Beitrag von Bernhard Clasen

(aktualisiert am 24.08.2019)

Viele kleine Atomreaktoren sollen marode Sowjet-AKWs in der Ukraine ersetzen

Irgendetwas muss geschehen in der ukrainischen Atompolitik. Derzeit sind in der Ukraine vier AKWs mit insgesamt 15 Reaktoren am Netz. Alle sind sie sowjetischer Bauart. 11 von ihnen haben die auf 30 Jahre angelegte Laufzeit schon überschritten. Auch wenn es gängige Praxis in der Ukraine ist, die Laufzeit von AKWs um zehn Jahre zu verlängern, muss früher oder später eine Lösung gefunden werden, diese AKWs, die 50 Prozent des ukrainischen Strombedarfs decken, zu ersetzen.

Und der ukrainische staatliche Atomkonzern „Energoatom“, der der alleinige Betreiber aller ukrainischer AKWs ist, meint diese Lösung gefunden zu haben.

Am 10. Juni hatten die Chefs von „Energoatom“, der US-amerikanischen Holtec International und dem ukrainischen staatlichen Zentrum für Strahlensicherheit, ein gemeinsames Konsortiums zum Bau von kleinen Atomkraftwerken in der Ukraine gegründet. Diese sogenannten kleinen modularen Reaktoren, Kleinkraftwerke vom Typ SMR-160, können dezentral gebaut werden.  „SMR sind besonders bedrohlich für die Welt, weil sie dezentral massenhaft aufgebaut werden könnten, womit sich atomare Unfallgefahren und Terrorziele potenzieren würden.“ hatte der Journalist Franz Alt schon im Dezember 2016 vor diesen Klein-AKWs gewarnt.

Vor dem Hintergrund der Unterzeichnung des Vertrages vom 10. Juni gibt es nun unter Fachleuten und Umweltschützern in der Ukraine Streit. Olga Koscharna, Vorstandsmitglied des „Ukrainischen Atomforums“, begrüßt die Einführung von SMR. Das „Ukrainische Atomforum“, dessen Direktor der Chef von „Energoatom“, Jurij Nedaschkowskij, ist und dessen Mitglieder vor allem Firmen der ukrainischen Atomwirtschaft sind, gilt als atomfreundlich.

„Kleine Reaktoren sind populär geworden. Derzeit hat die Ukraine Reaktoren von 1000 Megawatt Leistung, bei kleinen Reaktoren liegt die Leistung bei 50, 100 oder 300 Megawatt.“, so Koscharna. Der Vorteil kleiner Atomkraftwerke, so Koscharna, sei, dass sie dezentral und direkt beim Nutzer gebaut werden könnten. Bei kleinen Reaktoren sei vieles einfacher als bei den derzeit betriebenen 1000 MW-Reaktoren. Und sie könnten auch im Gegensatz zu den großen Reaktoren in Serie gebaut werden.

Vorbild sind für sie bei der Einführung kleiner Atomkraftwerke Kanada und Rußland. In Kanada seien Kleinkraftwerke sehr praktisch, gebe es dort doch Regionen, in die man Dieselkraftstoff nur zwei Monate im Jahr anliefern könne. Und auch Rußland werde bald zwei Kleinreaktoren auf einem schwimmenden Atomkraftwerk einsetzen.

Ungefährliche Klein-AKW?

Gefährlich seien die Atomkraftwerke der neuen Generation nicht, so Koscharna, werde man doch bei diesen die aus Tschernobyl und Fukushima gezogenen Lehren berücksichtigen, die Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO garantieren.

Mit der neuen Generation an Atomkraftwerken könne die Ukraine zu einem „Hub“ werden für eine Produktion dieser AKWs. Die Infrastruktur sei mit den Maschinenbaufabriken, Röhrenwerken etc. vorhanden. Perspektivisch könne man gemeinsam mit der US-amerikanischen Holtec derartige Kraftwerke bauen und sie anschließend verkaufen.

Auch Sergiy Denisenko von der Umweltschutzorganisation „Mama86“ ist von den Kleinkraftwerken angetan. „Die meisten AKWs werden in den nächsten Jahrzehnten stillgelegt werden. Da brauchen wir einen Ersatz“ erklärt er. Insgesamt, davon ist Denisenko überzeugt, seien kleine AKWs sicherer als große. „Und wenn es doch zu einer Havarie kommen sollte, ist die in ihrem Ausmaß nicht so groß.“

Ganz anders die Position von Iryna Holovko, Energiecampaignerin der ukrainischen Umweltgruppe „Ekodia“ und ukrainische Vertreterin von „Bankwatch“. Holovko ist eine der Herausgeberinnen der in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem staatlichen „Institut für Wirtschaft und Prognostizierung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine“ 2017 veröffentlichen Studie „Der Übergang der Ukraine zu erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050“. In der 86-seitigen Studie kommen die Autoren zu der Auffassung, dass ein Übergang zu 90-100% erneuerbarer Energie in der Ukraine machbar ist.

„Die Ukraine braucht keine neuen Atomkraftwerke. Weder große noch kleine. Wir schaffen es, bis 2050 zu 91 Prozent von erneuerbarer Energie zu leben. Was hat uns doch die Atomwirtschaft schon alles versprochen: Generation IV+ – Reaktoren, schnelle Brüter etc. Wir haben nicht die Zeit, uns wieder auf ein Versprechen der Atomwirtschaft einzulassen.“

Die Ukraine, so Holovko, sollte besser ihre vorhandene industrielle Infrastruktur nutzen, um zu einem Hub für umweltfreundliche Energieträger zu werden. „Wir können Solarzellen, Windkrafträder produzieren und exportieren. Und das dürfte für Europa preisgünstiger sein als der Import dieser Produkte aus China“, so Holovko.

Doch das Zukunftsmodell der ukrainischen Atomindustrie ist Atomstrom. Vergangene Woche unterzeichnete Energoatom und die kanadische Cameco ein Memorandum über den Ausbau der Atomenergie in der Ukraine. Mit neun Prozent der weltweiten Uranlieferungen gehört Cameco zu den wichtigsten Playern auf dem Markt der Atomenergie. 2016 hatte Energoatom bereits eine vertragliche Zusammenarbeit mit dem britisch-niederländisch-deutschen Konzern Urenco über die Lieferung angereicherten Urans vereinbart.

Auch Russland setzt auf kleine Atomkraftwerke. Am Freitag startete das schwimmende AKW, die „Akademik Lomonossow“, von Murmansk zu seinem Bestimmungshafen im fernöstlichen Pewek. Dort soll das schwimmende AKW die Stadt Pewek und Ölplattformen mit Strom versorgen.

Titelfoto: Tschernobyl, Uwe Brodrecht CC BY-SA 2.0

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