In seinem Essay vom 8.9.2024 „Nein, die Liebe zur Autokratie liegt nicht in der ostdeutschen DNA. Die Erklärung für den Wahlerfolg der Extremen liegt woanders“ vertritt Ilja Leonard Pfeijffer die These, dass der Neoliberalismus mit seinen unerfüllten Versprechen die Hauptursache für das Erstarken der AfD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern darstellt, die die ehemalige DDR bildeten. Dem stellt Frederik D. Tunnat entgegen, dass die Ursachen für die Enttäuschung vieler ehemaliger Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR zumindest zu einem relevanten Teil auch Folge von durch die DDR und ihre Alltagskultur geprägten Erwartungshaltungen an Gesellschaft und Staat sind. Tunnats Erwiderung auf Pfeijffers Essay erfolgte wenige Tage nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025, die die AfD zur zweitstärksten Partei im Bundestag machten.
Von Frederik D. Tunnat
Ilja Leonard Pfeijffers Artikel vom 8.9.2024 mit der Überschrift: „Nein, die Liebe zur Autokratie liegt nicht in der ostdeutschen DNA. Die Erklärung für den Wahlerfolg der Extremen liegt woanders“, erfordert nach den aktuellen Ergebnissen der Bundestagswahl meine Entgegnung.
Pfeijffers These, die Unzufriedenheit der Wähler in Sachsen und Thüringen mit der liberalen Demokratie sei nicht Folge der Tatsache, dass sie als Bewohner der ehemaligen DDR bis 1990 keine Demokratie kannten, sondern ihrer Enttäuschung über die deutsche Einheit und den neoliberalen Kapitalismus. Pfeijffer glaubt, dadurch hielten uns die ehemaligen DDR Bürger einen Spiegel vor.
Wiewohl ich dem letzten Teil von Pfeijffers Ansicht nicht widerspreche, da tatsächlich aus der Wahlentscheidung in den Neuen Bundesländern Enttäuschung über die Art und Weise der deutschen Einheit spricht, doch bereits der zweite Teil seiner Aussage „Enttäuschung über den neoliberalen Kapitalismus“ trifft in seiner Pauschalität, wie im Zusammenhang mit dem Begriff Enttäuschung, nicht zu.
Ich kann anhand der mir zugänglichen Daten über Pfeijffers Vita keinerlei längeren Aufenthalt in den Neuen Bundesländern erkennen. Selbst wenn er besuchshalber sporadisch dort war, kommt das meinen Erfahrungen vor, wie nach der Wiedervereinigung, nicht nah. Zu DDR Zeiten setzte ich mich für unterdrückte, verfolgte Schriftsteller wie Rainer Kunze ein, versorgte Menschen in der DDR mit Paketen und Material, das sie für ihr Studium etc. benötigten, in der DDR jedoch nicht oder nur gegen exorbitante Devisen erhalten konnten. Für eine Familie im äußersten Süden der DDR übernahm ich die „Patenschaft“, was zahlreiche finanzielle Zuwendungen, aber auch Besuche in der DDR umfasste.
Kaum war im November 1989 die Grenze geöffnet – zunächst nahezu illegal – fuhr ich an den Wochenenden in die noch DDR um mit den Menschen in Grenznähe zu sprechen, mich über ihre Probleme und Sorgen, Hoffnungen und Wünsche zu informieren, sowie Hilfe im Umgang mit der West-Bürokratie anzubieten.
Sowohl vor 1989 als nach der Wiedervereinigung bestand ein, wenn nicht das entscheidende Interesse der „Brüder und Schwestern im Osten“, wie man sie leicht überheblich in Westdeutschland betitelte, darin, von den „Segnungen“ der neoliberalen, kapitalistischen Gesellschaft zu profitieren. Es ging den meisten Menschen in der DDR schlicht und ergreifend um westliche Waren und Konsum ohne Beschränkungen und Warterei.
Es kam anlässlich meiner Kontakte zu unterschiedlichen DDR Bürgern, selbst Verfolgten, also dem Regime gegenüber kritisch Eingestellten selten bis nie vor, dass sie an westlicher Literatur oder Büchern zu Politik und Geschichte aus westlicher Sicht interessiert waren. Was interessierte, waren Kataloge der westdeutschen Versandhäuser (Neckermann, Otto etc.), oder Modezeitschriften, damit sie zielgerichtet ihre finanziell völlig abgehobenen Wünsche an mich als Westbürger richten konnten. Die naive Vorstellung zahlreicher DDR Bürger vor der Wende bestand darin, wir als Westdeutsche wären alle Millionäre und könnten uns alles leisten. Folglich gingen meine Kontakte fast durchgängig davon aus, ich sei als Westler in der Lage, ihnen nahezu jegliche Konsumwünsche zu erfüllen.
Obwohl ich meinen Gesprächspartnern von den erniedrigenden, strengen Kontrollen bei Ein- und Ausreise in die DDR berichtete, was z.B. das Mitbringen von Katalogen oder Westzeitschriften zur Möglichkeit machte, an der Grenze verhaftet zu werden, äußerten sie den Wunsch nach diesen Dingen immer wieder. Ihnen war das Risiko, dass ich, im Beisein meiner Frau und Kinder auf mich nahm, völlig gleichgültig. Ihnen stand der Sinn nach Westwaren, und zwar den angesagten Labeln und Marken. Als wir der von uns finanziell unterstützten Familie für deren Kinder einen Koffer voller neu bei C&A erworbene Kinderkleidung mitbrachten, warf die Mutter die Sachen zornig auf den Boden und sprach von Plunder. Es musste Markenware sein, oder gar nichts. Dieselbe Frau leistete sich im Jahr 1990, als sie erstmals selbst ausreisen durften, um uns im Westen zu besuchen, als wir auf ihren Wunsch durch die Einkaufsmeile Hannovers schlenderten, allen Ernstes beim Anblick eines Nerzmantels im Schaufenster den absurden Wunsch, ich möge ihr umgehend diesen Netzmantel kaufen. Ihr Mann übergab mir am Abend ihres Ankommens eine DIN A4 Liste mit Zubehör und Ersatzteilen für Autos und Heimwerken. Als ich ihm sagte, dass er dies doch unmöglich alles für sich selbst benötigen könne, gab er zu, ein Großteil seiner Wunschliste bestehe in gut verkäuflichen Dingen, die er nach Rückkehr in die DDR zu Geld machen wolle.
Als ich die DDR Besucher fragte, wovon ich all ihre Wünsche bezahlen solle, und darauf hinwies, dass meine Frau keinen Pelz besaß – nicht nur aus finanziellen, sondern vornehmlich aus Tierschutzgründen – sahen sie mich verständnislos an. Tierschutz interessierte überhaupt nicht, und mein Argument, ich könne mir die Ausgaben nicht leisten, hielten sie für eine Lüge, um ihnen ihre dringenden, berechtigten Konsumwünsche böswillig zu verweigern.
Nach diesem beeindruckenden Gegenbesuch stellte ich den Kontakt zu besagter Familie ein. Wie ich später im Zusammenhang mit der Stasiaufarbeitung erfahren musste, war der Mann Zuträger der Stasi gewesen und hatte hübsche Dossiers über mich angelegt, d.h. doppelt abkassiert. Bei mir, dem dämlichen Westler, der helfen wollte, und bei der Stasi für seine aufopfernde Mitarbeit. Der gute Mann hat die Wende hervorragend bewältigt. Er besitzt seit 30 Jahren ein eigenes Haus und stieg im westdeutschen Grenzgebiet zur Führungskraft auf. Er wählt weder AfD noch BSW, sondern anfänglich CDU, inzwischen vermutlich FDP.
Ich gehe davon aus, solche persönlichen Erfahrungen hat Herr Pfeijffer nie gemacht?
Nach der Wende war ich vom Wunsch beseelt, meinen Teil zur Wiedervereinigung, die ich damals uneingeschränkt befürwortete, beizutragen. Also verließ ich eine äußerst lukrative Führungsposition im Westen und heuerte bei einem Unternehmen an, dem mehrere exponierte Immobilien in Ostberlin sowie drei ehemals staatseigene Verlage von der Treuhand zugefallen waren, die nun ins neoliberale, kapitalistische System integriert werden sollten. Das bedingte meinen Umzug nach Ost-Berlin, also in die ehemalige DDR.
Ich landete in der nach Wandlitz funktionärsverseuchtesten Ecke Berlins, in Pankow-Schönhausen. Ein paar Meter entfernt wohnte der letzte DDR Generalsekretär Egon Krenz, daneben die Witwe Walter Ulbrichts, Lotte. Auch der skandalumwitterte Alexander Schalck-Golodkowski hatte ein paar Querstraßen weiter einen Wohnsitz gehabt. Außer den ehemaligen SED Funktionären war dieser Teil Pankows, nahe Schloss Schönhausen, sehr beliebt bei DDR Intellektuellen und Künstlern. In einem Haus visavis über den Innenhof lebte Christa Wolf. Zwei Querstraßen weiter Henry Hübchen, noch drei Querstraßen weiter hatte Manfred Krug gelebt, bevor er ausgebürgert wurde. An den Rändern Pankows, Richtung Prenzlauer Berg, sowie eben dort, wohnten eine Reihe ehemaliger Bürgerrechtler, unter denen der Paradiesvogel Werner Fischer war, Regierungsbevollmächtigter zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, später Pressesprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen. Mit ihm habe ich mich diskussionshalber enorm gezofft, speziell nachdem ich herausfand, dass er die Bürgerrechtsbewegung, die von Frauen dominiert wurde, dazu nutzte, sich durch die Betten der Bürgerrechtlerinnen zu vögeln. Die Letzte blieb, als Fischer von der Stasi hochgenommen wurde, buchstäblich an ihm hängen: gemeinsam mit Bärbel Bohley wurde Fischer zur Ausreise nach England gezwungen. Ein halbes Jahr in damaliger Freiheit genügte, ihm Heimweh nach der DDR zu vermitteln. Er machte einen Deal mit der SED und durfte zurück ins gelobte Paradies, wo bereits seine eigentliche Lebensgefährtin samt gemeinsamer Tochter auf den Ausreißer warteten.
Es war ein überaus vielfältiges gesellschaftliches Milieu in dem ich mich Anfang der Neunziger niederließ und in dem ich mich anfreundete. Ich wurde in eine sog. „Hausgemeinschaft“ aufgenommen, ein Relikt, ursprünglich aus Hitlers Nazireich, mit einem Haus- bzw. Blockwart an der Spitze, von der DDR unter politisch anderem Vorzeichen übernommen und fortgeführt. Das in meinem Wohnhaus bestehende sozialistische Hauskollektiv nahm mich, den westlichen Kapitalisten, auf, und beide Seiten mühten sich vier lange Jahre redlich, einander näher zu kommen, eins zu werden, sozusagen Wiedervereinigung auf unterster Ebene zu vollziehen. Wir scheiterten an unserer unterschiedlichen Sozialisation.
Auch hier, im privaten Bereich, war außer der nach außen hin zelebrierten Freundschaft, die Saufgelage russischen Ausmaßes einschloss, das vorherrschende Motiv meiner neuen Ex-DDR Freunde das Materielle. Mein Auto war damals, kurz nach der Wende, in der Straße das einzige der automobilen Oberklasse. Insofern fiel ich schon durch mein Auto auf und wurde als „bunter Hund“ zur Zielscheibe unrealistischer finanzieller Ansinnen und Gefälligkeitsanfragen. Zugleich wurde ich als einziger Westler im ansonsten rein ostdeutschen Milieu schnell zur Zielscheibe der bereits damals beginnenden Kritik am westdeutschen Politik- und Wirtschaftssystem. So machte mich einer der neuen „Freunde“, ein aus politischen Gründen an der Humboldt-Uni geschasster Privatdozent, der hauchdünn vor seiner Beförderung zum Professor des SED Regimes gestanden hatte, für seine politisch motivierte Entfernung von der Uni, als Teil des kapitalistischen Systems mitverantwortlich für die Beendigung seines Traums von einer Professur.
Natürlich konnte ich den persönlichen Frust, die tiefe Enttäuschung sowie die existentiellen Ängste des Mannes verstehen, der wegen des „Regimewechsels“ seiner beruflichen Perspektiven beraubt worden war. Obwohl er letztlich weich fiel, ich ihm half, ein privates Forschungsinstitut zu gründen und damit eine Menge Westgeld zu verdienen, ein westdeutsches Unternehmen ihn als Experten engagierte und er richtig viel „Westkohle“ scheffelte, schließlich sein Institut nebst zugehöriger Firma für eine hohe Summe verkaufen konnte, trug und trägt dieser Mann seit der Wende – unabhängig seines wirklich großen Intellekts – einen sprichwörtlichen Dolch unter seinem Gewand. Er gehörte von Beginn an zu den Stammwählern von PDS und der späteren Linken. Obwohl er es nach westlichen Maßstäben geschafft hat, über hohes Einkommen und nun eine außerordentlich hohe Versorgung im Alter verfügt, hatte das westliche System bei ihm nie eine reale Chance. Er machte nie das ehemalige Unrechtssystem der DDR als Ursache seines beruflichen Scheitern verantwortlich, sondern das, mit seiner begeisterten Unterstützung ins Land geholte westlich-kapitalistische. Obwohl ein Gewinnler des Westsystems im wiedervereinten Deutschland, nun mit hoher Rente und Privatvermögen ausgestattet, die er dem verhassten System und nicht der DDR verdankt, kann er die empfundene Kränkung, als ein Akademiker, der dem alten Regime zu nahe war, für den es folglich keinen vergleichbaren Platz an der Uni geben konnte, nie verwinden. Ein Mensch unter Zahllosen, die in Pankow dafür sorgten, dass die Linke letzten Sonntag fröhliche Wiederauferstehung feierte. Der Kandidat, Gysi, nebenbei bemerkt, sowohl vom alten DDR System privilegiert, wie später vom westlich kapitalistischen, als Anwalt und Abgeordneter. Auch Gysi, vom Status her mehr erfolgreicher Kapitalist, denn Sozialist, ist nie ganz, sondern nur teilweise im wiedervereinten Deutschland angekommen. Auch mit ihm hatte ich beruflich bedingt zu tun – seine Kanzlei war einige Male für unser Unternehmen tätig. Im beruflichen Umfeld ganz Kapitalist, der höchste Honorare verlangt und einfährt, gibt er sich in der Freizeit in Pankow, wie nahe seiner Datscha im Märkischen als Sozialist.
Es hat nach meinem Dafürhalten sehr wohl überwiegend mit der ostdeutschen, DDR-DNA zu tun, weshalb die Mehrheit der Menschen in den Neuen Bundesländern dazu neigt rechts- oder linksradikal zu wählen. Es geht nach meinen vielfältigen persönlichen Erfahrungen in erster Linie um nicht verwundene, unverarbeitete persönliche Kränkungen und deren einseitige bis völlig ungerechtfertigte Schuldzuweisung an das inzwischen als fremd empfundene bundesrepublikanische Politik- und Gesellschaftsmodell.
Ich führte mit drei ostdeutschen Frauen eine mehrjährige Beziehung. Alle drei waren Akademikerinnen. Eine von ihnen war gleichaltrig, ist also inzwischen Rentnerin; die beiden anderen gehören der jüngeren Generation an und stehen noch im Berufsleben. Alle drei machten im wiedervereinigten Deutschland Karriere, verdienten und verdienen in leitender Position bzw. als Selbständige sehr hohe Einkommen. Jede von Ihnen müsste als erfolgreich Integrierte gelten. Jede entsprechende westdeutsche Frau würde sich und ihr Leben als erfolgreich betrachten und daraus berufliche wie private Zufriedenheit ziehen. Nicht so meine ehemaligen Lebensgefährtinnen. Sie eint eine spezielle Form eines DDR Minderwertigkeitskomplexes. Sie fühlen sich nicht als vollwertiger integraler Teil der deutschen Bevölkerung, sondern als eine Art Fremdkörper, als innerdeutsche Immigranten, die das inzwischen stark verklärte „Paradies“ ihrer Kindheit und Jugend – die DDR – als vermeintlich besseres Ideal dem real existierenden deutsch-demokratischen Modell gegenüber stellen. Unisono vermissen diese drei Frauen, wie meine zahlreichen Ex-DDR Bekannten und Freunde, die durch das Zwangssystem der DDR erzeugten Zusammengehörigkeitsgefühl im heutigen Familien- und Freundeskreis. Sie vermissen die vermeintliche Arbeitsgarantie der DDR, die mit Unfreiheit und Anpassung erkauft war. Sie vermissen das Eingesperrtsein samt den kleinen persönlichen Freiheiten innerhalb des unterdrückenden Systems, wie den Sommerurlaub an der streng bewachten Ostsee, das FKK, die geringen Mieten und Nebenkosten. Vergessend, in was für Bruchbuden sie dafür zu DDR Zeiten hausen mussten, wie primitiv es allgemein zuging, wie übergriffig und allgewaltig die Staatsmacht ihr Leben bestimmte. Solange man sich angepasste und die gewünschten Parolen nachplapperte, lebte man unterhalb des Stasi-Radars. Aber wehe, man fiel irgendwie auf. Dann war es aus mit dem Traum vom sicheren Arbeitsplatz, den Segnungen des Sozialismus. Dann landete man in einem Knastsystem der Willkür, der Folter und Unterdrückung. Aus dem gab es nur einen Ausweg: von dem damaligen wie heute wieder als „Klassenfeind“ empfundenen Wessis freigekauft und in den Goldenen Westen abgeschoben zu werden.
All diese „Nebensächlichkeiten“ blenden besonders jüngere Ex-DDR Bürger gerne aus, die zu jung waren, um derartige Erfahrungen als Erwachsene zu machen. Es ist leider so, dass zahlreiche „Sklaven“ sich lieber ihr Sklaverei-System zurückwünschen, als dem freien Spiel der zugegeben unfairen, kapitalistischen Gesellschaft der Bundesrepublik ausgesetzt zu sein.
Titelbild: Bolti22 CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR
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