Eine Wiederwahl Donald Trumps stellt eine Bedrohung für den Rechtsstaat dar, da er ein Volksmandat als Sieg über das Rechtssystem betrachten könnte, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Die populistische Idee, den Willen des Volkes über das Gesetz zu stellen, droht auch in Europa den demokratischen Rechtsstaat zu untergraben.

Von Ilja Leonard Pfeijffer | 9. Juni 2024

Am Donnerstag, den 30. Mai, wurde Donald Trump von den Geschworenen eines New Yorker Gerichts in allen 34 Anklagepunkte wegen Betrugs im Zusammenhang mit der Zahlung von Schweigegeld an die Pornodarstellerin Stephanie A. Gregory Clifford, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Stormy Daniels, mit der er im Jahr 2006 eine Affäre hatte, für schuldig befunden.

Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt wurde, aber noch wichtiger ist, dass es das erste Mal in der Geschichte sein wird, dass ein verurteilter Straftäter für die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika kandidiert, und wenn man sich die aktuellen Umfragen ansieht, hat er eine sehr reale Chance, tatsächlich gewählt zu werden.

Außerdem ist dieser Prozess, in dem er nun verurteilt wurde, nicht das einzige Verfahren, in dem er sich zu verantworten hat. Trotz der pikanten Verbindung zur schillernden Pornowelt war dies der kleinste und unbedeutendste Prozess von allen. Gegen ihn läuft noch ein weiteres Bundesstrafverfahren wegen des Verdachts der unrechtmäßigen Aneignung vertraulicher Dokumente, die er zudem an Unbefugte weitergegeben haben soll, sowie ein Bundesstrafverfahren, in dem ihm vorgeworfen wird, zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 aufgerufen zu haben, ein Bundesverfahren wegen angeblicher Beeinflussung der Wahlergebnisse 2020 im Bundesstaat Georgia und ein Zivilverfahren im Bundesstaat New York wegen Immobilienbetrugs.

Eiserne Logik

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass diese weiteren Verfahren noch vor den Präsidentschaftswahlen abgeschlossen werden, wird die Wiederwahl von Donald Trump, falls sie im November zustande kommt, unweigerlich im Lichte dieser Gerichtsverfahren interpretiert werden, und zwar insbesondere von ihm selbst. Es ist nicht undenkbar im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, dass er seinen Wahlsieg als einen Sieg über das Rechtssystem begreifen und darstellen wird.

Bereits am 30. November 2023 veröffentlichte die Washington Post einen beunruhigenden Longread des Analysten Robert Kagan zu diesem Szenario, in dem er die eiserne Logik ausführlich darlegt, der zufolge dies zu einer Diktatur in den Vereinigten Staaten führen könnte. Denn wenn Trump trotz oder gerade wegen seiner juristischen Probleme ein demokratisches Mandat gewinnt, kann er sagen, dass das souveräne amerikanische Volk die nicht demokratisch gewählten Richter überstimmt hat, weshalb er dann keinen Grund mehr hat, sich an das Gesetz zu halten.

Wenn er seinen Wahlsieg als Sieg über den Rechtsstaat ausgibt, dann kann er alle Gesetze ignorieren, die ihn behindern, einschließlich des in der Verfassung verankerten Prinzips, dass er maximal zwei Amtszeiten als Präsident absolvieren kann. Wenn dies geschieht, dann werden die Wahlen im November die vorerst letzten in Amerika sein.

Man könnte argumentieren, dass der derzeitige Urnengang [die Europawahlen vom 9. Juni 2024] sogar noch wichtiger ist als die US-Präsidentschaftswahlen. Gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten ist dies sicherlich der Fall. Mit 361 Millionen Wahlberechtigten in 27 Mitgliedsstaaten sind die Wahlen zum Europäischen Parlament nach Indien die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt. Während die Amerikaner im November den Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Welt wählen, wählen wir derzeit die Abgeordneten für das Soft-Power-Bollwerk, das Europa sein könnte.

Der italienische Journalist und Schriftsteller Federico Rampini beschrieb die Europäische Union als eine „pflanzenfressende Supermacht“, die von Fleischfressern umgeben ist. Auch wenn wir Gefahr laufen, dass dieses Epitheton durch die aggressive Lobby der Agrarindustrie auf eine andere Art und Weise zutrifft als Rampini es meinte, ist es eine treffende Metapher für die wünschenswerte Rolle Europas in der Welt.

Angsthaserei

Der Einsatz, um den es geht, ist bei beiden Wahlen vergleichbar. Auch in Europa wird der demokratische Rechtsstaat durch den immer stärkeren Zulauf zu politischen Kräften in Frage gestellt, die in den Institutionen eher ein Hindernis als einen Schutz sehen. Vertreter dieses auktorialen Populismus sind auf nationaler Ebene in mehreren europäischen Ländern an die Macht gekommen, wie zum Beispiel Viktor Orbán in Ungarn, Robert Fico in der Slowakei, Giorgia Meloni in Italien und Geert Wilders in den Niederlanden. Nach diesem Wochenende [8./9. Juni 2024; am 9. Juni fanden in Belgien auch die föderalen und regionalen Wahlen statt] wird sich wahrscheinlich auch Belgien in die traurige Liste der Länder einreihen können, in denen die Rechtsextremen die größte Partei stellen. In Schweden sind die Populisten Teil der Regierungskoalition. In Österreich, Frankreich, Deutschland, Spanien und Portugal sind sie ein zunehmend bedeutender Machtfaktor.

Bei den derzeit stattfindenden Europawahlen geht es nicht darum, ob die Rechtspopulisten gewinnen, sondern darum, ob sie genug gewinnen, um den politischen Kurs der Europäischen Union weitreichend zu beeinflussen. Sie werden keine Mehrheit im Europäischen Parlament gewinnen, das ist nicht zu befürchten, und sie werden auch nicht als größte politische Bewegung aus diesen Wahlen hervorgehen. Doch nach den Mechanismen, die wir in mehreren europäischen Mitgliedstaaten beobachtet haben, brauchen sie auch keine Mehrheit, um einflussreich zu sein, weil die etablierten politischen Parteien deren Positionen schlicht aus der Angst vor der Wählerschaft übernehmen. Wir beobachten dies bereits in Europa am Beispiel der Abschwächung des Green Deal und der Verschärfung der Maßnahmen gegen Migration.

Nach seiner Wiederwahl kann Trump behaupten, dass das souveräne amerikanische Volk die nicht-demokratisch gewählten Richter überstimmt hat

Was den Einfluss des Rechtspopulismus nach dieser Wahl noch verstärken könnte, ist die Tatsache, dass Ursula von der Leyen darauf hofft, als Präsidentin der Europäischen Kommission wiedergewählt zu werden, und dass sie dazu wahrscheinlich die Stimmen eines der rechtsextremen Blöcke benötigen wird. Sie liebäugelt bereits mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR), zu der auch die N-VA [Nieuwe-Vlaamse Alternatief = Neu-Flämische Alternative; eine nationalistische Partei im flämischen Teil Belgiens] und Melonis Partei Fratelli d’Italia [Italienische Brüder] gehören, während sie die Fraktion Identität und Demokratie (ID), zu der unter anderem der Vlaams Belang [Flämischer Bund; faschistische Partei im flämischen Teil Belgiens], das Rassemblement National [Nationale Versammlung, früher: Front National; faschistische Partei in Frankreich] und die Lega [= Liga; faschistische Partei in Italien] von Matteo Salvini gehören, vorerst ausschließt. Für sie ist das entscheidende Merkmal von „Salonfähigkeit“ die bedingungslose Unterstützung der Ukraine und nicht der Respekt vor den Institutionen des demokratischen Rechtsstaates.

‚Schande!‘

Im Juli des Jahres 406 v. Chr. fand vor der Küste der Aiolis in der Nähe der Inselgruppe Arginousai, dem heutigen Makronisi, eine Seeschlacht zwischen der athenischen Flotte und der Flotte von Sparta statt. Obwohl die Athener eine unterlegene Ausgangsposition hatten, gelang es ihnen dank einer klugen Strategie ihrer Admiräle, die Schlacht zu gewinnen. Es war ein Wunder, das den Fall Athens vorerst abgewendet hatte.

Am Tag nach der Seeschlacht brach ein Sturm los, der die Athener daran hinderte, die Ertrinkenden zu retten und die Toten zu bergen. Als die siegreiche Flotte nach Athen zurückkehrte, wurden die Befehlshaber nicht als Helden begrüßt, sondern der Nachlässigkeit bezichtigt. Anstelle von Jubel, Erleichterung und Danksagungen wegen des spektakulären Sieges und der Rettung Athens herrschten in der Stadt Trauer, Wut und Schuldzuweisungen wegen der Ertrunkenen, die nicht gerettet, und der Toten, die nicht geborgen werden konnten.

Während einer emotionalen Sitzung der Bürgerversammlung, die von Angehörigen in Trauerkleidung dominiert wurde, geriet die offensichtliche Wahrheit – dass ein Sturm eine Rettungsaktion unmöglich gemacht hatte – immer mehr aus dem Blickfeld. Im Strudel der aufgepeitschten Emotionen und Unterstellungen verlor die einfache Tatsache, die alles erklärte, einfach an Gewicht, da die Menge mittlerweile weniger an einer Klärung als an einer Verurteilung interessiert war. Die Empörung, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte, verlangte nach einem Sündenbock und konnte nicht mehr mit einer nüchternen Fakten abgewehrt werden.

Der Populist Kleophon inszenierte sich mit großem Eifer als Sprachrohr der allgemeinen Empörung. Er verlangte die Todesstrafe für die Generäle und forderte die Bürger auf, unverzüglich darüber abzustimmen. Natürlich erhoben sich daraufhin einige Männer und machten verfahrensrechtliche Einwände geltend. Sie wiesen darauf hin, dass die Volksversammlung nicht befugt sei, die Generäle zu verurteilen, da dies nach athenischem Recht allein in die Zuständigkeit des Gerichts falle.

Daraufhin brach Kleophon in Wut aus. „Verrückter kann es nicht mehr werden“, rief er. „Athen ist eine Demokratie. In einer Demokratie trifft das Volk die Entscheidungen, ob es den elitären Sophisten und anderen unmoralischen Schwätzern gefällt oder nicht. Es wäre lächerlich, wenn das Volk durch Regeln daran gehindert würde, das zu tun, was es will. Es ist eine Schande, dem Volk das Recht zu verweigern, sich selbst zu verwirklichen, indem man sich auf Institutionen beruft, die von den Eliten erfunden wurden, um das Volk klein zu halten.“

Die Abstimmung fand statt und die Admirale wurden zum Tode verurteilt. Ein Jahr später verlor Athen den Krieg an den Ziegenflüssen.

Silvio Berlusconi

Obwohl die Umstände damals extremer waren und der Umfang der demokratischen Beschlussfassung weitreichender war, als wir es heute gewohnt sind, kennen wir Kleophons Argument nur allzu gut. Es ist die Argumentation, die Silvio Berlusconi, der den Populismus wiederentdeckte, lange bevor er in der westlichen Welt zur Normalität wurde, bis zum Überdruss wiederholte, um seine zahlreichen Gerichtsverfahren zu entkräften: Er war gewählt und hatte das Mandat des Volkes, das den Richtern offensichtlich fehlte. Woher nahmen sie also die Dreistigkeit, ihn, der den Willen des Volkes verkörperte, mit ihren kleinen Regeln zu torpedieren?

Das war die Argumentation von Jarosław Kaczyński und seiner PiS-Partei, mit der er den polnischen Rechtsstaat unter staatliche Kontrolle brachte, als er an der Spitze dieser Regierung stand. Es ist die Argumentation von Geert Wilders, der den Prozess, in dem er wegen Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe verurteilt wurde, als politischen Prozess abtat und die Richter, die ihn schuldig sprachen, als „D66-Richter“ bezeichnete [D66 = Democraten 66 = eine linksliberale Partei in den Niederlanden, Die 1966 gegründet wurde, um das etablierte Parteiensystem aufzubrechen]. Es ist die Argumentation, die alle Populisten verfolgen, sobald sie auf die Grenzen des Rechtsstaates stoßen.

Populismus ist per definitionem eine Bedrohung für den Rechtsstaat, denn Populisten behaupten, ein Sprachrohr des gesunden Volkswillens zu sein, so wie manche früher glaubten, als Gott noch existierte, sie hätten einen direkten Draht zu Seinem allmächtigen Willen. Das ist das Wesen des Populismus, und mit dieser Auffassung wird der Rechtsstaat zu einem lästigen Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Elite das Volk ignorierte. Diese Grundhaltung ist noch gefährlicher als all das extremistische Gerede über Migranten, Homosexuelle und Transgender. Unser Rechtsstaat steht auf dem Spiel und mit ihm unsere Demokratie und Freiheit.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 8. Juni 2024 unter dem Titel „Hoe een zeeslag in het jaar 406 voor Christus ons iets vertelt over de kwetsbaarheid van rechtsstaten“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Und hier noch ein Hinweis: „Alkibiades“ ist Ilja Pfeijffers neuester Roman über den schönsten Mann Griechenlands und den Untergang der athenischen Demokratie. Das Buch war ein Bestseller in den Niederlanden und Belgien und erscheint 2025 auf Deutsch im Piper Verlag.

Titelbild: txmx2 CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

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Foto: Stephan Vanfleteren

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