Von Frederik D. Tunnat
In den Sozialen Medien werden, wie allseits bekannt, tagtäglich diverse „Säue“ durch die emotional aufgeladenen Gassen cloudbasierter globaler „Dörfer“ namens Tik-Tok, Instagram, Reddit oder Facebook gejagt. Eine dieser gejagten „Säue“ nennt sich: „Boomer waren fiese Eltern und werden im Alter immer fieser“. Eine andere, überaus beliebte Treibjagd ist jene auf die Socialmedia-Sau „Boomer waren miserable, autoritäre Erzieher“, im Gegensatz zu den, sich selbst als überlegen und weichgespülte Erzieher empfindenden Millennials. Eine andere, weshalb „muslimische Mütter Machos am Fließband produzieren“?
Unter den aktuellen medialen Säulenheiligen ragt eine selbsternannte Expertin und Erziehungsberaterin hervor, deren Auszeichnung darin bestehen soll, selbst Mutter dreier Kinder zu sein. Sie propagiert die sog. Bedürfnisorientierte Erziehung und behauptet: „Unsere Großeltern, die Nachkriegsgeneration, haben autoritär erzogen – keine Gefühle, keine Tränen“. Ferner vertritt die selbsternannte Erziehungsexpertin die Ansicht, die Eltern der Millennials, also die Boomer, seien zwar bereits weniger streng gewesen, doch eben immer noch unfähige Eltern und Erzieher, eben fies. Heutige Erziehung, also die von Millennials in Anspruch genommene bedürfnisorientierte Erziehung, sei die einzig wahre Erziehung, da sie ohne Prügel erziehe, und einen liebevollen Umgang mit ihren Kindern etabliere. „Das ist ein Privileg“, erklärt die Expertin, und tut so, als habe es vor ihr und ihrer Generation keine bedürfnisorientierte Erziehung gegeben. Für meine Generation, die Boomer, hat sie immerhin eine tröstliche Erklärung: „Unsere Eltern und Großeltern waren damit beschäftigt, grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen“: Essen auf dem Tisch, Dach über den Kopf, gesicherte Verhältnisse. Die vor Erziehungs- und Lebensweisheit überquellende Expertin weiß deshalb auch: „Deswegen wird bedürfnisorientierte Erziehung oft [nur] in gut situierten Haushalten gelebt“, denn wer existenzielle Sorgen habe, so die „Expertin“, habe keine Kapazitäten darüber nachzudenken, woher seine Denkmuster kommen und wieso er/sie Kinder anschreit. Auf eine derart mit Weisheit gesegnete Expertin habe ich mein Leben lang gewartet, eventuell aber auch nicht.
Was die selbsternannte Expertin nicht wissen kann – woher auch – ist, dass ich, als Teil der „fiesen Boomer-Eltern-Generation“, gemeinsam mit mehreren tausenden, wenn nicht gar einigen zehntausend Eltern meiner Generation, unseren Kindern angstfreies Lernen und ein angenehmes menschliches Miteinander in der Schule ermöglichte, indem wir sie einer Waldorfschule anvertrauten. Wie eine, anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Waldorfschulen durchgeführte bundesweite Untersuchung ergab, soll das Bildungsniveau und der sozioökonomische Status bei Waldorf-Eltern überdurchschnittlich hoch sein. Waldorf-Eltern üben, laut Untersuchung, vielfach anspruchsvolle Tätigkeiten aus und verfügen über überdurchschnittliche Einkommen. In diesem Punkt decken sich Vorurteile der Bevölkerung also mit den Untersuchungsergebnissen. Was jedoch weit mehr als höhere Einkommen und beruflicher Status zählt: Eltern von Waldorf-Schülern sind signifikant offener für neue Erfahrungen, legen mehr Wert auf eine selbstbestimmte Lebensführung ihrer Kinder und bringen Umwelt und Mitmenschen eine höhere Wertschätzung entgegen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zugleich leben sie weniger Konformität, bemühen seltener Traditionen und lehnen die vorgegaukelte Sicherheit eines starken, autoritären Staates öfter und deutlicher ab, als die Masse deutscher Eltern. Das Ergebnisse besagter Untersuchung.
Insofern nehme ich gern für mich in Anspruch, wiewohl Boomer, meine Kinder, auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen, erzogen zu haben, wie viele Eltern meiner Generation, die ich kannte und kenne. Die Ermöglichung angstfreien Lernens und gleichberechtigten Miteinanders, wie es an Waldorfschulen gepflegt wird, war nur einer von mehreren Bausteinen bedürfnisorientierter Erziehung, die wir, „fiese Boomer“-Eltern, unseren Kindern zuteilwerden ließen, noch bevor die selbsternannte Expertin auf die Welt kam. Auch wenn die heutige Elterngeneration das offenbar unisono in Abrede stellt, da die Betreffenden offensichtlich das Pech hatten, in einem weniger bedürfnisorientierten Elternhaus aufgewachsen zu sein.
Ein überaus beliebtes Beispiel, das heutige, angeblich gute Eltern gern anführen, um zu verdeutlichen, worin sich ihre „bedürfnisorientierte“ Erziehung von der meiner „fiesen“ Boomer-Generation unterscheidet, bezieht sich auf das allseits bekannte Phänomen des bockigen, trotzigen, schreienden Kindes im Supermarkt. In der Tat verdrehen nicht wenige Menschen meiner Generation, also der Rentnergeneration, die Augen, wenn sie Zeugen des Kampfes zwischen einer überforderten jungen Mutter und ihrem bedürfnisorientiert „verzogenem“ Kind werden. Denn das mit stolzgeschwellter Brust vorgetragene Argument, eben jenes ausflippende Verhalten des eigenen Kindes beweise, wie gut sie, als Mutter, auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehe, indem sie ihm, ohne einzuschreiten erlaube, zu schreien und so seine berechtigten Ansprüche zu formulieren. Dass die angeblich berechtigten Ansprüche eines solchen Schreihalses darin liegen, eine der feilgebotenen Süßigkeiten in Kassennähe haben zu wollen, und sich dazu eines Verhaltens zu befleißigen, das ausschließlich die eigenen Bedürfnisse berücksichtigt und in den Mittelpunkt stellt, statt die ebenfalls legitimen Bedürfnisse der vielen anderen Supermarktbesucher zu berücksichtigen, fällt bei derartiger Argumentation selbstverständlich unter den Tisch. Bedürfnisorientierte Erziehung als uneingeschränkte Durchsetzung egoistischer Motive!
In meinen Augen hat derartig praktizierte, einseitig auf das Kind interpretierte Bedürfnisauslegung und -befriedigung einen gewaltigen Haken: Der soziale Aspekt bleibt völlig auf der Strecke. Kinder, die durch derartige Erfahrungen lernen, gnadenlos stets die eigenen Bedürfnisse, in der Regel auf Kosten anderer Menschen, durchzusetzen, können keinerlei soziales Verhalten entwickeln, das lebensnotwendig ist, um in einer interagierenden, zwischenmenschlichen Gesellschaft anerkannt, toleriert und akzeptiert zu werden.
Die von mir praktizierte, bedürfnisorientierte Erziehung schloss von Beginn an stets die seit Kant gültige und bekannte goldene Regel ein: „alles aber, was du willst, dass es dir nicht geschehe, das tue auch du keinem anderen“. Mit anderen Worten: bedürfnisorientierte Kindererziehung kann niemals bedeuten, dass ein Individuum, zumal ein Kind, seine eigenen, vielfach berechtigten Bedürfnisse ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse anderer Menschen ausleben darf. Für mich liegt hierin, im Vermitteln und Begreifen dieser elementaren Tatsache, dass wir als Menschen nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer Gesellschaft leben, in der die Bedürfnisse aller Menschen ständig und immer wieder aufeinander treffen. Insofern besteht ein, wenn nicht das wesentlichste Element der Erziehung eines Kindes für mich darin, ihm zu verdeutlichen, verständlich zu machen, dass es viele überaus legitime Bedürfnisse gibt, die auszuleben, berechtigt und angemessen ist, jedoch freiwilliger Einschränkung immer dann und dort bedarf, wo die eigenen Bedürfnisse mit denen eines oder gar mehrerer Anderer kollidieren. In diesem Fall, der eher die Regel, denn die Ausnahme darstellt, haben verantwortungsbewusste Eltern die Aufgabe, ihrem Kind zu vermitteln, dass und wie es die eigenen Bedürfnisse anpassen bzw. beschränken kann.
Der entscheidende Unterschied zwischen autoritärer und bedürfnisorientierter Erziehung besteht darin, auf welche Art und Weise Eltern ihrem Kind dies vermitteln. Autoritäre Eltern werden, statt zu erläutern oder zu argumentieren, körperliche Züchtigung einsetzen, oder massive, verbale Gewalt. Entsprechend des Alters eines Kindes ist, solange dessen Gehirn und damit Verständnis nicht ausreichend entwickelt ist, kein vernunftbasiertes Erläutern oder gar Argumentieren möglich, so sehr man als Eltern auch bedürfnisorientiert erziehen möchte. Hier sind sowohl Konsequenz, Geduld und überaus entscheidend, das eigene Beispiel, sprich das vorlebende Beispiel als Eltern elementar. Dieses Verhalten im Umgang mit dem eigenen Kind, speziell während dessen Säuglings- und Kleinkindphase, ist äußerst schwierig, aber machbar.
In keinem Fall sollte bedürfnisorientierte Erziehung zu einer bedingungslosen Akzeptanz unsozialen, egoistischen Verhaltens von Kindern führen. Wie sehr gerade betroffene Kinder selbst unter dem Mangel an vorgegebenen Verhaltensregeln und Leitplanken im sozialen Zusammenleben leiden, hat das Verhalten der im antiautoritären Experiment „Summerhill“ aufgewachsenen Kinder bewiesen. Als Erwachsene, die eine angeblich vollständige bedürfnisorientierte Erziehung der antiautoritären Art genossen hatten, beschwerten sie sich bei ihren Eltern bitterlich darüber, sie sich völlig selbst überlassen zu haben. Sie wünschten sich nachträglich jenes Maß an konsequenter Erziehung, die es ihnen ermöglicht hätte, ohne ständig im Zusammenleben mit anderen Menschen und deren Bedürfnisse zu kollidieren, und so mühsam die eigenen Grenzen aufgezeigt zu bekommen, dass dies ihre Eltern geleistet hätten – was ihre Pflicht und ihr Liebesdienst gewesen wäre. Die ehemaligen Summerhillkinder beweisen, dass das komplizierte menschliche Miteinander nicht erlernt werden kann und nicht funktioniert, wenn Eltern bedürfnisorientiert mit laissez-faire verwechseln. Verwöhnte Prinzessinnen und Prinzen werden selten glückliche Mitglieder der sie umgebenden und mit ihnen interagierenden Gesellschaft, schon gar keine guten Eltern.
Bester Beweis dieser Aussage sind die sogenannten Machos. Diese sich als besonders „männlich“ gebärdenden Männer sind im Grunde genommen völlig verunsicherte, an einem falschen, ihnen überhaupt nicht angemessenem Vorbild verformte Männer. Das besonders Tragische und Fatale: Es waren ihre eigenen, sie über alle Maßen liebenden Mütter, die dies bewerkstelligten, die die eigenen Söhne mit einem Bild von unrealistischem Männlichkeitswahn konfrontierten, sie zu Verächtern des weiblichen Geschlechts und zu lächerlichen Abziehbildern eines überholten, archaischen Männerbildes machten, das mit der realen Welt kollidiert und sich sein Ventil in Gewalt und Verbrechen sucht.
Es ist aufschlussreich und bezeichnend zugleich, dass es vornehmlich arabisch- und türkischstämmige Psychologen/innen wie Ahmet Topak oder Deniz Baspinar sind, die als Migranten der zweiten Generation in Deutschland, sich an den Opfern des Machismus arabisch-türkischer Mütter auf ihren Couchen abarbeiten, via Fachbüchern und Artikeln zum Thema Aufklärung betreiben. Sie benennen die Qualen der jungen dritten oder gar vierten Einwanderergeneration, vornehmlich der muslimischen Männer: „Wer hat die Macht in der türkischen Familie? Der Mann jedenfalls nicht. Die Kluft zwischen der Macht, die ihm zugeschrieben wird, und der real erlebten Ohnmacht ist groß“, so Deniz Baspinar. „Der Junge ist zwar frei, trägt aber gleichzeitig Handschellen. Eine sehr anspruchsvolle Erwartungshaltung trifft auf zur Unselbstständigkeit erzogene Söhne. Den von den Eltern gesetzten Zielen können viele nicht gerecht werden. Diese ambivalente Rolle der Mutter und die damit verbundenen Konsequenzen möchte ich konkretisieren“, schreibt Ahmet Topak.
So oder so: ob muslimische oder deutsche und europäische Mütter. Ihnen kommt die alles entscheidende Rolle bei der Erziehung ihrer Kinder, speziell ihrer Söhne, zu. Bedürfnisorientiert dabei mit verwöhnender, bedingungsloser, unkritischer Liebe und dem Vermitteln falscher, einseitiger, egoistischer Verhaltensmuster zu verwechseln, ist nicht nur äußerst kontraproduktiv, sondern geradezu lebensgefährlich für einige junge Menschen, wie das ungebremste Aufeinandertreffen muslimischer Machos auf die maximal geschlechtsspezifisch verwirrten jungen Menschen Deutschlands, Opfer der jüngsten, missverstandenen, angeblich bedürfnisorientierten Erziehung ihrer Mütter, tagtäglich beweist. Als da wären: Messerattacken, Vergewaltigungen, religiös motivierte Morde auf der einen Seite, Gendersternchen, geschlechtsneutrales Verhalten, Suche nach dem empfundenen Geschlecht auf der anderen.
Beider Mütter haben ihren Sprösslingen einen gewaltigen Bärendienst erwiesen, haben keine, falsche oder zu wenige Leitplanken vorgegeben, haben ziemlich deutlich an den Bedürfnissen ihrer Kinder, speziell der Söhne, vorbei „verzogen“, statt zu erziehen. Dieses häusliche Desaster kann das völlig überforderte, durch zahllose Reformen maximal verunsicherte Bildungs- und Erziehungssystem Deutschlands selbstverständlich weder aufarbeiten, noch korrigieren. Statt sich, wie in der Vergangenheit, stets und ständig auf bereits „verzogene“, in eine falsche gesellschaftliche Richtung tendierende Kinder und Jugendliche zu kaprizieren, wäre es weit aussichtsreicher und erfolgversprechender, sich der „verziehenden“ Mütter anzunehmen und deren Vorstellungen von kindgerechter „bedürfnisorientierter“ Erziehung zu verändern, diese der realen Situation im 21. Jahrhundert, in Europa, mit wachsender muslimischer Minderheit anzupassen. Das Bildungs- und Schulsystem kann nur dann flankierend und helfend eingreifen, wenn die in den Familien, in der Regel von den Müttern gelegte Basis den heutigen Realitäten angepasst wird, statt fehlgeleitete Erziehung vergeblich im Nachgang korrigieren zu wollen.
Es handelt sich weniger um ein Problem der unterschiedlichen Erziehungsstile der Boomer und Millennials, als vielmehr um die völlig konträren Erziehungsstile zwischen derzeit konzeptionslos-konfus erscheinenden Deutschen und dem religiös-archaisch muslimischen Einwanderer-Müttern. Wenn es in absehbarer Zukunft nicht gelingt, das Bewusstsein und die Erziehungsmethoden der gegenwärtigen und künftigen Mütter signifikant zu verändern, erübrigen sich Diskussionen über Erziehungsstile und Methoden, wie eingangs dargestellt, da diese weder kompatibel sind, noch mit der Realität des 21. Jahrhundert korrespondieren – weder der archaisch-muslimische noch der woke-weichgespülte, indifferente deutsche.
Titelbild: Tofu Animalpunk CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR
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