Man könnte meinen, dass das Internet uns alle zu besser informierten Bürgern gemacht hat. Das Gegenteil ist der Fall, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Und das macht diese Welt zu einem so gefährlichen Ort. „Es wächst eine Generation heran, die nicht mehr lernt, nachzudenken, weil sie Lernprozesse an die Technologie auslagert.“

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 14. Juli 2025

In dem Film „The Remains of the Day“ von James Ivory aus dem Jahr 1993, der auf einem Roman von Kazuo Ishiguro basiert, gibt es eine herzzerreißende Szene, in der Lord Darlington, gespielt von James Fox, mit seinem Gast Spencer, gespielt von Patrick Godfrey, darüber diskutiert, ob das allgemeine Wahlrecht wünschenswert sei.

Spencer, der das allgemeine Wahlrecht als lächerliche Absurdität betrachtet, wendet sich unerwartet an den Butler Mr. Stevens, gespielt von Anthony Hopkins, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Er stellt ihm Fragen über die Folgen der Abschaffung des Goldstandards, über den Völkerbund und über die Lage in Abessinien, woraufhin der Butler, der in der Situation gefangen ist wie eine Motte in einem Glas und der darum kämpft, seine Würde zu bewahren, dreimal nichts anderes zu antworten weiß als: „I’m sorry, Sir, but I’m unable to be of assistance in this matter.“ („Es tut mir leid, Sir, aber ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein.“) Spencer blickt triumphierend auf seinen Gastgeber und sagt: „You see? This is the kind of person who now gets to vote.“ („Sehen Sie? Das ist die Art von Mensch, die jetzt wählen darf.”)

Diese fiktive Szene, die sich in den 1930er Jahren abspielt, erinnert uns zu dem daran, dass Informationsvermittlung und Bildung grundlegende Voraussetzungen für das Funktionieren eines demokratischen Systems sind. Der politische Philosoph Giuseppe Mazzini, der intellektuelle Architekt des italienischen „Risorgimento“(*) in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hat in mehreren Schriften betont, dass Volkssouveränität ein bewusstes und informiertes Volk erfordert. Er betrachtete Demokratie als ein Projekt der kollektiven Bildung. Ohne Bildung kann Demokratie nicht existieren.

Barack Obama, der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, sagte, dass eine Demokratie nur funktionieren kann, wenn die Menschen die Wahrheit erfahren können. „Und um die Wahrheit zu erfahren, brauchen wir eine unabhängige Presse.“ Sein Vorgänger Thomas Jefferson, der dritte Präsident, formulierte es noch prägnanter: „Wenn ich zwischen einer Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne Regierung wählen müsste, würde ich mich ohne zu zögern für Letzteres entscheiden.“

Das wussten wir alle schon lange, ebenso wie wir uns dessen bewusst sind, dass diese beiden Säulen der demokratischen Debatte, Bildung und freie Nachrichtenbeschaffung, von verschiedenen Seiten untergraben werden. Regierungschefs mit autoritären Ambitionen wie Donald Trump, der 47. und derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten, versuchen nicht ohne Erfolg, sich ein Monopol auf die Wahrheit zu verschaffen, indem sie die Presse und die Bildungseinrichtungen unter ihre Kontrolle bringen.

Leckere Häppchen

Diktatoren profitieren von einem gefügigen, dummen und unwissenden Volk. Populisten werden immer bei der Bildung sparen. Sie werden fordern, dass Bildungsprogramme ihre Werte vermitteln, sie werden die der Wissenschaft innewohnenden Zweifel missbrauchen, um sie zu diskreditieren, und sie werden unliebsamen investigativen Journalismus in Qualitätszeitungen als krampfhafte Bemühungen einer volksfeindlichen Elite darstellen. All dies erleben wir täglich.

Was wir hingegen vielleicht nicht vollständig erfassen, ist, dass technologische Entwicklungen die Erosion der unabhängigen Informationsposition einzelner Bürger beschleunigen und dass dabei zu viel böse Absicht im Spiel ist, als dass man von einem bedauerlichen Nebeneffekt sprechen könnte. Die digitale Revolution untergräbt nicht nur das Wissen um die Fakten, das für die Teilnahme am demokratischen Diskurs unverzichtbar ist, sondern beginnt auch, das Urteilsvermögen zu beeinträchtigen, das die Grundlage für die Abwägung dieser Fakten und der darauf basierenden Argumente bildet.

Es ist das viel diskutierte Paradox des Internets, dass die Fülle an frei verfügbaren Informationen zu schlechter informierten Bürgern geführt hat. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir mit Hilfe unserer sorglosen Finger Zugang zu so viel Wissen, aber gleichzeitig verstehen wir immer weniger davon.

Da Google uns die Illusion vermittelt, dass wir alles wissen können, was es zu wissen gibt, haben wir keinen Respekt mehr vor Menschen, die studiert haben, um Dinge zu verstehen. Fakten werden unter alternativen Fakten begraben, und die Wahrheit wird durch Meinungen in Frage gestellt, die die Fakten ebenfalls zu einer Meinung reduzieren. Diskussionen, die das Herzstück der Demokratie sind, werden unmöglich, weil keine Einigung mehr über die Fakten erzielt werden kann, die diesen Diskussionen zugrunde liegen sollten.

Die stürmische Einführung generativer künstlicher Intelligenz fügt der Zersetzung der Demokratie eine ganz neue Dimension hinzu

Diese Mechanismen können nur zum Teil auf die Dummheit der Nutzer zurückgeführt werden. Das Geschäftsmodell der beliebtesten Internetseiten basiert auf dem Prinzip, dass den Nutzern immer mehr Häppchen von dem vorgesetzt werden, was ihnen zuvor geschmeckt hat. Dass die Gesellschaft fragmentiert wird, Vorurteile gefestigt werden und ständig auf die Bestätigungsneigung eingegangen wird, ist das Ergebnis einer bewussten Strategie.

Es stimmt zwar, dass das Internet vielen böswilligen Menschen ein beispielloses Instrumentarium für die Verbreitung von Propaganda und bewusster Irreführung an die Hand gibt, aber die Zersetzung der demokratischen Gesellschaft durch die Algorithmen, die Klicks und Werbeeinnahmen generieren sollen, ist auf lange Sicht verhängnisvoller.

Der rechtsextreme Kandidat für die französischen Präsidentschaftswahlen 2022, Eric Zemmour, hatte sich versprochen. „Ich sehe nur, was ich glaube”, sagte er. Dieser Versprecher war unbeabsichtigt ein perfektes Motto für die heutige Zeit.

Konstrukte als Fakten

Die stürmische Einführung generativer künstlicher Intelligenz wie ChatGPT fügt dem Zersetzungsprozess der Gesellschaft eine völlig neue Dimension hinzu.

Zu Beginn des Sommers wurden in Italien, wie auch anderswo in Europa, die Ergebnisse der Abiturprüfungen bekannt gegeben. Ich sah Feiern von erfolgreichen Teenagern mit Freunden und Familienangehörigen, bei denen ein Stuhl für ChatGPT freigehalten wurde, wie ein Pappschild deutlich machte, das für diesen Ehrengast auf den Stuhl gestellt worden war.

In letzter Zeit habe ich vielleicht zehn verschiedene Meinungsartikel und Leserbriefe in verschiedenen Zeitungen aus verschiedenen Ländern gelesen, in denen Lehrer darauf reagieren, wie künstliche Intelligenz ihre Aufgabe und ihre Rolle als Lehrer erschwert und fast unmöglich macht.

Sie wissen, dass alle Hausaufgaben, die sie aufgeben, von ChatGPT gemacht werden. Sie wissen, dass alle Bücher der Literaturliste von ChatGPT zusammengefasst wurden. Sie wissen, dass jeder Aufsatz und jede Hausarbeit von ChatGPT geschrieben wurde.

Das Problem ist, dass unser Bildungssystem auf die Bewertung von Ergebnissen ausgerichtet ist. Dafür bekommt man eine Note, und diese Noten sind von zentraler Bedeutung. Die Schüler und Studenten haben Recht, wenn sie denken, dass ChatGPT bessere Ergebnisse erzielt als sie selbst. Aber was in dieser fatalen Kombination aus Ergebnisorientierung und Bequemlichkeit völlig verloren geht, ist der Lernprozess. Der Schweiß, die Anstrengung, die Mühe, die Fehler, die Frustration: Das sind die Zutaten für Verbesserung und Entfaltung, die durch den Einsatz künstlicher Intelligenz eliminiert werden.

Zudem habe ich in letzter Zeit von schätzungsweise zehn verschiedenen wissenschaftlichen Studien gelesen, die auf unterschiedliche Weise belegen, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt.

Probanden, die ChatGPT zur Ausführung einer bestimmten Aufgabe verwendet hatten, konnten das Ergebnis im Gegensatz zu denen, die alles selbst erledigen mussten, anschließend kaum reproduzieren. Andere Wissenschaftler hatten die Gehirnaktivität gemessen. Die Schlussfolgerungen waren immer dieselben.

Aber auch in der Wissenschaft ist der Einsatz künstlicher Intelligenz nicht ohne Risiken. Unlängst habe ich mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen der Universität Genua gesprochen. Sie schätzen, dass 95 bis 98 Prozent aller aktuellen wissenschaftlichen Publikationen mit Hilfe künstlicher Intelligenz entstanden sind.

Jeder, der ChatGPT schon einmal genutzt hat, weiß, dass die Software zwei gefährliche Mängel aufweist: Erstens will die Software gefallen, folglich verstärkt sie Voreingenommenheiten, und zweitens ist das Programm in seinem Bestreben, den Nutzer zu erfreuen, durchaus in der Lage, zu fabulieren und reine Erfindungen als Fakten zu präsentieren.

Gewissenhafte Wissenschaftler überprüfen alles zigfach, aber es gibt Publikationsdruck und Deadlines, sodass manchmal Unsinn durchrutscht. Diese Desinformation findet dann in Form einer als zuverlässig geltenden Publikation ihren Weg ins Internet, wo sie von ChatGPT wiedergefunden und als maßgebliche Referenz genutzt wird. Künstliche Intelligenz verschmutzt die Quelle, aus der sie trinkt. Die Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen, mit denen ich gesprochen habe, war über dieses Phänomen ernsthaft besorgt.

Wir wissen, wer von der Zersetzung der Demokratie profitiert. Sie saßen bei Trumps Amtseinführung in der ersten Reihe

Giuliano da Empoli weist in seinem jüngsten Essay „Die Stunde der Wölfe” darauf hin, dass KI ein Machtfaktor ist, der sich immer mehr Befugnisse aneignen wird, und er warnt davor, dass die Algorithmen der künstlichen Intelligenz ein kafkaeskes Schloss errichten, in dem ohne jegliche Transparenz und menschliche Kontrolle immer wichtigere Entscheidungen in einem immer unerreichbareren und schwieriger fassbaren Bollwerk unmerklich summender Effizienz getroffen werden.

Während das Spukschloss Gestalt annimmt, haben wir, die Menschen im Tal, den Überblick und die Kontrolle über die Fakten und die Wahrheit verloren, wodurch wir immer schlechter miteinander reden können und eine Generation heranwächst, die nicht mehr zu denken lernt, weil sie Lernprozesse an diese Technologie auslagert. Nachdem die Echokammern des Internets den Wissensstand der Bürger ausgehöhlt haben, untergräbt nun künstliche Intelligenz ihr Urteilsvermögen.

Diese Entwicklungen sind kein Naturphänomen, sondern ein menschliches Produkt, mit dem viel Geld verdient wird. Wir wissen, wer die Männer sind, die von der Zersetzung der Demokratie profitieren. Sie saßen bei Trumps Amtseinführung in der ersten Reihe. Aufgrund ihrer Interessen sind sie die lächelnden Verbündeten des Politikers, der seine antidemokratischen Ambitionen in einem Wirbelwind aus Chaos und Desinformation umsetzt.

Und ich frage mich, was wir hier tun, Sie und ich. In einer Welt, in der Wahrheit und Denken erodieren, sind wir mit unserem Hang zu Fakten und Analysen zu einem lebenden Anachronismus geworden. Diese Essays sind machtlose Kampfparolen in einem hoffnungslosen Rückzugsgefecht. Möchten Sie, dass ich mit einer hoffnungsvollen Perspektive und Lösungsvorschlägen schließe? I’m sorry, Sir, but I’m unable to be of assistance in this matter. (Es tut mir leid, Sir, aber ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein.)

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(*) Risorgimento = die Epoche der italienischen Geschichte von 1815 bis 1870, in der die italienische Nationalstaatsgründung vorbereitet und umgesetzt wurde.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 12. Juli 2025 unter dem Titel „We weten wie de mannen zijn die profiteren van de sabotage van de democratie“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild:  © Hanna Penzer, 2025

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Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

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