Nicht nur Trump bringt im Eiltempo und mit Entschlossenheit die Säulen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Einsturz. Auch in Europa treiben populistische Politiker – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite – ihr Unwesen. Dabei verlieren Inhalte gegenüber Imagepflege, Kompetenz gegenüber leeren Versprechungen. Von Genua bis Den Haag: Ilja Leonard Pfeijffer zeigt, wie populistische Kräfte die politische Debatte untergraben.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 9. September 2025

Ich habe einmal gesehen, dass in Wasserbau-Laboren maßstabsgerechte Modelle verwendet werden, um Flussläufe, Deichbrüche und katastrophale Überschwemmungen zu untersuchen. Oder vielleicht habe ich das auch nur geträumt. Doch so habe ich die Notwendigkeit begriffen, die übermächtige Realität auf ein handhabbares Maß zu verkleinern und die Strömungen der Geschichte sowie den Dammbruch des demokratischen Rechtsstaats und die weltweite Flutwelle des politischen Misstrauens und der Polarisierung auf eine überschaubare Simulation zu reduzieren, in der die Wirkungsmechanismen und Folgen in einem geschützten Versuchsaufbau analysiert werden können.

Die Kommunalpolitik meiner Heimatstadt Genua könnte als solches Maßstabsmodell dienen. Bei den Kommunalwahlen am 25. und 26. Mai dieses Jahres wurde der ebenso kompetente wie farblose amtierende Bürgermeister Pietro Piciocchi, Vorsitzender der Mitte-Rechts-Koalition, von Silvia Salis herausgefordert, einer ehemaligen Leichtathletin ohne nennenswerte politische oder administrative Erfahrung, die als Galionsfigur der Mitte-Links-Allianz aufgestellt worden war.

Sie führte eine überaus aggressive Kampagne, in der sie sich als Befreierin Genuas präsentierte und dabei auf betörende Weise ihr blondes, fotogenes Aussehen einsetzte. Es war ein ungleicher Kampf zwischen Kompetenz und Image. Am 29. Mai wurde Silvia Salis als unsere neue Bürgermeisterin vereidigt.

Was seitdem geschehen ist, ist ebenso lehrreich wie die Art und Weise, wie sie ihr demokratisches Mandat errungen hat. Es wird auf schmerzliche Weise deutlich, dass sie die Hoffnungen der Linken überzeugender verkörpert hat, als sie sie aufgrund ihrer Qualitäten zu erfüllen vermag. Sie und ihre Stadtverwaltung haben in den letzten Monaten letztlich nichts getan, erreicht oder auch nur in Gang gesetzt. Mehrfach hat sich gezeigt, dass sie die Versprechen, die sie im Wahlkampf gemacht hat, nicht einlösen kann, weil sie Dinge versprochen hat, die unmöglich einzulösen sind.

Schwebebahn

Ich will ein Beispiel nennen. Die vorherige Stadtverwaltung hatte zwei prestigeträchtige Infrastrukturprojekte initiiert, die wie alle prestigeträchtigen Projekte auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung stießen: eine Schwebebahn über das Flussbett des Bisagno als Verlängerung der U-Bahn zu dicht besiedelten Stadtteilen im Landesinneren sowie eine Seilbahnverbindung zwischen der „Stazione Marittima“ und den historischen Festungen in den Bergen.

Zur großen Freude der Anwohnerkomitees war es ein Schwerpunkt der Kampagne von Salis, diese beiden Projekte zu stoppen. Als sie jedoch als Bürgermeisterin vereidigt wurde, stellte sich heraus, dass der Gemeinde 400 Millionen Euro an zugesagten staatlichen Finanzmitteln verloren gehen würden, wenn die Monorail gestrichen würde.

Außerdem stellte sich heraus, dass der Bau der Seilbahn bereits ausgeschrieben war und nur gegen hohe Strafzahlungen storniert werden könnte. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wusste Salis davon nichts, als sie ihre vollmundigen Wahlversprechen machte, oder sie hat wissentlich Unmögliches versprochen. Ich weiß nicht, welche dieser beiden Varianten die schlimmere ist.

Ich bin persönlich an einem anderen Dossier beteiligt. Die vorherige Gemeindeverwaltung hatte in Absprache mit Stella, mir und unseren Mitstreitern eine Verordnung für Straßenmusiker ausgearbeitet, mit der endlich die gesetzlichen Lärmschutznormen eingehalten werden sollten. Salis hatte versprochen, diese Verordnung zu zerreißen, weil Kunst frei sein müsse und vor allem, weil sie von der vorherigen Verwaltung ausgearbeitet worden war.

Während einer Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats in der vergangenen Woche, in der Stella den rechtlichen Rahmen dargelegt hatte und ich anschließend betont hatte, dass die Bekämpfung von Lärmbelästigung eine technische Angelegenheit sein sollte und keine Frage der politischen Ideologie, erklärte der Sprecher der linken Koalition, Filippo Bruzzone, dass es sich für ihn sehr wohl um eine politische Entscheidung handele. „Wir haben die Wahlen gewonnen”, sagte er, „also haben wir das Mandat, zu bestimmen, was im öffentlichen Raum geschieht.” Ich bat um das Wort, um ihm zu antworten. „Was Ratsmitglied Bruzzone natürlich meint”, wollte ich sagen, „ist, dass auch die Parteien, die die Wahlen gewonnen haben, das Gesetz respektieren werden.” Aber ich erhielt nicht das Wort.

Das niederländische Parlament hat eine Idee verboten. Ein Land, das Antifaschismus verbietet, ist ein faschistisches Land

Es ist zudem lehrreich zu sehen, wie Silvia Salis mit ihren eigenen Fehlern umgeht. Dabei verfolgt sie zwei Strategien. Sie gibt ihrem Vorgänger die Schuld für alles, was schief läuft oder nicht funktioniert, und sie lenkt die Aufmerksamkeit von ihren Unzulänglichkeiten ab, indem sie die Flucht nach vorne antritt und sich immer deutlicher als Politikerin von nationalem Format profiliert, die vielleicht eines Tages als Vorsitzende der linken Koalition Giorgia Meloni das Amt der Ministerpräsidentin streitig machen wird.

Anstatt sich mit den technischen Unterlagen der Metro und der Seilbahn zu befassen, hat sie dafür gesorgt, dass die Gemeinde Genua den palästinensischen Staat anerkannt hat. Sie schreibt besorgte Briefe an den Verteidigungsminister über die prekäre Sicherheitslage der Global Sumud Flotilla, die mit Hilfsgütern beladen die israelische Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen will. Immer wieder tritt sie im nationalen Fernsehen auf, um in Talkshows lächelnd zu leugnen, dass sie Elly Schlein, die Vorsitzende der PD, vom Thron stoßen will.

Diese bescheidene, lokale Fallstudie zeigt sehr deutlich, wie Populismus funktioniert. Imagebildung ist wichtiger als Kompetenz. Den Wählern wird versprochen, was sie hören wollen, unabhängig davon, ob dies der Realität gerecht wird. Das demokratische Mandat wird gemäß der Logik der absoluten Demokratie als Freibrief interpretiert, den Willen der Mehrheit durchzusetzen, notfalls auch gegen das Gesetz. Diese Politik hat revanchistische Züge. Die Schuld für das Ausbleiben konkreter Ergebnisse der Politik wird auf politische Gegner abgeschoben. Misserfolge werden mit noch größeren Ambitionen übertönt.

Darüber hinaus zeigt dieser Fall, dass rechtsextreme Politiker kein Monopol auf Populismus beanspruchen können. In diesem Fall wird diese Waffe von linken Parteien eingesetzt, die sich aufgrund ihrer Geschichte und Ideologie meiner Sympathie erfreuen können sollten.

Hitlergruß

Auch die Niederlande sind ein solches Modell, wo die Richtung, in die sich die Geschichte bewegt, im überschaubaren Kontext von Kleinkariertheit und Spießigkeit analysiert werden kann. Vor kurzem ereigneten sich in meinem Heimatland einige beunruhigende Vorfälle. Am Donnerstag, dem 18. September, nahm die Zweite Kammer fast zufällig und plump, nach einer Debatte, die sich um etwas ganz anderes gedreht hatte, einen Antrag an, der darauf abzielte, die extrem linke Aktionsgruppe „Antifa” auf die Terrorliste zu setzen. Dieser Vorschlag der rechtsextremen Splitterpartei Forum für Demokratie wurde von einer rechten Mehrheit unterstützt.

Das erste Problem dabei ist, dass es nicht Aufgabe des Parlaments ist, Organisationen als terroristisch einzustufen. Dafür gibt es gesetzliche Verfahren. Doch ein noch größeres Problem ist, dass „Antifa” gar nicht existiert. Es handelt sich weder um eine juristische Person noch um einen Verein oder eine Organisation, sondern um ein loses Netzwerk autonomer Gruppen und lokaler Initiativen. Das niederländische Parlament hat eine Idee verboten. Ein Land, das Antifaschismus verbietet, ist ein faschistisches Land.

Zwei Tage später, am Samstag, dem 20. September, fand in Den Haag eine Demonstration gegen Masseneinwanderung und für eine faire Wohnungspolitik statt. Diese Kundgebung geriet völlig außer Kontrolle und artete in offene Gewalt aus. Demonstranten, die mit faschistischen Fahnen schwenkten, Hitlergrüße zeigten und „Sieg Heil” riefen, griffen die Polizei an, misshandelten Journalisten und zerstörten das Parteibüro der linksliberalen D66. Ihr Sturm auf die Parlamentsgebäude am Binnenhof konnte nur knapp verhindert werden.

Die Regierung weigerte sich zunächst anzuerkennen, dass die Unruhen politisch motiviert waren. Eelco Heinen, der scheidende Finanzminister der rechtsliberalen VVD, erklärte in einer Talkshow, dass die Ausschreitungen das Werk von Hooligans seien und nichts mit Politik zu tun hätten. Er warf den linken Parteien vor, sie versuchten, aus einer aus dem Ruder gelaufenen Randale von Rowdys politisches Kapital zu schlagen.

Obwohl ihr Antrag abgelehnt wurde, belohnte Caroline van der Plas damit faschistische Gewalt

Sein Parteikollege Foort van Oosten, der zurückgetretene Minister für Justiz und Sicherheit, hielt sich in der Zweiten Kammer hinsichtlich der Beweggründe für die Gewaltausbrüche demonstrativ bedeckt. Dabei ignorierte er eine ausdrückliche Empfehlung des Nationalen Koordinators für Terrorismusbekämpfung. „Wenn man nur von Randalierern, Gesindel oder Hooligans spricht, ohne die dahinterstehenden rechtsextremistischen Ideen zu benennen, wird kein vollständiges Bild der Realität gezeichnet”, lautete diese Empfehlung. „Rechtsextremistisches Gedankengut wird dadurch nicht problematisiert, sondern sogar weiter normalisiert.”

Am Ende der Parlamentsdebatte reichte seine Koalitionskollegin Caroline van der Plas von der populistischen Bauernpartei einen Antrag ein, in dem „die Regierung aufgefordert wird, erneut zu prüfen, ob das Notstandsrecht durch ein Notstandsgesetz angewendet werden kann, damit sofort ein vorübergehender Asylstopp verhängt werden kann“, weil sie nach eigenen Angaben auf die Sorgen in der Gesellschaft hören und das Signal, das durch die Demonstration in Den Haag ausgesendet wurde, ernst nehmen wolle. Obwohl ihr Antrag abgelehnt wurde, belohnte sie damit faschistische Gewalt.

Sündenbockpolitik

Der schockierendste und lehrreichste Aspekt dieser unerfreulichen Episode ist, dass wir zu dem Schluss kommen können, dass wir Geert Wilders und seine rechtsextreme PVV gar nicht mehr brauchen, um in rechtsextreme Repression abzugleiten. Nachdem sein Kabinett zweimal gestürzt wurde, distanziert er sich doppelt von der Regierung, die sich weigert, rechtsextreme Gewalt zu benennen. Mehr noch, seine Verurteilung der Ausschreitungen in Den Haag war eindeutiger als die der Regierungsmitglieder, die nach seinem Ausscheiden in der Regierung verblieben sind.

Tatsächlich ist genau das eingetreten, was alle seit Jahren vorhergesagt hatten und was sich dann immer mehr bewahrheitete: Unter dem Einfluss von Wilders hat sich das Overton-Fenster so weit nach rechts verschoben, dass eine ehemalige rechtsliberale Mittepartei wie die VVD die Wahlbedrohung durch Wilders als ausreichend ansieht, um dessen extremistische Standpunkte zu übernehmen. Die Bauernpartei, die einst als Ein-Themen-Bewegung gegründet wurde, um die Interessen der Agrarindustrie zu sichern, profiliert sich heute mit einer Kopie von Wilders‘ rassistischer Sündenbockpolitik. In gewisser Weise ist damit die Rolle von Wilders ausgespielt. Er wird nicht mehr gebraucht. Er hat bereits gewonnen. Sein Faschismus ist zum Mainstream geworden.

Wer die Ergebnisse beider Versuchsaufbauten kombiniert, sollte in der Lage sein, eine adäquate Analyse der Mechanismen vorzunehmen, die weltweit zu Dammbrüchen im demokratischen Rechtsstaat führen, zu Ansichten, die über die Grenzen dessen hinausgehen, was einst als akzeptabel galt, und zum allmählichen Versiegen der Unterstützung für die Demokratie als solche.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 4. Oktober 2025 unter dem Titel „Geert Wilders heeft gewonnen. Zijn fascisme is mainstream geworden“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

Titelbild: Kris CC BY-NC-ND 2.0 DEED via FlickR

Auch ein Blog verursacht Ausgaben ...

… Wenn Ihnen / Euch Europa.blog gefällt, dann können Sie / könnt Ihr uns gerne auch finanziell unterstützen. Denn auch der Betrieb eines Blogs ist mit Kosten verbunden für Recherchen, Übersetzungen, technische Ausrüstung, etc. Eine einfache Möglichkeit uns mit einem kleinen einmaligen Betrag zu unterstützen gibt es hier:

Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

926