Der Krieg ist zurück in Europa. Putins Invasionsarmee stellt die Weltgemeinschaft auf eine harte Probe und trifft Deutschland unvorbereitet.
Von Milan Herrmann
Über die letzte Woche verdichten sich die Zeichen, dass Putin von einer diplomatischen Lösung abgerückt ist und ein russischer Militäreinsatz in der Ukraine bevorstehen könnte. Doch auch die aggressive Fernsehansprache des Kremlchefs am Montag [1], in der er seinen Nachbarn Legitimität und Eigenständigkeit abspricht, ließ offen, in welchem Ausmaß der Krieg zurück nach Europa drängen würde.
Für politische Beobachter, die Putin ein Mindestmaß an Rationalität unterstellten (mich eingeschlossen), war bis zur Nacht vom 24. nur schwer vorstellbar, dass mehr als die beiden Regionen Donezk und Luhansk auf dem Spiel stehen. Trotz seines zur Schau gestellten Nationalismus hatte Putin stets Konflikte vermieden, deren Folgen unvorhersehbar schienen.
Diesmal entschied er sich für ein außenpolitisches All In.
Ende der Erklärungsversuche
An diesem Punkt angekommen ist es leider müßig, darüber zu diskutieren, welche Motivation Russland zu den Waffen treibt. Mit der anlasslosen und völkerrechtswidrigen Kriegserklärung an die Ukraine wurden Fakten geschaffen, die schlicht unentschuldbar sind und klarer wie koordinierter Gegenmaßnahmen bedürfen. Sogar der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban [2] und der tschechische Staatspräsident Miloš Zeman [3], die für ihre Nähe zu Moskau bekannt sind, erkennen die Dringlichkeit und verurteilen die Invasion scharf.
Ein Zusammenrücken der Europäischen Union und der NATO-Staaten ist auch bitter nötig, denn niemand kann mit Sicherheit sagen, ob der Feldzug gegen die Ukraine bereits das Ziel ist oder erst den Startpunkt weiterer russischer Expansionsbemühungen markiert. Insbesondere die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind aufgrund ihrer geographischen Lage äußerst gefährdet und aus NATO-Sicht kaum zu verteidigen [4].
Die Antwort der NATO
Für das transatlantische Verteidigungsbündnis wird es in den kommenden Wochen vornehmlich um zwei Punkte gehen. Erstens soll verhindert werden, dass der Konflikt auf die NATO übergreift. Käme es zu einer unmittelbaren Konfrontation, dann wäre auch der Einsatz von Nuklearwaffen nicht mehr ausgeschlossen. Zweitens soll Russland die finanzielle Grundlage für seinen Krieg gegen die Ukraine genommen werden.
Mit Blick auf eine potentielle Ausweitung des Kriegs muss konstatiert werden, dass Kiew militärisch zwangsläufig auf sich gestellt bleiben wird. Der Luftraum sowie der Zugang zum Schwarzen Meer sind abgeriegelt und der Beschuss von NATO-Transporten könnte zum Bündnisfall führen. Die Unterstützung durch Waffen und weiteres Zubehör sind aus diesem Grund kaum möglich.
Umso lauter werden die Rufe danach, Russland auf finanzieller Ebene empfindlichen Schaden zuzufügen. Neben den durchgesetzten Sanktionen, die vor allem Individuen, Banken und den Export von Hightech betreffen, ist auch die vollständige Abriegelung vom internationalen Zahlungsverkehr im Gespräch [5]. Sie soll anders als die Sanktionen eine kurzfristige Wirkung erzielen. Ein tatsächlicher Ausschuss aus der Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication, SWIFT [6], scheitert nach CNN-Informationen derzeit am Widerstand Deutschlands, Italiens, Ungarns und Zyperns [7].
Deutschlands Risken
Der Druck auf die Veto-Staaten wird in Anbetracht des akuten Kriegsgeschehens und der nur langfristig wirkenden Sanktionen zunehmen. Zudem könnten weitere Teilerfolge des ukrainischen Militärs SWIFT erneut auf die Tagesordnung bringen. Dabei träfen die Folgen nicht nur die russische Wirtschaft hart. Auf der Seite der NATO müsste vor allem Deutschland mit erheblichen Einbußen und Risiken rechnen.
Das deutsch-russische Handelsvolumen betrug im letzten Jahr mit 59 Mrd Euro [8] ziemlich genau den doppelten Wert des amerikanisch-russischen Warenverkehrs [9]. Zahlreiche hiesige Unternehmen stünden womöglich vor dem Aus. Einerseits wären sie darauf angewiesen, neue Handelspartner bzw. Zulieferer zu finden. Andererseits müssten sie umfangreiche Abschreibungen tätigen, da Schulden nach einem SWIFT-Ausschluss nicht mehr einzutreiben wären.
Darüber hinaus bedroht das Abschneiden Russlands auch die deutsche Energieversorgung. Die Fortführung von Geschäften mit russischen Gas- und Öllieferanten wäre unter solchen Bedingungen nahezu unmöglich [10]. Gazprom müsste nicht einmal den Hahn zudrehen. Es bestünde schlicht keine Möglichkeit, den Zahlungsverkehr abzuwickeln. Ganz abgesehen von deutlichen Preisaufschlägen ist äußerst unwahrscheinlich, dass so schnell Ersatz für die Hälfte der Gas- und ein Drittel der Ölversorgungen gefunden werden kann.
Bundesregierung ohne Optionen
Berlin steckt also in einer Zwickmühle: Auf der einen Seite wird vom größten EU-Mitglied erwartet, mehr Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite fallen Sanktionen gegen Russland auch unmittelbar auf die Bundesrepublik zurück. Endlos kann dieser Widerspruch wohl nicht aufrechterhalten werden.
Um anderweitig tätig zu werden, fehlen der Regierung Scholz allerdings die Mittel. Sowohl materiell als auch organisatorisch kann die Bundeswehr nur sehr begrenzt zum militärischen Schutz der Bündnispartner beitragen. So ist es – wie von mehreren Experten diese Woche bestätigt – zu erklären, dass Verteidigungsministerin Lambrecht auf ein Hilfsgesuch der Ukraine mit der Schenkung von 5000 Helmen reagierte.
Zusammenfassend lässt sich die Aussage von Heeresinspekteur Mais, dass die Bundeswehr mehr oder weniger blank dastehe [11] durchaus auf die Bundesrepublik übertragen. Spätestens mit dem Zertifizierungsstopp von Nordstream 2 sind Deutschland die Optionen ausgegangen. Es steht blank da.
Anmerkungen
[1] phoenix Ukraine: Wladimir Putin verkündet Anerkennung der Separatistengebiete in Rede an die Nation [2] RND | RND/AP : Ungarns Regierungschef Orban stellt sich gegen Russland[3] Radio Prague International „Russland bringt Krieg nach Europa“ – tschechische Reaktionen auf den Einmarsch in die Ukraine[4] Tagesspiegel | Georg Ismar interviewt Carlo Masala Sicherheitsexperte zu russischem Krieg „Putin will die Ukraine nicht besetzen“ – aber einen russischen Vasallenstaat [5] CNN : The EU is undecided on whether to cut Russia from a vital global payment network [6] Handelsblatt | Christoph Herwartz EU-Gipfel bringt Strafmaßnahmen auf den Weg – Swift-Sanktionen verhindert Olaf Scholz bislang[7] Sueddeutsche | Thomas Fromm, Victor Gojdka, Alexander Hagelüken, Stephan Radomsky und Markus Zydra Nach der Invasion: Wie Finanzsanktionen Russland treffen sollen [8] Statistisches Bundesamt , Presse Fakten zum Außenhandel mit Russland[9] United States census, Trade in Goods with Russia [10] New York Times | Alan Rappeport Daily Business Briefing. Why didn’t the U.S. cut off Russia from SWIFT? It’s complicated. [11] LinkedIn | Alfons Mais
Titelbild: Ukraine by Denis Bondariev CC BY-SA 2.0 via FlickR
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