Von Frederik D. Tunnat

Ich glaube, eine erhebliche! Wie durch ein Brennglas, mit grotesker, schonungsloser Offenheit, hat die Pandemie, während der vergangenen 16 Monate, unser Aller Leben durchgeschüttelt. Vieles, was vorher gewiss und ehernes Gesetz schien, hat sich als Schimäre entpuppt. Die Pandemie hat unsere hoffnungslos überforderte Regierung samt der Politiker in Bundes- und Landtagen vorgeführt und offen gelegt, wie hoffnungslos überfordert sie einerseits von der überfallartig ausgebrochenen Pandemie waren, sowie andererseits vielfach keinen Mut noch kreative Ideen entwickelten, um des Virus Herr zu werden.

Schon kurz nach Beginn der Pandemie, im Frühjahr des letzten Jahres, begannen die Unkenrufe, dergestalt, dass es aus dem medialen wie sozialen Walde schallte: „Die Globalisierung hat sich überholt“; „Nichts wird mehr so sein und sein können, wie zuvor“; „Wir benötigen einen Neuanfang“.

Von den hoffnungsschwangeren Rufen nach einem Aufbruch zu neuen Ufern ist nach der dritten Virus-Welle wenig mehr geblieben, als ein Rückzug ins Private. Niemand, schon gar kein Politiker, hat laut gedacht, hat begonnen, kluge Strategien für einen Neustart nach dem Ende der Pandemie vorzudenken, geschweige denn planend vorzubereiten. Alle wollen nur so schnell als möglich zurück zum Status Quo.

Doch in einem einzigen Punkt sind sich Medien und Öffentlichkeit einig, und das seit über einem Jahr: der durch das Virus erzwungene Rückzug ins Home-Office, das lang andauernde Verweilen in den „eigenen“ vier Wänden, die bei genauerem Hinschauen ja nur rund 45% der Deutschen ihr Eigen nennen können, während für 55% die sie umgebenden Wände ihrer Wohnungen und Häuser gemietet sind, sprich Anderen gehören, hat allenthalben dazu geführt, dass von einem neuen Biedermeier geschrieben und geredet wird.

Corona und der Rückzug ins Private: Ein neues Biedermeier? fragte die Badische Zeitung am 03.04.2020. Hilfe, Corona macht uns alle zu Spießern! Titelte Die Welt am 21.05.2020. Corona-Pandemie führt in ein neues Biedermeier, glaubte die Wiener Zeitung am 21.10.2020. Leben wir gerade in einem neuen Biedermeier oder nur in einer schlechten Kopie davon? fragte die Neue Züricher Zeitung per 3.3.2021. Last but not least glaubte der NDR: Corona: Eine Renaissance des Biedermeier, am 19.03.2021. Noch intensiver setzte sich die Forschungsgruppe Medienwandel mit der Frage: „Durch Corona ins neue Biedermeier“ am 3.5.2020 auseinander und verlautbart: „In der aktuellen Situation rund um die Corona-Pandemie will sich die Bevölkerung sicher fühlen. Menschen wollen vertrauenswürdige Nachrichten zu jeder Zeit beziehen können. Warum der Fernseher gerade eine Renaissance feiert und uns das in ein neues Biedermeier führen könnte. Biedermeier ist für viele zuerst ein Möbelstil. Wer weiterdenkt, verbindet Biedermeier mit dem Rückzug ins gemütliche Privatleben in der Familie und mit schöner Wohnen. Doch das Zeitalter war auch Metternichs Polizeistaat, geprägt von Zensur in sämtlichen – vor allem künstlerischen – Lebensbereichen. Menschen verloren ihre politische Mitbestimmung und zogen sich in ihre häusliche Privatsphäre zurück“.

Die vermeintliche Rückbesinnung auf den häuslichen Bereich, das den Engländern seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten vertraute „My home is my castle“, wird jedoch, wie fast immer, wenn Deutsche nostalgisch zurück blicken auf das, was der Volksmund „Die gute alte Zeit“ nennt, märchenhaft verbrämt. Die Realität, das Historische wird ausgeblendet; in der Regel mangels ausreichenden Wissens um eben das Historische, sprich die eigene Vergangenheit, wie die des Landes.

So bleibt denn bei dem Biedermeier-Vergleich der Medien, bis auf die wackere Forschungsgruppe Medienwandel, die wahre geschichtliche Dimension der Biedermeierzeit, die politisch-geschichtlich „Restauration“ genannt wird, ausgeblendet und auf die angeblich so heimelig-gemütliche Wohnsituation der Zeit beschränkt.

Tatsächlich haben zahlreiche Deutsche während der Pandemie erkannt, wenn sie, statt wie bisher, 12-14 Stunden täglich im Büro und auf dem Weg dorthin verbracht haben, nun 24 Stunden lang Zuhause sind, dass vielfach ihre Wohnverhältnisse dem nicht angemessen gewachsen waren. Folglich wurde der Sparstrumpf geplündert – zumindest von Denen, die nicht Soloselbständig sind oder sonst wie wegen der Pandemie ihren Job und damit ihr Einkommen verloren haben- und es wurde heftig in neue Möbel und eine Gemütlichkeit des Wohnens investiert, auf dass die Schornsteine der Möbelfabriken und Küchenhersteller nur so qualmen und mit den plötzlichen, zahlreichen Aufträgen gar nicht nachkommen, was zu Lieferzeiten von bis und über einem halben Jahr geführt hat.

Doch die Rückbesinnung auf das Biedermeier, als eine Folge der Pandemie, nur im Hinblick auf die Wohnsituation wird der damaligen Situation in keiner Weise gerecht. Denn wie die Forschungsgruppe zu Recht anführte, war das Biedermeier eine Zeit der politischen Repression, der Überwachung, der Denunziation, des freiwillig und gewaltsam Eingesperrtseins.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis in Bezug auf die diesjährige Bundestagswahl. Während Querdenker, Reichsbürger, Rechte wie Linke ihr ganz eigenes Süppchen aus der Gemengelage, die die Pandemie mit ihren Beschneidungen unserer Bürgerrechte und Verfassungsmäßig verbrieften Rechten verursacht hat, zu kochen versuchen, stellt sich die für einen nicht unerheblichen Bevölkerungsteil traurig-triste Realität so dar: wie zu Zeiten des Biedermeier, die auch eine Zeit der beginnenden Industrialisierung und massiven Ausweitung des Kapitalismus darstellte, hat sich durch die Pandemie und die von der Politik verfügten Reaktion darauf für einen Teil der Gesellschaft eine existenzbedrohende Situation eingestellt. Für mehrere Hunderttausende, wenn nicht einige Millionen, ist der Job und damit das Einkommen weggebrochen. Andere stehen vor den Scherben ihrer Karriere, ihrer Träume, ihrer Selbständigkeit.

Während ein gewisser Teil der Bevölkerung unter den Folgen der Pandemie emotional wie ökonomisch entsetzlich zu leiden hat, gibt es, wie in jeder Krise, einen Bevölkerungsteil, der zu den Krisengewinnern zählt. Das sind z.B. die Herren Immobilienbesitzer und Vermieter.

Unbeeindruckt von der eingetretenen Situation und den dadurch für die Betroffenen ausgelösten existentiellen Problemen, haben sie munter nicht nur immer weiter die Preise für Mieten und Nebenkosten erhöht; sie hätten, wäre die Regierung nicht vorsorglich eingeschritten, auch munter zwangsgeräumt und die säumigen Zahler vor die Tür bzw. auf die Straße gesetzt. Dieser worst case ist jedoch bisher sowohl für viele Mieter wie für kleine Firmen und Solo-Selbständige nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Das böse Erwachen bzw. das dicke Ende kommt erst noch, wenn die Moratorien auslaufen, und Insolvenz anzumelden ist, bzw. wieder auf Zwangsräumung geklagt werden kann.

Bedauerlicherweise liegen für die ach so heimelige, in der Erinnerung verbrämte Biedermeierzeit keine verlässlichen, Deutschlandweiten Zahlen vor, anhand derer man die heutigen Pandemie-Verhältnisse mit jener vor 200 Jahren vergleichen könnte. Doch vom letzten Quartal des 19. Jahrhunderts liegen Daten und entsprechende Berichte zuhauf vor. Das Fatale an den folgenden Daten und Zahlen: sie scheinen wie eine Blaupause für den Teil unserer Bevölkerung zu gelten, die auf Hartz IV angewiesen sind, sprich Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Aufstocker, prekär Beschäftigte, und, all Jene, die nur wegen der Pandemie ihre Existenz, ihren Job, ihr Einkommen verloren, und nun ebenfalls auf das angewiesen sind, was wir Hartz IV nennen. Was die Daten und Fakten von vor 140 – 130 Jahren zu heute aufzeigen ist erschütternd und beschämend zugleich: die Verhältnisse gleichen sich auf fatale Art und Weise. Damit wird spätestens deutlich, weshalb die Bundestagswahl dieses Jahres eine Schicksalswahl darstellt, da sie über mindestens zwei völlig unterschiedliche Wege und Herangehensweisen, sprich Reaktion auf die Pandemie und die ihr wie der Globalisierung zugrunde liegenden Verhältnissen entscheiden wird.

Wer sich daher durch den erzwungenen Rückzug ins Private, in die Wohnung an das Biedermeier erinnert fühlt, der lese bitte sehr sorgfältig die folgenden Zeilen und gewichte die darin enthaltenen Zahlen. Sie zeigen unmissverständlich, weshalb wir einen Systemwechsel benötigen, eine neue, andere Regierung, und völlig neue Antworten auf die aktuellen wie akuten Probleme, seien sie wirtschaftlicher oder ökologischer Natur.

Berlin im Jahr 1887: „Berlin ist zur größten Mietskasernen-Stadt Europas geworden. 77 Menschen leben in einem Haus. 1861 waren es im Durchschnitt noch 48 Einwohner pro Haus. 22,6 Prozent aller fünfstöckigen Mietskasernen werden von 100 bis 300 Menschen bewohnt. Unter diesen kalten Zahlen verbirgt sich eine noch kältere Wohnungsnot. In je einem Raum, den man nur als Wohnloch bezeichnen kann, hausen drei, vier und mehr Personen. Zwei Drittel der Berliner Volksschulkinder haben 1887 kein eigenes Bett. Sie schlafen zu zweit, dritt und viert in einem Verschlag. Und es wird in den nächsten Jahren noch viel, viel schlimmer werden. Berlin wächst, platzt aus allen Nähten. Eine 2-Zimmer-Wohnung der schlechtesten Bauklasse im 4. Stock eines Vorderhauses im Wedding kostet 26 Mark Miete monatlich. (312 Mark im Jahr) Dort wohnen Handwerker und Facharbeiter, die in der Woche durchschnittlich 22 Mark verdienen“. (Entspricht 1.144 Mark im Jahr)

Übrigens entspricht dieser Handwerkerlohn 8.150 Euro in 2021. Was wiederum nahezu dem durchschnittlichen Hartz IV Satz für einen Alleinstehenden Berliner entspricht. Das bedeutet, für die geschildert katastrophalen Wohnverhältnisse mussten die zitierten Mieter 27,3% ihres Einkommens aufwenden, zzgl. 4,5-5% für Heizung, d.h. ihre sog. Warmmiete betrug 1887 31,8 bis 32,3%. Gar nicht so anders, als im Berlin des Jahres 2021, wobei längst nicht so viele Menschen unter ähnlich unhygienischen Verhältnissen leben, wie damals. Dennoch: Wie kann es angehen, dass wir nach Jahrzehnten des sozialen Wohlstands erneut ähnliche Verhältnisse vorfinden, wie knapp 140 Jahre früher?

Der Sozialdemokrat Hans B. (22) erzählt der ,,Berliner Zeitung”: „Wir leben als sechsköpfige Familie in Stube und Küche, die auch gleichzeitig als Werkstatt dient. Mein Vater ist Schneider für Uniformen.” Etwas Derartiges würde die heutige deutsche Bürokratie und die örtlichen Bestimmungen und Verordnungen verbieten: es ist in Berlin mehr als kompliziert, für das Betreiben eines Gewerbes in seiner Privatwohnung eine Genehmigung zu erhalten.

Berlin, im Jahr 1892: „So verdient zum Beispiel ein Former in einer Bronzewerkstatt im Jahr 1.700 Mark. Davon braucht er für Miete 259 Mark, Haushalt 924 Mark, Steuern 30 Mark, Krankenkasse 13 Mark, Heizung 45 Mark, Kleidung 12,50 Mark, Arzt und Apotheke 20 Mark, Zeitungen u.ä. 3 Mark. Verschiedenes wie Wäsche, Getränke, Tabak, Parteibeiträge 226 Mark. Das macht zusammen 1592,50 Mark. Also bleiben ihm als ,,Notgroschen” im Jahr 107,50 Mark“.

  • Rechnen wir das auf heutige Verhältnisse um:
  • 1.700 Mark Lohn entsprechen 11,420 Euro 2021
  • 259 Mark Miete entsprechen 1.750 Euro 2021
  • 45 Mark Heizkosten entsprechen 300 Euro in 2021
  • 924 Mark für Lebensmittel entspricht 6.210 Euro in 2021
  • 30 Mark Steuern entsprechen 200 Euro in 2021
  • 13 Mark für Krankenkasse entsprechen 87 Euro in 2021
  • 226 Mark für Verschiedenes entspricht 1.520 Euro in 2021

Es wird zweierlei deutlich an dem Preis- und Lebenshaltungskosten-Index Vergleich zwischen 1892 und 2021:

  1. Die Kosten fürs Wohnen sind in der Gegenwart im Verhältnis weit höher, als vor 130 Jahren
  2. Die Steuern waren deutlich geringer, ebenso die sog. Sozialabgaben, siehe Krankenkasse
  3. Fällt eine fatale Ähnlichkeit der Kostenaufstellung mit den aktuellen Hartz IV Werten auf, wobei den Menschen damals deutlich mehr für ihren privaten Genuss und Konsum zugestanden wurde, und, noch erstaunlicher, sogar Parteibeiträge.

Unsere heutigen Politiker sollten sich die unzweideutigen Zahlen – sie entstammen zwei entsprechenden Zeitungsberichten der Berliner Zeitung von vor 130-140 Jahren – einmal zu Gemüt führen, und sich voller Scham fragen, wie es angehen kann, dass die Einkommens- und Lebensverhältnisse eines Großteils der heutigen Bevölkerung (wir sprechen hier von je Interpretation einem Drittel bis der Hälfte der deutschen Bevölkerung 2021) ähnlich schlimm, in mehreren Aspekten gar trostloser und finanziell grausamer gestaltet sind, als zu Zeiten des verschrienen Zeitalters des Imperialismus, des verpönten preußischen Kaiserreichs und damit zu Zeiten einer Nicht-Demokratie.

Was soll an solchen Zuständen und Verhältnissen, ehrlich gefragt, Menschen davon überzeugen, dass es für sie von Vorteil ist, in einer Demokratie zu leben? Damals gab es weit mehr Arbeit statt Arbeitslose, doch die ökonomische Repression, wie sie aktuell durch Hartz IV auf Arbeitslose, Mini-Jobber, Alleinstehende mit Kind, Aufstocker, Zeitarbeiter etc. ausgeübt wird, ist für die Betroffenen psychologisch wie effektiv um ein Vielfaches beängstigender, destruktiver, zerstörerischer, als die aus den Zeitungsartikeln herauslesbaren Lebensumstände. Es ist eine Schande für unser politisches System, eine Schande für unsere Parteien und Politiker.

Kein Wunder, dass sich in den Umfragen vor der anstehenden Bundestagswahl eine enorme Wechselstimmung zeigt. Ich kann meine Mitbürgerinnen und Mitbürger, speziell Jene in prekären und inakzeptablen Arbeits- und Lebensverhältnissen nur dringend auffordern, von ihrem verbliebenen Bonus an demokratischen Rechten – ihrem Wahlrecht – Gebrauch zu machen, und jene Parteien zu wählen, die in ihren Wahlprogrammen und Aussagen die Bereitschaft zeigen, die inakzeptablen aktuellen Verhältnisse zu Gunsten der Betroffenen zu verändern, und adäquat auf die Folgen der Pandemie, der sozialen Verwerfungen, wie der Klimakatastrophe reagieren.

Diese Parteien gibt es, es gibt auch rechnerische Koalitionsmöglichkeiten. Worauf es bei der Wahl im Frühherbst ankommt ist, wählen zu gehen, und nicht falschen Versprechungen aufzusitzen, sondern kühlen Kopf zu bewahren, und diejenige Partei zu wählen, die bereit und in der Lage ist, die notwendigen Veränderungen einzuleiten wie umzusetzen.

Titelbild: Dennis Skley CC BY-ND 2.0 via FlickR

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