Die Demokratie hängt von faktenbasierten Informationen ab, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer, aber soziale Medien, die von autoritären Machthabern kontrolliert werden, werden nun genutzt, um alternative Wahrheiten zu schaffen und demokratische Strukturen zu untergraben.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 22. Januar 2025

In den letzten Monaten des vergangenen Jahres, das wir in der vorigen Woche mit einem furiosen polarisierenden Feuerwerk in die Geschichte eingehen ließen, war ich aus schriftstellerischen Gründen in Rumänien und Bulgarien. Ende Oktober war ich zu Gast beim „Festivalul Internațional de Literatură și Traducere“ in Iași, im Nordosten Rumäniens kurz vor der Grenze zu Moldawien, und Mitte Dezember war ich in Sofia beim dortigen jährlichen internationalen Literaturfestival.

Ich will nicht den Anspruch erheben, dass diese kurzen literarischen Besuche ausgereicht hätten, um dem sozialen, kulturellen und politischen Klima in beiden Ländern auf den Grund zu gehen, doch ich habe dort mit vielen Menschen gesprochen, unter anderem mit einem Botschafter und einem Konsul, deren Beruf es ist, alles über ihren Einsatzort zu wissen, und zudem konnte ich das mit eigenen Augen sehen.

Eine der offensichtlichsten Schlussfolgerungen war, dass Rumänien und Bulgarien beide fest auf Europa ausgerichtet sind. Sie gehören zu Europa. Die Erinnerungen an die Schrecken der kommunistischen Regime in beiden Ländern, die dank der Sowjetunion jahrzehntelang überleben konnten, sind noch so frisch, dass Russland dort noch weniger als potenzieller Freund angesehen wird als in Westeuropa.

Ich konnte daher die Verwunderung darüber, dass der rechtsextreme, prorussische Politiker Călin Georgescu in der ersten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahlen am 24. November 2024 aus dem Nichts heraus die meisten Stimmen erhielt, gut nachvollziehen. Nur einen Monat zuvor schätzten Meinungsumfragen Georgescus Unterstützung noch auf ein oder zwei Prozent, und plötzlich stellte sich heraus, dass er die Wahl mit mehr als 22 Prozent der Stimmen gewonnen hatte.

Diese Anomalie wurde untersucht, und am 6. Dezember beschloss das rumänische Verfassungsgericht auf der Grundlage von Erkenntnissen des Obersten Rates für nationale Sicherheit (CSAT), das Ergebnis für ungültig zu erklären, da es durch massive russische Einmischung herbeigeführt worden sei. Über gefälschte Konten auf TikTok hatten russische Trolle in großem Stil Unwahrheiten und Falschmeldungen verbreitet, um dem prorussischen Kandidaten zum Sieg zu verhelfen.

Damit war das alte Jahr zu Ende. Das Silvesterfeuerwerk vertrieb die bösen Geister der umstrittenen ungarischen EU-Ratspräsidentschaft und läutete den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum der Union ein, gegen den sich der ungarische Präsident Viktor Orbán vergeblich gewehrt hatte. Diese Öffnung Rumäniens und Bulgariens gegenüber dem Herzen Europas ist historisch bedeutsamer, als uns vielleicht bewusst ist. Vor allem die nun offiziell geöffnete Grenze zwischen Bulgarien und Griechenland ist angesichts der konfliktreichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern im letzten Jahrhundert ein starkes Symbol der europäischen Integration.

Ich war außerdem in Ungarn. In den letzten Oktobertagen des Jahres 2023 war ich Teil der niederländischen Delegation auf der Internationalen Buchmesse in Budapest. Die Gespräche dort waren anders. Die niederländische Botschafterin, die uns in ihrer Residenz empfing, begrüßte uns mit einer kurzen, beeindruckenden, undiplomatischen und leidenschaftlichen Rede, in der sie uns fast mit Tränen in den Augen erklärte, warum sie über den Zustand der Demokratie und des Rechtsstaats in Ungarn und über die Zukunft Ungarns in Europa zutiefst besorgt war. Sie forderte uns auf, uns bewusst zu machen, wie wichtig unsere Anwesenheit sei, und drängte uns, den Dialog aufzunehmen.

Natürlich wollte ich dieser Pflicht im Namen des Königreichs nachkommen. Deshalb habe ich in der kurzen Zeit, in der ich dort war, mit mehreren Menschen, unter anderem mit meinem ungarischen Verleger, über die Lage in Ungarn gesprochen. Aus diesen Gesprächen ergab sich das bedrückende Bild einer ausweglosen Situation. Bei den Wahlen 2022 konnte die Fidesz-Partei von Viktor Orbán dank der Wahlkreiseinteilung mit etwas mehr als der Hälfte der Stimmen mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze erringen, so dass die fünfte Orbán-Regierung ihr Amt antreten konnte, ohne sich um das Parlament kümmern zu müssen.

Unsichtbar

Orbáns Macht beruht auf der Kontrolle der Presse und der Medien. Die Opposition ist unsichtbar gemacht worden. Als ich vor Ort war, hatte Orbán gerade angekündigt, dass er weitere 11 Jahre Ministerpräsident bleiben will, und keiner meiner ungarischen Gesprächspartner sah eine realistische Möglichkeit, ihn an diesem Ziel zu hindern. Es waren keine heiteren Gespräche.

Am Neujahrstag beschloss die Europäische Kommission, die erste Tranche von 1 Mrd. € der insgesamt 19 Mrd. € aus dem COVID-Wiederaufbaufonds und anderen Ungarn zugesagten Geldern nicht auszuzahlen, weil sich die ungarische Regierung trotz wiederholter Warnungen weigerte, Schritte zu unternehmen, um die europäischen Standards für Demokratie und Rechtsstaat einzuhalten. Es war das erste Mal, dass die Europäische Kommission zu einer so weitreichenden Maßnahme gegriffen hat.

Orbán, der Europa in der Vergangenheit vorgeworfen hatte, die demokratisch gewählte Regierung Ungarns stürzen zu wollen, erhielt unerwartete Unterstützung von der Lega, der Partei des italienischen Vizepremierministers Matteo Salvini, die die europäische Strafmaßnahme als „beschämenden Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit, die Solidarität und die Demokratie“ bezeichnete. Die Erklärung der Lega ist eine perverse Verdrehung der Realität, die, wie alle dreisten Lügen, in einem von den sozialen Medien geschaffenen Klima, in dem jeder nach seiner eigenen Wahrheit sucht, Beifall findet.

Am 5. Januar besuchte die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni den designierten Präsidenten Donald Trump in Mar-a-Lago. Trump nannte sie „eine fantastische Führungspersönlichkeit und eine wahre Energiequelle“. Berichten zufolge traf sie dort nicht ihren großen Freund Elon Musk (Musk hielt es für nötig, Gerüchte über eine bevorstehende Heirat mit Meloni ausdrücklich zu dementieren), dem Trump einen Ministerposten versprochen hat. Meloni kam jedoch mit einem fast fertigen Vertrag zurück, der die Kommunikation der italienischen Regierung, einschließlich Polizei, Militär und Geheimdienst, Musks Unternehmen SpaceX anvertraut. Die italienische Opposition lehnt diesen Plan strikt ab, da er effektiv Staatsgeheimnisse und die Sicherheit des italienischen Staates in die Hände eines angehenden Ministers einer ausländischen Macht legen würde.

Und selbst für den Fall, dass Musk nach reiflicher Überlegung doch nicht in Trumps Regierung eintritt, wäre seine Kontrolle über die Kommunikation der italienischen Regierung alarmierend. Er ist nicht gerade politisch neutral. Seine Übernahme von Twitter, das er später X nannte, war ein politisches Projekt mit dem Ziel, Trump wieder ins Weiße Haus zu bringen. Das ist ihm bereits gelungen. Seitdem hat Musk im Vorfeld der vorgezogenen Wahlen in Deutschland seine ausdrückliche Unterstützung für die neonazistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) bekundet.

Und jetzt mischt er sich auch noch im Vereinigten Königreich ein. Er verbreitet Fake News über den Labour-Premierminister Keir Starmer. Er hat ihn beschuldigt, während seiner Zeit als Staatsanwalt sexuellen Missbrauch von Minderjährigen vertuscht zu haben. Außerdem fordert Musk lautstark die Freilassung von Stephen Christopher Yaxley-Lennon, besser bekannt als Tommy Robinson, ein Neonazi und Mitbegründer und Anführer der English Defence League, der seit dem 28. Oktober letzten Jahres eine sechsmonatige Haftstrafe verbüßt. Musk betrachtet diesen rassistischen Aktivisten, der selbst von Nigel Farage als zu extremistisch eingeschätzt wird, als politischen Gefangenen und Großbritanniens Traumführer.

Am 7. Januar veröffentlichte Mark Zuckerberg eine Videobotschaft, in der er ankündigte, dass sein Unternehmen Meta, die Muttergesellschaft von Facebook, Instagram und Threads, die Faktenprüfer abschaffen und die Moderation streichen werde. Unter dem Deckmantel des Rechts auf freie Meinungsäußerung macht Zuckerberg damit vor dem künftigen Präsidenten Trump einen Kniefall. Meta hatte gerade ein Moderationssystem eingeführt, nachdem dem Unternehmen vorgeworfen worden war, dass Facebooks unkontrollierte Flut von Desinformationen Trumps Wahlsieg 2016 ermöglichte. Trump und seinesgleichen haben die Moderation von Tatsachenfeststellungen immer als eine Form der Zensur betrachtet. Am Vorabend von Trumps Amtsantritt wählt Zuckerberg die „Zitronen“ für sein Geld, selbst wenn dies bedeutet, dass er mit europäischen Vorschriften in Konflikt gerät, wie sie im Digital Services Act, dem Digital Markets Act und dem AI Act festgelegt sind.

Unter dem Druck von Trump und Konsorten wird Wahrheit mit Zensur gleichgesetzt, während die von ihnen beanspruchte Meinungsfreiheit dem Recht auf Lüge und Manipulation gleichkommt. Da eine Demokratie ohne den Zugang der Bürger zu faktenbasierten Informationen nicht funktionieren kann, ist die Verteidigung des Rechts, Fakten nach Belieben mit alternativen Fakten zu verschleiern, ein direkter und gezielter Angriff auf die Demokratie. Alle gängigen sozialen Medien sind inzwischen zu einem Werkzeug in den Händen illiberaler Mächte geworden, die die Demokratie im Namen der Demokratie abschaffen wollen und fest in Trumps künftigem Regime verankert sind.

Dem von Trump bewunderten Putin wird kein Hindernis mehr in den Weg gelegt, wenn er die Wahlen in Europa beeinflussen will. Die Lega kann weiterhin ungestraft behaupten, es sei ein Angriff auf die ungarische Demokratie, wenn Europa sich für die Demokratie in Ungarn einsetzt. Die neofaschistische Führerin Meloni wird mit Hilfe von Musk die volle Kontrolle über den italienischen Staatsapparat erlangen. Die neonazistische AfD wird dank Musk zu einem Machtfaktor in Deutschland, und auch in allen anderen Ländern können antidemokratische, rechtsextreme Kräfte auf die treue Unterstützung seiner Macht und Algorithmen zählen.

Alles ist mit allem verbunden, wie die Kracher an einem Knallteppich.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 11. Januar 2025 unter dem Titel „Van dromen over vrijheid naar een Europese nachtmerrie“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute 

Titelbild: Viktor Orbán; Europa-Pont, Fotó: Európai Bizottság/ Végel Dániel CC BY 2.0 DEED via FlickR

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Ilja Leonard Pfeijffer

Foto: Stephan Vanfleteren

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