Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr haben am Dienstag Vormittag Unbekannte eine Gruppe von UmweltaktivistInnen in der Nähe von Charkiw überfallen – mit Messern und Baseballschlägern. Das erste Mal wurde das Haus der Sprecherin der Gruppe im Februar mit einer Granate angegriffen.

Von Bernhard Clasen

Eine von Schlaglöchern übersäte Straße führt zum Dorf Olchovka, einem Vorort von Charkiw. Es ist ein gemütliches Anwesen, das sich Natalja Schibajewa und ihr Mann Michail Subkow gekauft haben. Mit dem Auto sind beide, sie eine Dozentin für Wirtschaftswissenschaften und er Sporttrainer, in einer halben Stunde in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. In Olchovka scheint die Welt noch in Ordnung zu sein, die Luft ist frisch und sauber, kaum Autos auf der Dorfstraße, an der im Sommer die Kinder spielen. So sieht es zumindest auf den ersten Blick aus. Das Paar hat sich das Haus von seinen Ersparnissen gekauft. Schibajewa blickt auf eine Karriere als Sportlerin zurück. Sie hatte an den Olympischen Spielen teilgenommen, 1985 war sie die Dritte bei den Europameisterschaften im 100-Meter-Rücken-Schwimmen und 1986 die Dritte bei der Weltmeisterschaft.

Doch seit dem 5. Februar 2021 lebt das Ehepaar in Angst. Mitten in der Nacht wurde auf den ersten Stock ihres Hauses eine Granate geworfen. Sofort gerieten ihre beiden Autos in Brand. Glücklicherweise blieben beide, die direkt ein Stockwerk unterhalb der Stelle, die von der Granate getroffen worden war, schliefen, unversehrt. Als sie vor das Haus gingen, waren die Angreifer längst über alle Berge.

Für die beiden ist klar, warum sie als Opfer des Anschlages ausgesucht worden waren. Seit Monaten kämpft das Paar gegen eine Kiesgrube in ihrer Nähe. Diese sei entgegen aller gesetzlichen und ökologischen Anforderungen in Betrieb genommen worden. Zwar lägen die erforderlichen Genehmigungen vor, doch vieles im Genehmigungsverfahren sei rechtswidrig gewesen. Seit 2019 brettern schwere Lastwagen durch die ehemals idyllische Ortschaft. 60 – 80 pro Tag. Die Dorfbewohner klagen über den Gestank der Fahrzeuge, Risse in den Häusern, Lärm und einen sinkenden Wasserspiegel. „Bei einigen meiner Nachbarn versiegen die Brunnen im Garten“ so Schibajewa.

So hatte man sich ein Gebiet, das der Erholung auch von gestressten StadtbewohnerInnen dienen sollte, nicht vorgestellt. Doch das Ehepaar wollte sich das nicht gefallen lassen. Gemeinsam gingen sie auf Sitzungen des Gemeinderates, machten Eingaben bei der zuständigen Umweltbehörde, mobilisierten unter den Anwohnern gegen die Kiesgrube, protestierten in Charkiw, forderten ihr Gebiet zum Naturschutzgebiet zu erklären. Schibajewa gründete eine Gruppe auf dem Netzwerk Viber. Wer einen Laster sah, informierte umgehend die Viber-Gruppe. Und nicht selten traf man sich dann auf einem Bürgersteig in der Ortsmitte. Oftmals verharrten die Protestierenden bei Minustemperaturen Stunden auf dem Fußgängerüberweg und verhinderten so die Weiterfahrt der Laster. Dadurch ist der Betrieb der Kiesgrube in den letzten Monaten weitgehend zum Erliegen gekommen.

Aufgeben will das Ehepaar nicht. Auch nach dem Anschlag koordinierten sie den Widerstand der 30 Aktivisten im Dorf, gegen die bestehende Kiesgrube und eine zweite Kiesgrube, die demnächst in der Nähe des Dorfes ihren Betrieb aufnehmen soll.

Doch die Frauen und Männer von Olchovka sehen, dass es kaum noch möglich ist, die bestehende Kiesgrube zu stoppen, wie sie noch vor Wochen auf öffentlichen Protestaktionen gefordert hatten. Doch sie glauben, dass sie mit ihren Aktionen die weitere geplante Kiesgrube verhindern können.


Viel ist noch unklar zum Überfall mit Messern und Baseballschlägern am Morgen des 16. März. Und es ist zu befürchten, dass die Hintergründe dieses Überfalles noch sehr lange unklar bleiben werden.

Mitarbeit: Stanislaw Kibalnik (Charkiw)

Auf russisch berichtet das Charkower Online-Portal Assembly.org.ua

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Titelbild: Natalja Schibajewa / Titelbild und Fotos: © Bernhard Clasen

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