Von Jürgen Klute
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Was bedeutet der Antrag von Schweden und Finnland auf Aufnahme in die NATO für die zukünftige Sicherheit von Kurdinnen und Kurden in diesen Ländern? Bisher waren in Schweden und Finnland lebende Kurden und Kurdinnen sicher vor politischer Verfolgung. Und es gab auch Unterstützung für kurdische Aufbauprojekte in Rojava (Nord-Syrien).
Dem Aufnahmeantrag müssen alle bisherigen 30 NATO-Mitgliedsländer zustimmen. Dazu gehört bekanntermaßen auch die Türkei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat schnell erkannt, dass und wie er die Anträge der beiden skandinavischen Länder auf Aufnahme in die NATO für seine Interessen nutzen kann. Die Türkei erpresst die NATO und will der Aufnahme nur zustimmen, wenn Schweden und Finnland ihre Kurdenpolitik ändern, keine Projekte mehr in Rojava unterstützen und politische Aktivitäten von Kurdinnen und Kurden unterbinden sowie politisch verfolgte Kurdinnen und Kurden an die Türkei ausliefern. 28 NATO-Mitgliedsländer haben der Aufnahme bereits zugestimmt. Nur Ungarn und die Türkei haben noch nicht zugestimmt. Derzeit nutzt Erdogan seine Machtstellung schamlos aus, um Völkerrecht und Menschenrechte zu brechen.
Vor diesem Hintergrund hat auf Initiative des International Kurdish Solidarity Collective am 27. Oktober 2022 in Helsinki eine Konferenz statt gefunden, auf der dieses Situation diskutiert und reflektiert wurde. Referenten waren Gashaw Bibani (Menschenrechtsaktivistin/Finnland), Ludo De Brabander (Vrede vzw/Belgium), Henrik Jaakkola (politischer Referent der Linksallianz/Finnland) und Jürgen Klute (Former MEP and International Kurdish Solidarity Collective/Germany/Belgium).
Zum einen wurde von den Referenten die neue Situation analysiert und beschrieben. Es wurde sehr schnell klar, dass die politische Lage für Kurden und Kurdinnen derzeit schwierig ist. Da ein Großteil der finnischen Gesellschaft die Aufnahme in die NATO unterstützt, ist eine kritische Diskussion darüber kaum möglich. Kritiker und Kritikerinnen des NATO-Beitritts werden vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine schnell als Putin-Freunde ausgegrenzt. Die Sicherheitsinteressen der Kurdinnen und Kurden werden zurückgestellt hinter die finnischen Sicherheitsinteressen. Kurzfristig ist mit einer ist mit einer Änderung der politischen Lage nicht zu rechnen.
Ganz aussichtslos ist die Situation der in Schweden und Finnland lebenden Kurden und Kurdinnen jedoch nicht. Sollten die Regierungen der beiden Länder tatsächlich die Forderungen der türkischen Regierung erfüllen, dann verstößt das nicht nur gegen Werte der Europäischen Union, sondern auch gegen finnisches, schwedisches und EU-Recht sowie gegen internationales Recht. Den Betroffenen bleibt also die Möglichkeit, sich rechtlich zu wehren und Gerichte auf nationaler (Verfassungsgerichte), europäischer (EuGH) und internationaler Ebene (Internationaler Menschengerichtshof) anzurufen. Solidaritätsgruppen müssen sich nun auf solche Fälle in Finnland und Schweden strategisch vorbereiten. Denn notfalls müssen sie schnell handeln.
Neben einer solchen pragmatischen Reaktion auf die veränderte politische Situation gibt es noch eine andere Frage zu reflektieren. Die grundlegende politische Strategie der Kurden in den letzten zwei Jahrzehnten basiert auf dem Beitrittsantrag der Türkei zur Europäischen Union. Auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999 wurde der Türkei der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Die Beitrittsverhandlungen begannen im Oktober 2005.
Damit hatte sich für die kurdische Seite eine neue politische Möglichkeit eröffnet. Der Beitritt zur Europäischen Union ist an eine Reihe von politischen, ökonomischen und rechtsstaatlichen Bedingungen geknüpft. Formuliert und definiert wurde diese Bedingungen auf dem EU-Gipfel im Juni 1993 in Kopenhagen. Dementsprechend werden diese Bedingungen als Kopenhagener Kriterien bezeichnet. Demnach müssen von einem Beitrittskandidaten folgende Bedingungen erfüllt werden (Quelle: EUR-LEX):
- Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten;
- eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten;
- die Fähigkeit, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen, einschließlich der Fähigkeit, die zum EU-Recht (dem „Besitzstand“) gehörenden gemeinsamen Vorschriften, Normen und politischen Strategien wirksam umzusetzen, sowie Übernahme der Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion.
Nach diesen Beitrittskriterien waren eine Beendigung des bewaffneten Konfliktes zwischen der kurdischen Seite und der türkischen Regierung sowie eine politische Lösung des Konfliktes, die Einhaltung der Menschenrechte und ein wirksamer Schutz von Minderheiten in der Türkei Voraussetzungen für die Aufnahme der Türkei in den Kreis der EU-Mitgliedsländer. Einen EU-Beitritt der Türkei verband die kurdische Seite daher mit der Aussicht auf Anerkennung ihrer Identität, ihrer Sprache und politischer Rechte (Selbstbestimmung). Grundsätzlich unterstützte die kurdische Seite daher den türkischen Antrag auf einen EU-Beitritt. Allerdings kritisierten kurdische PolitikerInnen, dass weder die kurdische noch andere in der Türkei lebende Minderheiten noch zivilgesellschaftliche Organisationen in die Beitrittsverhandlungen eingebunden waren. Dennoch boten die Beitrittsverhandlungen die Möglichkeit auf die türkische Regierung Druck auszuüben, um den berichtigten kurdischen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Dementsprechend konzentrierten sich die kurdischen politischen Aktivitäten auf die Ebene der Europäischen Union. Die EU-Kommission beobachtete die Entwicklungen in der Türkei. Das Europäische Parlament begleitet die Beitrittsverhandlungen mit jährlichen Fortschrittsberichten. Zudem wurde 2004 die EU Turkey Civic Commission (EUTCC) ins Leben gerufen. Die EUTCC veranstaltet seit 2004 gemeinsam mit dem Europäischen Parlament jährlich eine Konferenz, in der die politisch-diplomatische Lösung des türkisch-kurdischen Konfliktes im Mittelpunkt steht. Bis 2013, als Abdullah Öcalan in einer im Gefängnis verfassten Botschaft zum Newros-Fest verkündete, dass die kurdische Seite den bewaffneten Konflikt beendet und die kurdischen Forderungen nach Autonomierechten nur noch auf politischem Weg ausgehandelt werden sollten, sah es so aus, dass diese Strategie Erfolg hat.
Ab 2014 veränderte sich dann die Lage. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beendete einseitig den Friedensprozess mit den Kurden. Gleichzeitig stagniert der Prozess der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei. Die konservativen Kräfte im Europäischen Parlament, aber auch Regierungschefs wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel standen dem Beitritt der Türkei zur EU ablehnend gegenüber. Aus ihrer Sicht gehöre die islamisch geprägte Türkei nicht zur christlich geprägten EU. Zudem entwickelte Erdoğan die Türkei zunehmend zu einer Diktatur, die immer weniger den Kopenhagener Kriterien – insbesondere dem Kriterium der Rechtsstaatlichkeit – entspricht. Zwar sind die Beitrittsverhandlungen offiziell bisher nicht eingestellt worden. Aber von beiden Seiten gibt es derzeit kein ernsthaftes Interesse mehr an einem Beitritt der Türkei zur EU.
Der politisch-strategische Ansatz, den Konflikt zwischen der türkischen Regierung und den Kurden im Rahmen der Beitrittsverhandlungen friedlich zu lösen und den Kurden die ihnen zustehenden Rechte zu gewähren, hatte damit seine Grundlage verloren.
Durch den Ukraine-Krieg und dem daraus resultierenden Antrag Schwedens und Finnlands auf eine Nato-Mitgliedschaft ist Erdoğan nun in eine für ihn noch günstigere Position gekommen. Die EU-Mitgliedsländer, die überwiegend der NATO angehören, haben gegenwärtig kaum noch eine Chance, politischen Druck auf Erdoğan auszuüben, um ihn im Blick auf die Kurden zur Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten zu drängen. Denn in dem Konflikt mit Russland wird die NATO alles tun, um die Türkei als Partner in ihren Reihen zu halten.
Das heißt, die über viele Jahre verfolgte politische Strategie, den türkisch-kurdischen Konflikt im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen politisch-diplomatisch zu lösen, funktioniert angesichts der veränderten Machtverhältnisse nicht mehr. Es ist an der Zeit, nach eine neue Strategie zu entwickeln, die diese alte Strategie ersetzt. Sie muss ihren Fokus ausweiten von der EU-Ebene auf die internationale Eben und auf die Ebene der Mitgliedsstaaten und auch auf die regionale und lokale Ebene.
Titelbild: Schwedische Botschaft in Helsinki | Foto: Jürgen Klute, CC BY-NC-SA 4.0
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