Am 14. Mai 2019 hat der EuGH in Luxemburg entschieden, dass Arbeitgeber grundsätzlich die Arbeitzeiten von Arbeitnehmern erfassen und dokumentieren müssen (Rechtssache C‑55/18).
Thomas Händel (Die Linke | GUE/NGL), seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und seit 2014 Vorsitzender des Ausschusses Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL), kommentiert im folgenden das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung.
Beitrag von Thomas Händel
Neue Beschäftigungsformen werden immer flexibler, variabler unsteter und ungeregelter. ARBEIT auf Abruf, die sog. Vertrauensarbeitszeit, Voucer-Arbeit sind nur wenige Stichworte eines Beschäftigungsregimes, das kaum noch geregelte Arbeitszeiten kennt und damit auch keine Ansprüche auf Lohn dokumentiert.
Arbeitszeitpolitik ist aber nicht alleine die Regelung von Lohnansprüchen sondern aktiver Arbeits- und Gesundheitsschutz. Seit den Zeiten der Englischen Fabrikinspektoren aus den 1830er Jahren ist in der einschlägigen Wissenschaft unstrittig: Überlange Arbeitszeiten machen Krank.
Dieser Einsicht folgt die europäische Arbeitszeit-Richlinie aus dem Jahr 1993 Artikel 2 Ziffer 1 lautet
„1. Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt…)“ so lautet Artikel 2 Ziffer 1 der Richtlinie 2003/88/EG „über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“
Unstreitig ist: Europäische Regelungen müssen sicherstellen, dass Arbeit zu fairen Bedingungen stattfindet. Umso mehr als ungeregelte Arbeitsverhältnisse – meist prekäre – in wenigen Jahren auf 40% aller Arbeitsverhältnisse angewachsen sind.
Nur noch 60% sind reguläre sprich geordnete Arbeitsverhältnisse
Das jüngste Urteil des EuGH zur Dokumentationspflicht der geleisteten Arbeitszeiten der Beschäftigten ist in dieser Hinsicht ein Segen.
Es wird wohl eine Weile dauern, bis allen die Tragweite des heute vom EuGH erlassenen Urteils bewusst wird. Dieser hat alle Mitgliedstaaten unmissverständlich aufgefordert dafür zu sorgen, dass die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen Lücken- und Ausnahmslos dokumentiert wird. „ Der Gerichtshof weist zunächst auf die Bedeutung des Grundrechts eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten hin, das in der Charta verbürgt ist und dessen Inhalt durch die Arbeitszeitrichtlinie weiter präzisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass den Arbeitnehmern die ihnen verliehenen Rechte zugutekommen, ohne dass die zur Sicherstellung der Umsetzung der Richtlinie gewählten konkreten Modalitäten diese Rechte inhaltlich aushöhlen dürfen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegt. » Es ist erfreulich, dass der EuGH diesen alten Rechtsgrundsatz so deutlich formuliert.
Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten zwar Spielraum bei der Umsetzung hinsichtlich des Umfangs der Dokumentation und der Anpassung auf Betriebsgröße und Mitarbeiterzahl, ist im Grundsatz aber eindeutig: Rechte müssen durchsetzbar sein, und dafür muss ausreichend dokumentiert sein, um kontrollieren zu können.
Dieses Urteil stellt unter Beweis welchen Wert europäisches Arbeitsrecht für die Beschäftigten hat.
Der Aufschrei der Arbeitgeberverbände läßt tief blicken: So versteigt sich der bayerische Arbeitgeberverband VBM gar zu der These in Zeiten von Industrie 4.0 sei ein zurück zu Arbeitszeitkontrolle 1.0 unmöglich.
Das Lamento über zuviel Bürokratie ist aber genauso unbegründet wie die angebliche Unrealisierbarkeit. Von der Homepage des Bundesarbeitsministeriums kann man eine App herunterladen die nicht nur gut strukturiert ist, sondern auch noch gut funktioniert – als auch für elektronische Analphabeten geeignet ist: Zur Erfassung und Übermittlung von Arbeitszeiten können Sie die kostenlose BMAS-App „einfach erfasst“ im Google Play-Store und im Apple App Store herunterladen und auf Ihrem Android- oder iOS-Gerät verwenden.
Wer so argumentiert beweist: Er will nicht das die Beschäftigten zu ihrem Recht kommen – er möchte dem ausufernden Arbeitszeitbetrug Vorschub leisten.
Angesichts der nun reichlich beschriebenen Folgen von Digitalisierung und Industrie 4.0 wäre nicht Entgrenzung und Arbeitszeitverlängerung sondern genau das Gegenteil angesagt.
Von einem neuen Anlauf zu einer weiteren Verkürzung ist aber landauflandab nichts zu sehen.
Ich bin überzeugt. Eine Aushöhlung europäischen Arbeitszeitrechts wird es mit dem Beschäftigungsauschuss im EP nicht geben. Wir haben in der vorletzten Legislatur die beabsichtigte Verlängerung der Arbeitszeit der Fernfahrer von 60 auf 86 Stunden verhindert und ich bin sicher: meine Kolleginnen und Kollegen sind diesbezüglich Wiederholungstäter
Allerdings ist das kein Blankoscheck für die Zukunft. Das EuGH Urteil könnte nun die Arbeitgeberseite animieren einen neuen Anlauf zur Beseitigung der ungeliebten Arbeitszeitrichtlinie zu starten.
Nicht nur der Beschäftigungs-Auschuss wird seine Standfestigkeit unter Beweis stellen müssen. Gefordert sind die Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Eine neue Arbeitszeitkampagne tut Not. Schliesslich ist Angriff die beste Verteidigung.
Titelfoto: Jürgen Klute CC BY-NC-SA 4.0
Links zum Artikel
EuGH
Zur Debatte des Urteils
Siehe auch …
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