Weiter heißt es bei Bonse:

Mit Blick auf die Informations- und Medienfreiheit fällt die Bilanz rundum negativ aus. Aus journalistischer Sicht ist schon der Begriff der Desinformation problematisch, da er staatliche Propaganda mit privaten Medienaktivitäten vermischt und auch nichtstaatliche Akteure im Internet erfasst. Die in der EU übliche Verkürzung von Desinformation auf russische Aktivitäten ist falsch, da so andere ausländische Akteure, aber auch eigene Fehler ausgeblendet werden. Mit ihren Veröffentlichungen erweckt die EU den Eindruck, „Fake News“ und Cyber-Attacken kämen nur aus Russland; die verantwortlichen Politiker fördern einen „Tunnelblick“ und beleben längst überholt geglaubte Feindbilder.

Letztlich erweist sich Desinformation als „Catch-it-all“-Begriff, der nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen innere Gegner und sogar gegen EUKritiker eingesetzt werden kann. Zur Sicherung der Informationsfreiheit ist er ungeeignet. Die EU wird ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht, die Informationsfreiheit zu sichern und die demokratische Willensbildung zu fördern. Mit ihrem undifferenzierten und einseitigen Vorgehen bringt sie den „Treibstoff der Demokratie“ – die freie und unzensierte Information – in Gefahr. Es wäre daher höchste Zeit, die Rechtmäßigkeit der Eingriffe in die Medien zu überprüfen und die EU-Akteure zu mehr Transparenz und „Accountability“ zu zwingen.

Das betrifft unmittelbar die bisherige anerkannte und respektierte Rolle der Medien in Demokratien als vierter Gewalt, die Politik kontrolliert, Fakten dokumentiert und deren Wertung in freier Debatte vornimmt.

So richtig und wichtig es ist, sich mit dem Thema Desinformation auseinanderzusetzen, so risikobehaftet ist es, wenn das zu staatlichen Regulierungen der Meinungsfreiheit führt, wie Eric Bonse in seiner Studie überzeugend darlegt.

Hier geht’s zur Studie:

Hier geht’s zum Blog von Eric Bonse:

Titelbild: Express your orientation by Pulpolux CC BY-NC 2.0 via FlickR

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