Gedanken zum Buch von Ramon Schack „Das Zeitalter der Idiotie – wie Europa seine Zukunft verspielt“.

Von Friedhelm Grützner

Der Titel dieses Buches veranlasst mich zu einigen Reflexionen über die Frage: Wer oder was ist überhaupt „Europa“?

Nachdem 1863 auf damals russischem Territorium der zweite große polnische Aufstand gegen die zaristische Fremdherrschaft ausgebrochen war, vereinbarten Russland und Preußen in vertrauter Partnerschaft (oder als Komplizen) die „Alvenslebensche Konvention“, die es russischen Truppen erlaubte, flüchtende Polen auch auf preußisches Gebiet zu verfolgen. Der britische Botschafter protestierte darauf heftig bei der preußischen Regierung mit dem Satz: „Europa wird dies niemals zulassen“, worauf Bismarck kühl erwiderte: „Who is Europe?“ – Als (nach mündlicher Mitteilung Wolfgang Eichwedes, welcher als Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen in Osteuropa bestens vernetzt ist) knapp 130 Jahre später ein Vertrauter Helmut Kohls der polnischen Regierung versicherte, sie würde in Deutschland stets einen „Anwalt“ ihrer Interessen finden, erhielt er als Antwort: „Wir brauchen keinen ‚Anwalt‘. Wir sind doch keine Verbrecher! Aber wir wissen, dass Ihr Deutschen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch mit den Russen gemeinsame Sache gegen uns gemacht und unser Land unter Euch aufgeteilt habt. Wir Polen wissen auch, dass Großbritannien und Frankreich 1939 trotz Beistandsgarantien und formeller Kriegserklärung keinen Finger für uns rührten, als Deutschland und die Sowjetunion uns überfallen haben. Wir vertrauen daher einzig und allein den USA, wenn es um unsere Sicherheitsinteressen geht.“ Damit wären wir wieder bei der Frage angelangt: Wer oder was ist „Europa“? Oder mit Otto von Bismarck: „Who is Europe?

Wenn wir „Europa“ über das 19. Jahrhundert hinweg – und im Grunde bis 1945 – betrachten, dann unterteilt sich dieses in einen westlichen Raum, der maßgeblich durch Großbritannien und Frankreich bestimmt wurde, und in die östlichen „Ordungsmächte“ Russland, Österreich und Preußen, die sich 1815 – 1853 mit der „polnischen Leiche im Keller“ in der Heiligen Allianz zusammenfanden. Als Ausgangspunkt für die westeuropäische Entwicklung während des 19. Jahrhunderts hat der marxistische Historiker Eric Hobsbawm (worin ihm der Weberianer Hans Ulrich Wehler gefolgt ist) den Begriff der „Doppelrevolution“ geprägt. Diese „Doppelrevolution“ umfasste die Industrielle Revolution in England am Ende des 18. Jahrhunderts und die politische Revolution in Frankreich im Jahre 1789 als zunächst voneinander getrennte Ereignisse. Sie fanden dann aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zueinander und verbreiteten sich gemeinsam sukzessiv über den westlichen Kontinent (Julirevolution 1830 und industrieller „take off“ in Frankreich, Parlamentsreform in Großbritannien 1832, Revolutionen von 1848, sukzessiv eintretende konstitutionelle Einschränkungen monarchischer Macht, Abschaffung feudaler Einrichtungen). Kapitalismus, Liberalismus und bürgerliche Demokratie auf der einen Seite und die sozialistische Arbeiterbewegung als der mit ihnen dialektisch verbundene Widerpart waren und sind die Ergebnisse der „Doppelrevolution“, die auch heute noch den „Westen“ kulturell und ökonomisch prägen.

Wer oder was ist „Europa“ – oder „Who is Europe“ (Bismarck)? Wenn wir das von Eric Hobsbawm vertretene Modell der „Doppelrevolution“ zugrundelegen, dann sind die USA unzweifelhaft auch Bestandteil der (west)europäischen Kultur. Der Kapitalismus entwickelte sich dort viel ungehemmter als in Westeuropa, da die feudalen Hemmnisse von vornherein fehlten. Sowohl die ideellen als auch die personellen Verknüpfungen zwischen der Unabhängigkeitserklärung der USA vom 4. Juli 1776 und der französischen Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 waren recht eng. Einer der Gründerväter der USA, Thomas Paine („The Right of Man“), gehörte 1792 auch dem französischen Revolutionskonvent an. Der Marquis de Lafayette kämpfte auf Seiten der Aufständischen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und war eine bedeutende Person am Beginn der Französischen Revolution (und dann wieder in der Julirevolution 1830 beim Sturz der Bourbonen). Eine wichtige Vermittlerrolle spielte zu jener Zeit Thomas Jefferson als amerikanischer Botschafter im revolutionären Paris. Bei allem sollten wir nicht vergessen, dass die USA in den beiden Weltkriegen „Europa“ zweimal vor dem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ gerettet haben.

Wer oder was ist „Europa“ – oder „Who ist Europe“ (Bismarck)? Gehört Russland noch dazu, wenn es sich heute als eine eigenständige „eurasische Zivilisation“ versteht, die sich ganz bewusst von der westeuropäischen Kultur abgrenzt? Dieser slawophile Exzeptionalismus, der „Gayropa“ seine „Dekadenz“ vorhält, ist ja nicht eine Erfindung Putins, sondern durchzieht die russische Geschichte als Gegengewicht zu den „Westlern“. Seine Affinität zu den antiwestlichen (und präfaschistischen) Adepten der deutschen Konservativen Revolution ist überdeutlich. Ein mit Oswald Spengler und Carl Schmitt angereicherter „Eurasismus“, wie ihn derzeit die russische Führung vertritt, mag ja in alter gegenaufklärerischer Verbundenheit die AfD beeindrucken, aber er steht in einem fundamentalen Gegensatz zu einem „Europa“, für dessen politische Kultur normativ die europäische Aufklärung, der angelsächsische Konstitutionalismus und die Menschenrechtserklärung von 1789 maßgebend sind.

Titelbild: Sarah Kat CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

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Friedhelm Grützner ist promovierter Historiker und Mitglied der LINKEN in Bremen.

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