Von Jürgen Klute

Am 1. Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, am 24. Februar 2023, hat die chinesische Regierung ein 12-Punkte-Papier vorgelegt, in dem sie Eckpunkte für eine Beendigung des Krieges benennt.

Auf russischer Seite lösten die chinesischen Vorschläge eher Irritationen aus, wie Stefan Scholl am 25.02.2023 in der Frankfurter Rundschau schrieb („Chinas Friedensvorschläge irritieren Russland“). Das lag laut Scholl unter anderem an der „Forderung Chinas, die Souveränität und territoriale Unverletzlichkeit aller Länder zu wahren, außerdem den Aufruf, keine Atomwaffen einzusetzen“.

Aber auch im Westen stieß das chinesische Papier nicht auf Begeisterung, sondern wurde überwiegend mit Skepsis aufgenommen. Ein häufig zu lesender Einwand ist, dass die chinesische Seite nicht unparteiisch, nicht neutral sei. Das ist ohne Zweifel richtig. Aber welcher von den in Frage kommenden Staaten, die über ausreichend politischen und militärischen Einfluss verfügen, um auf Russland Einfluss nehmen zu können, wäre neutral? Die USA und die Nato sind ebenso parteiisch wie China. Neutralität und Unparteilichkeit zu einem zentralen Kriterium für eine glaubhafte Vermittlerrolle in diesem Krieg zu machen, ist also wenig zielführend, weil es keine relevanten Akteure in diesem Konflikt gibt, die neutral oder unparteiisch sind. Politik heißt in einem solchen Kontext, die Packenden zu finden, die sich zu einem für alle direkt Beteiligten zu einem akzeptablen und tragfähigen Interessenausgleich zusammenbinden lassen.

Daher halte ich es für sinnvoll und richtig, sich die Vorschläge der chinesischen Regierung genauer anzuschauen und nach möglichen Anknüpfungspunkten zu suchen, die Perspektiven für eine Beendigung des Krieges und die Entwicklungen eines langfristig tragfähigen Friedensvertrages eröffnen.

In den letzten zwei Wochen sind mir vier Artikel in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen aufgefallen, die in die von mir gezeigte Richtung denken und argumentieren. Die will ich hier kurz vorstellen und zur Lektüre empfohlen.

Da ist zunächst die detaillierte und differenzierte Analyse des chinesischen Papiers von Felix Wemheuer in der Luxemburger Zeitung WOXX zu nennen. Wemheuer ist Sinologe an der Universität Köln. Sein Beitrag erschien am 11.03.2023 unter dem Titel „Chinas Haltung zum Ukraine-Krieg: Strategische Autonomie gesucht“. Wemheuer arbeitet sehr genau die Stärken und Schwächen des chinesischen Papiers heraus.

Der zweite Artikel erschien am 18.03.2023 in der taz unter dem Titel „China ist in einem Dilemma“, geschrieben von China-Experte Cheng Li. Für Li leidet auch China unter diesem Krieg und ist durchaus an dessen Ende interessiert. Allerdings, so legt Li dar, hat China eher ein Interesse an einer multipolaren Weltordnung und von daher eben kein Interesse an einer zu weitgehenden Schwächung Russlands bei einer gleichzeitig starken erneuten Zunahme einer globalen Dominanz der USA. Zwischen diesen Polen sucht China nach Li’s Einschätzung nach einer politischen Lösung des jetzigen Krieges zwischen Russland und der Ukraine.

Am 21.03.2023 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau ein Interview mit Wolfgang Ischinger, dem früheren Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Überschrieben ist das Interview mit dem Titel „Wolfgang Ischinger: Für China ist es nützlich, wenn der Ukraine-Krieg andauert“. Dieser Titel klingt allerdings negativer als Ischinger dann im Interview:

„Ich hielt und halte es für einen strategischen Fehler, Chinas Papier vom Tisch zu wischen. Unter den vorgelegten zwölf Punkten finde ich exakt einen, den der Westen tatsächlich ziemlich kategorisch ablehnen muss. Das ist der Punkt, in dem China sagt: Sanktionen sind so lange illegal, wie sie nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatiert sind. Da beißt sich die Katze in den Schwanz, denn dann müsste Russland gegen sich selbst Sanktionen erlassen. In allen anderen elf Punkten ist meines Erachtens hinreichend viel Fleisch am Knochen, um in ein Gespräch mit der chinesischen Seite einzusteigen.“

Ischinger sieht zwei wesentliche Probleme auf Seiten des Westen. Zum einen hält er die EU bislang für unzureichend vorbereitet auf die Zeit nach einem Ende der Kampfhandlungen. Und in den USA sieht er einen riskanten Mangel an einem konstruktiven Umgang mit China.

Und schließlich möchte ich noch auf einen interessanten Text zu Clausewitz hinweisen – also zu dem nicht ganz unbekannten preußischen Kriegstheoretiker. Es ist ein Essay von Christian Th. Müller in der taz vom 23.03.2023: „Krieg in der Ukraine: Frag mal Clausewitz“. Müller ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und hat sich sich in seiner bisherigen Forschungsarbeit intensiv mit Clausewitz und seiner Theorie zum Krieg befasst.

Auf dem Hintergrund der Theorie von Clausewitz analysiert Müller die derzeitige Debatte um den Ukraine-Krieg. Sein Hauptkritikpunkt: Für einen Krieg seien keineswegs die einzelnen Waffengattungen und Waffenlieferungen, die seit Beginn des Krieges im Zentrum der Debatten im Westen stehen, entscheidend, sondern entscheidend sei vielmehr das politische Ziel und die (sicherheits-)politische Strategie, die mit einem Krieg verbunden sind und den Krieg prägen. Für Müller mangelt es dem Westen aber genau daran. Er fasst seinen Essay mit den folgenden Sätzen zusammen:

„Das reicht sicherlich nicht aus, um Kriege zu gewinnen. Aber es bietet gute Voraussetzungen dafür, schwerwiegende strategische Fehler und deren nicht selten gravierenden Folgen zu vermeiden. Seine wohl wichtigste Erkenntnis ist aber die der umfassenden politischen Bedingtheit eines jeden Kriegs. Kriege sind dabei nicht nur politische Akte, sondern sie werden auch durch die ihnen zugrunde liegenden politischen Verhältnisse und Motive geprägt.

Der entscheidende Gesichtspunkt bei ihrer Betrachtung ist daher immer der politische. Ohne den Krieg zunächst politisch zu denken, die politischen Verhältnisse zu analysieren und die politischen Zwecke festzulegen, ist die Entwicklung einer Strategie, die zum gewünschten politischen Ergebnis führt, logischerweise nicht möglich.

Mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet dies, dass es höchste Zeit ist für eine umfassende Debatte darüber, wie dieser Krieg beendet und wie die sicherheitspolitische Ordnung in Osteuropa sowie das Verhältnis zu Russland künftig gestaltet werden soll.“

Müller geht zwar auf das chinesische 12-Punkte-Papier nicht ein. Aber in den von Müller benannten zentralen Punkten scheint das chinesische Papier sich von der westlichen Betrachtungsweise des Krieges deutlich abzusetzen: Es denkt diesen Krieg politisch, begreift ihn als “politischen Akt“, um eine Formulierung von Müller aufzunehmen. Auch die Argumentation von Ischinger unterstreicht diesen Unterschied. Demnach läge die Chance und die Stärke des chinesischen 12-Punkte-Papiers darin, den Krieg wieder als “politischen Akt”, ihn wieder in seiner politischen Dimension zu begreifen. Für die von vielen zu recht geforderte politisch-diplomatische Beendigung des Krieges wäre das eine fundamentale Voraussetzung: Wer den Krieg nicht politisch, nicht als “politischen Akt” denken kann, kann ihn schlecht politisch-diplomatisch beenden.

Insbesondere Forderungen aus der Friedensbewegung haben einen dichotomischen Blick auf Krieg auf der einen sowie Politik und Diplomatie auf der anderen Seite, wenn sie formulieren, dass der Krieg endlich durch diplomatische Verhandlungen beendet werden müsse. Diese Forderungen übersehen allerdings, dass der Krieg Putins aus Putins Sicht teil eines umfassenden politischen Aushandlungsprozesses ist. Sicher ist es richtig, Krieg als Instrument politischer Aushandlungsprozesse zu ächten, wie es innerhalb der Europäischen Union gelungen ist. Für Putin scheint hingegen Krieg ein akzeptables und wirksames Mittel im Rahmen politischer Aushandlungsprozesse zu sein. Anders lassen sich der russische Überfall auf Ukraine und auch die anderen Kriege, die Putin in den letzten 20 Jahren geführt hat, nicht erklären. Dem muss wohl oder übel Rechnung getragen werden. Entscheidend bleibt allerdings, dass es oberstes politisches Ziel ist, Krieg als Mittel politischer Aushandlungsprozesse wieder zurückzudrängen und zu ächten.

Es reicht allerdings auch nicht, Politik durch Moral zu ersetzen. Selbstverständlich hat Politik sich an moralischen Zielen zu orientieren – an aller erster Stelle an den Menschenrechten. Aber wenn Politik nur noch wertebasiert agiert, dann läuft sie in eine Sackgasse. Werte kann und muss man respektieren. Und der Respekt muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Allerdings sind Werte wenig Kompromiss affin. Deshalb läuft eine wartebasierte Politik m.E. sehr schnell auf einen ideologisch-missionarischen Kampf um Wahrheiten hinaus, der Kompromisse zumindest enorm erschwert wenn nicht sogar gänzlich unmöglich macht. Daher habe ich starke Zweifel, dass eine wartebasierte Politik zu einer politischen Lösung von Konflikten beitragen kann. Das widerspricht ihrer inneren Logik.

Eine diplomatisch-politische Lösung eines Konfliktes setzt eine grundlegende Anerkennung des Konfliktgegner und seiner Interessen voraus – natürlich immer auf der Basis der Gegenseitigkeit. Allein auf einer solchen Grundlage lässt sich eine dauerhaft tragfähige Konfliktlösung vorstellen. Das Chinesische 12-Punkte-Papier lässt sich durchaus als Versuch interpretieren auszuloten, inwieweit eine Basis für eine gegenseitige grundlegende Anerkennung vorhanden ist, die dann Fundament einer politischen Aushandlung der vorhandenen gegenläufigen Interessen werden könnte. Deshalb sollten die EU und die Nato das chinesische Papier ernst nehmen. Sie selbst haben bisher keinen besseren Vorschlag vorgelegt. Das das Papier nicht das letzte Wort in diesem Prozess ist, sondern ein erstes, dem weitere folgen müssen, sollte eigentlich klar sein.

Wie ein Frieden zwischen Russland und der Ukraine konkret werden könnte und welche politischen Aushandlungsspielräume es derzeit geben dürfte, hat Paul Schäfer in einem Artikel ausgelotet, der in der nächsten Ausgabe der humanistischen Zeitschrift „Vorgänge“ unter dem Titel „Wie der Krieg gegen die Ukraine beendet werden kann“ erscheint. Vorab ist der Artikel aber bereits auf der Webseite von Paul Schäfer einsehbar.

Siehe auch …

Titelbild: Drizzle in 2022 by RANT-73 Digital Art CC Public Domaine via FlickR

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