Anfangs lief es wie es immer läuft, wenn ein Inhaber bzw. eine Inhaberin eines bundesrepublikanischen Passes in einem anderen Land verhaftet wird: Es passiert nicht viel. Die zuständigen staatlichen Stellen spulen lustlos ihr Pflichtprogramm ab. Mehr nicht. Wer sich in Gefahr begibt, ist selbst Schuld und stört außerdem das laufende politische Geschäft. So die traditionelle Grundhaltung deutscher Behörden im In- und Ausland.

So hat die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in der Türkei zunächst nur Standardreaktionen hervorgerufen, die vor allem auf die individuelle Seite des Falls eingegangen sind. Dass es hier um eine brutale Unterdrückung von Meinungs- und Pressefreiheit geht, die mehrere hundert Journalisten und Journalistinnen in der Türkei betrifft, wird bestenfalls zur Kenntnis genommen, ist aber nicht Anlass für hörbare und sichtbare Aktionen zur Verteidigung von Meinungs- und Pressefreiheit und Demokratie.

Einblicke in den Zustand unserer Gesellschaft

Samael Falkner hat sich die Mühe gemacht, sich die Berichterstattung über die Verhaftung von Deniz Yücel in deutschen Medien und in social media etwas genauer anzuschauen (vgl. dazu auch meinen Beitrag vom 21. Februar auf diesem Blog). Sein Fazit ist ernüchternd: Kein Protest gegen den Abbruch einer tragenden Säule der Demokratie, eher Relativierungen bis hin zu fragwürdigen Schuldzuweisungen.

Samael Falkner gebührt Dank für diesen aufklärenden Debattenbeitrag über den Zustand unserer Gesellschaft! Er hat ihn am 21. Februar 2017 unter dem Titel „Endlich ist er weg,Trööt!“ : Sehr sehr gute Berichterstattung über Deniz Yücel auf dem Blog „Prinzessinnenreporter“ veröffentlicht.

Mittweile haben sich erfreulicherweise zwei weitere Kolleginnen zu Wort gemeldet, die nicht länger bereit sind, zur Verhaftung von Deniz Yücel sowie hunderte weiterer Kolleginnen und Kollegen in der Türkei schweigend hinzunehmen.

Eine Hommage als Protest

Mely Kiyak hat gestern in ihrer „Deutschstunde“ auf Die Zeit online unter dem Titel „Diesen Autor kann man nicht wegsperren“ eine wunderbare Hommage an Deniz Yücel veröffentlicht: Eine Hommage als Protest. Das ist eine ungewöhnliche aber in meinen Augen gelungene Form des Protest. Ungewöhnlich, weil er auf die üblichen Schimpf- und Hasstiraden verzichtet und statt dessen die Person portraitiert, die zum Gegenstand staatlichen Machtmissbrauchs wurde.

Gasmasken am Kiosk, in der Nähe des Gezi-Parks in Instanbul, Mai 2013 | Foto: J. Klute

Fünf Jahre lang haben Deniz Yücel, Mely Kiyak und andere Journalisten und Journalistinnen, deren Eltern aus ganz unterschiedlichen Ländern kamen und heute in der BRD leben, Hass-Mails, die sie erhalten haben, zu einer neuen Gattung gemacht und als Hate-Poetry öffentlich vorgetragen – die vielleicht beste Art überhaupt, mit Hass-Mails umzugehen.

Mely Kiyak beschreibt diese fünf Jahre gemeinsamer Hate-Poetry und zeichnet auf diese Weise ihr Portrait von Deniz Yücel.

Ich denke, dass man einen Geist wie Deniz‘ besser so schnell wie möglich frei lassen sollte, denn seine Kraft, seine Energie und sein Witz, seine klugen Bemerkungen, seine unbändige Menschenliebe und seine Abscheu gegenüber jeglichem Unrecht werden den Laden, egal ob Polizeirevier, Kerker oder das Scheißkulturzentrum in dieser hessischen Provinz, das ihm so auf die Nerven ging, innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf stellen. Man hat weniger Ärger mit ihm, wenn man ihm seine Freiheit gibt. Und man hat weniger Ärger mit mir, denn ich kann niemals Ruhe geben, solange mein Kollege, Hate-Poetry-Bruder und Freund Deniz Yücel nicht frei ist.

Mit diesen Worten schließt Mely Kiyaks ihr einfühlsames Portrait von Deniz Yücel. Ich hoffe, dass nicht nur Mely Kiyak keine Ruhe geben wird bis Deniz Yücel frei ist!

Die Fiktion von Objektivität – oder: was dürfen „Gastarbeiter“-Kinder?

Eine der bisher umstrittensten Reaktion auf die Verhaftung von Deniz Yücel in der Türkei ist der Kommentar von Michael Martens „Einmal Türke, immer Türke?“ in der FAS vom letzten Sonntag. Umstritten ist dieser Kommentar, weil er weniger auf die Missachtung der Meinungs- und Pressefreiheit eingeht als auf die ethnische Herkunft des Verhafteten.

Ohne verletzende Polemik setzt sich Özlem Topçu, Politikredakteurin bei der „Zeit“, als jemand, der von dem Kommentar von M. Mertens mit gemeint ist, kritisch mit M. Mertens Beitrag auseinander. „Kann ein Türke objektiv sein?“ ist ihr Beitrag überschrieben, der am gleichen Tag wie Kiyaks „Deutschstunde“ auf Die Zeit online erschienen ist.

Mertens stellte in seinem Kommentar die Frage, ob ein Journalist mit türkischen Wurzeln, der zudem noch Sympathien für die Türkei hegt, objektiv über dieses Land berichten kann. Eine auf den ersten Blick logisch klingende Frage. Befangenheit würde man das bei einem Richter nennen, wenn der von dem Fall, über den er entscheiden soll, persönlich in irgendeiner Weise betroffen wäre.

Doch Özlem Topçu nimmt diese vordergründig schlüssig klingende Frage nach Objektivität und Befangenheit auf überzeugende Weise auseinander. Sie legt dar, wie und wo sich diese scheinbar objektive Frage Mertens mit den Vorwürfen Erdogans gegen kritische JournalistInnen trifft. Und sie legt dar, das deutsche Journalisten nicht weniger in Befangenheiten und Subjektivität verfangen sind als jene mit Eltern aus der Türkei oder einem anderen Land.

Einen objektiven Journalismus, wie er Mertens Kommentar als Annahme zugrunde liegt, so die Schlussfolgerung aus Özlem Topçus Analyse, war immer und bleibt auch eine Fiktion.

Mertens Frage lenkt die Aufmerksamkeit weg vom eigentlichen Probleme: Der Unterdrückung des Rechts auf eine eigene Meinung – und die ist immer auch subjektiv, geprägt durch Erfahrungen, Sympathien und Antipathien. Genau deshalb ist das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit ein Menschenrecht!

Özlem Topçus hat das in ihrem Beitrag brillant herausgearbeitet.

Immerhin wird die Verhaftung von Deniz Yücel auf auf www.piqd.de zum Thema. Dort finden sich mittlerweile mehrere Leseempfehlungen zu Artikeln, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen.

Von einem Proteststurm ist das allerdings noch immer ein ganzes Stück entfernt.


Titelfoto: Deniz Yücel, von Birte Fritsch CC BY 2.0

 

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