Interview von Bernhard Clasen

Seit Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts ist die in Moskau lebende russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina (82) wohl die bekannteste Aktivistin, die Flüchtlingen, Vertriebenen, Migranten und Obdachlosen hilft. Sie ist die Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation „Komitee Bürgerbeteiligung“, vom russischen Justizministerium wurde sie zur „ausländischen Agentin“ erklärt.
In der zweiten Juni-Woche wird Gannuschkina in Deutschland sein, wo sie mit Behörden, Ministerien, Menschenrechtlern und Organisationen sprechen wird. Mit ihrem Besuch will sie zum einen vor Abschiebungen von regierungskritischen RussInnen warnen und gleichzeitig über die Lage vor Ort in Russland – aus der Sicht einer Menschenrechtlerin berichten.
Gannuschkina hat sich wiederholt öffentlich gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgesprochen, ihr Kollege Oleg Orlow ist im Februar diesen Jahres zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren wegen seines Protestes gegen den Krieg verurteilt worden.
Bernhard Clasen, der die Menschenrechtlerin aus Russland als Dolmetscher begleiten wird, sprach mit ihr.

Bernhard Clasen: Ende März sind mindestens 137 Menschen bei einem Terrorakt in Moskau ums Leben gekommen. Laut den russischen Behörden stammen die vier Haupttäter aus Tadschikistan. Was bedeutet dieser Anschlag für das gesellschaftliche Leben in Russland heute?

Swetlana Gannuschkina: Das war ein schrecklicher Terroranschlag. Immer, wenn ich von einem Terroranschlag höre, ist mein erster Gedanke bei den Opfern dieses Anschlages.

Doch mein zweiter Gedanke ist bei den Migranten. Denn nach jedem Terroranschlag wird erneut Jagd auf Migranten gemacht. Meistens nimmt man sich da eine besondere Gruppe vor. 2006 waren es beispielsweise die in Russland lebenden Georgier.

Ein anderes Mal nach gewalttätigen Auseinandersetzungen auf einem Markt waren Aserbaidschaner die Opfer. Warum machen die staatlichen Organe so etwas? Nun, dahinter steckt der Gedanke, dass eine Gruppe eine Kollektivschuld für die Verbrechen einzelner trägt. Es reicht schon aus, Tadschike zu sein und schon bist verantwortlich für alle Tadschiken. Mit anderen Worten: dann bist du ein Verdächtiger.

Bernhard Clasen: Und wie sieht es jetzt konkret nach dem Massaker in der Crocus City Hall Ende März für die in Russland lebenden Migranten aus Zentralasien aus?

Swetlana Gannuschkina: In den ersten Tagen nach dem Massaker wurden mehr Migranten als sonst üblich abgeschoben. Man hat sie einfach mehrfach auf der Straße angehalten und wenn nur irgendetwas in ihren Papieren nicht in Ordnung war, hat man sie vor Gericht gestellt. Und die Gerichte haben dann in Schnellverfahren deren Abschiebung verfügt. Wir haben nachgerechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass in den ersten zwei Wochen nach dem Massaker 40% mehr Abschiebungen verfügt wurden als üblicherweise. Aber schon in der dritten Woche war es wieder so wie vorher.

Besonders schwer für die Migranten war es in Sankt Petersburg. Dort wurde buchstäblich Jagd auf Tadschiken gemacht. Und auch auf Migranten aus Usbekistan. Man hat sie gejagt, ihnen Handschellen angelegt und in kurzer Zeit in ihr Heimatland abgeschoben. Ich habe meine Mitarbeiterinnen in verschiedenen russischen Städten befragt. Und so ist mir bekannt, dass z.B. in Rostow die Straßenkontrollen zwar verschärft worden sind, aber insgesamt wurden von dort nicht mehr Migranten abgeschoben. Auch haben wir das Gefühl, dass dieses Mal kein Befehl von oben gekommen ist, Tadschiken zu jagen. Das hat uns etwas beruhigt.

Doch dann wurden die Grenzkontrollen verschärft, immer mehr Tadschiken wurden direkt an den Landesgrenzen abgewiesen. Ein Bekannter, der in dieser Zeit in Moskau einen Tag am Flughafen festgehalten worden ist, berichtete mir, dass er an diesem einen Tag beobachtet habe, dass jeder fünfte Tadschike zurückgewiesen worden ist. Ich selbst bin am 30. April von Europa zurückgekehrt und habe gesehen, dass man acht tadschikischen Staatsbürgern die Pässe abgenommen hatte. Auch auf mich warteten Fragen. Deswegen war ich eine gewisse Zeit im Transitbereich. Und da habe ich gesehen, dass in meinen Stunden des Wartens zehn Tadschiken die Pässe abgenommen worden waren. Ob sie diese wieder erhalten hatten oder ob sie abgewiesen worden waren, weiß ich nicht. Deren Lage war zu dem Zeitpunkt, als ich den Flughafen verlassen hatte, unklar.

Bernhard Clasen: Was bedeutet dieser Krieg für Sie persönlich?

Swetlana Gannuschkina: In den ersten Kriegstagen war jeden Morgen mein erster Gedanke: „du hast schlecht geschlafen, das ist alles nur ein Albtraum“. Lange habe ich nicht glauben wollen, dass es so ist. Ich empfinde Schuld, ich spüre meine Verantwortung. Es zerreißt mir die Seele, dass ich meine Verantwortung spüre und gleichzeitig meine Hilflosigkeit. Jetzt geschehen Dinge in meinem Namen, die faktisch eine heilige Seite in unserer Geschichte durchstreichen. Es ist die Geschichte meines Landes, der Sieg über den Faschismus. Und wir, also mein Land, stehen heute auf der anderen Seite. Wegen der Entscheidung von faktisch einem Menschen.

Bernhard Clasen: Wie waren für Sie die ersten Tage des Krieges?

Swetlana Gannuschkina: Ich dachte immer wieder an den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. Auch damals haben unsere Machthaber zuvor beteuert, dass man nicht in die Tschechoslowakei einmarschieren wolle – und wir haben ihnen geglaubt. Zunächst. Doch dann haben sie das ein zweites Mal, ein drittes Mal und ein viertel Mal beteuert. Und da haben wir ihnen schon nicht mehr geglaubt.

Nun, wenn man die Wahrheit sagen will, ist es genug, wenn man das einmal tut. Und wenn man aber immer wieder eine Sache wiederholt, kommen doch Zweifel auf, ob das alles so seine Richtigkeit hat. Damals hatten wir uns gefragt, warum es denn nur so oft wiederholt werde, dass man nicht einmarschieren werde. Und auch dieses Mal war es so, dass wir uns auch diese Frage gestellt haben.

Ich war im Ausland gewesen, als ich vom Kriegsbeginn gehört hatte. Wir haben gerade ein Treffen von Memorial. Oleg Orlow hat sofort unser Treffen verlassen, ist nach Moskau geflogen – und war wenig später mit einem Protestplakat auf dem Roten Platz. Sofort am zweiten Tag nach Kriegsbeginn ist er auf den Roten Platz gegangen.

Überhaupt: der Krieg Russlands mit der Ukraine, das ist Wahnsinn. Und keine noch so gut überlegte Rechtfertigung kann jemanden überzeugen. Und es ist nicht richtig zu glauben, dass das ganze Volk diesen Krieg unterstützt.

Bernhard Clasen: Man sagt, die Bevölkerungsmehrheit in Russland unterstützt diesen Krieg?

Swetlana Gannuschkina: Das machen uns die offiziellen Medien glauben, dass wir ja alle Putin unterstützen würden. Aber ich sehe und empfinde das nicht so. In meinem näheren Umfeld ist niemand, der diesen Krieg unterstützt. Nun kann man natürlich sagen, dass das alle meine Verwandten und mir nahe Menschen sind. Aber immer wieder sprechen mich Menschen auf der Straße an. Vor allem, wenn ich wieder mal ein Interview gegeben habe. Und dann kommt es vor, dass ich durch eine Grünanlage gehe, jemand auf einmal von einer Parkbank aufsteht, auf mich zukommt und mir sagt: „Wir haben gerade das Interview mit Ihnen gesehen. Vielen Dank.“ Das sind fremde Menschen und sie haben den Mut, mir das auf der Straße zu sagen. Und sie sagen, dass sie meine Position unterstützen und sie sagen mir, dass sie sich schämen dafür, dass sie sich nicht trauen, öffentlich zu protestieren, gleichwohl sie sich als meine Gesinnungsgenossen bezeichnen. An eine Frau kann ich mich besonders gut erinnern. Sie sagte: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass viele so denken wie ich. Ja, wir schweigen. Aber wir unterstützen das alles nicht. Wir sind auf Ihrer Seite.“ Für mich ist das angenehm, das zu hören.

Bernhard Clasen: Ok, aber öffentliche Proteste gab es nicht?

Swetlana Gannuschkina: Ich habe mich an der Aktion „Ein Mittag gegen Putin“ beteiligt. Bei dieser Aktion, die von Maxim Resnikow aus St. Petersburg ausgegangen war, die auch von Nawalni unterstützt worden war, wurden die Wähler aufgerufen, Punkt 12 Uhr an den Wahlurnen zu erscheinen und dann auf dem Wahlzettel alle Kandidaten durchzustreichen.

Ich bin also um 12 Uhr zur Stimmabgabe erschienen. Noch nie war es mir passiert, dass ich bei der Stimmabgabe habe warten müssen. Doch dieses Mal war es anders. Eine ganze Menschenschlange hatte vor den insgesamt acht Wahlurnen gewartet. Das war ein wunderbares Gefühl der Einheit. Denn wir alle wussten, warum wir jetzt zu diesem Zeitpunkt im Wahllokal waren.

Ich halte nichts von der Sichtweise, wir hätten durch unsere Stimmabgabe die Wahl legitimiert, die Wahlbeteiligung erhöht. Erstens geben die sowieso Zahlen einer Wahlbeteiligung durch, die sie sich selbst erdacht haben. Und außerdem war allen klar, dass wir aus Protest zu diesem Zeitpunkt zur Wahl gekommen sind. Eine Aktion, die die Machthaber und Wahlbeobachter natürlich bemerkt haben.

Bernhard Clasen: Und wie geht es nun weiter mit Ihrer Arbeit?

Swetlana Gannuschkina: Was mich freut ist, dass wir viele Freiwillige haben, die zu uns kommen, uns helfen. Und das, obwohl wir als sogenannte ausländische Agenten registriert wurden, was bedeutet, dass eine Zusammenarbeit mit uns für die betreffende Person schon ein Risiko ist. Wenn wir eine offene Stelle anbieten, haben wir in der Regel Dutzende von Bewerberinnen und Bewerbern.

Dann gibt es auch Organisationen von Freiwilligen, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, die sich aktuell in Russland aufhalten und in den Westen ausreisen wollen. Man muss fairerweise sagen, dass nicht viele der in Russland lebenden UkrainerInnen in den Westen ausreisen wollen. Was an der kulturellen und sprachlichen Nähe und verwandtschaftlichen Bindungen liegt. Denn fast alle von ihnen haben Verwandte oder sehr nahe Freunde in Russland. Es ist schon ein Unterschied, ob man in einem Umfeld lebt, wo man die Sprache versteht oder man sich an einem Ort befindet, wo man niemanden kennt und eine dir fremde Sprache gesprochen wird. Und diese Gruppen arbeiten ziemlich effektiv. So wurde kürzlich einer Familie bei der Umsiedlung nach Deutschland geholfen. Und die Freiwilligen haben sie die ganze Strecke begleitet, hatten einen Kinderwagen, einen Rollstuhl, Pampers und Übernachtungen organisiert. All das wurde mit privaten Spenden finanziert.

Viele helfen, andere geben Geld. Und sie tun das, weil sie irgendwie auf der Seite des Guten stehen wollen. Das heißt nicht, dass mich das beruhigt, schließlich sterben doch so viele Menschen, sie sterben für irgendjemandes Ambitionen. Gleichwohl erleichtert mir dies etwas die Schmerzen in meiner Seele. Unser Volk ist nicht so schlecht, wie man meinen könnte, wenn man den Propagandisten zuhört.

Bernhard Clasen: Unter welchen Bedingungen arbeiten Sie aktuell?

Swetlana Gannuschkina: Keine Sorge, an Schwierigkeiten haben wir keinen Mangel. Unsere Organisation wurde vom Justizministerium in die Liste der „ausländischen Agenten“ eingetragen. Und die diskriminierenden Maßnahmen gegen diese so genannten Agenten werden ständig erweitert. Und das hat zur Folge, dass die Banken mit uns nur ungern zusammenarbeiten. Sie haben die bürokratischen Hürden für die Überweisung an Spenden für uns erhöht.
Ein weiteres Problem sind unsere Räumlichkeiten, in denen wir Flüchtlingen und Migranten Hilfe leisten. Längere Zeit hatten wir von der Friedrich-Ebert-Stiftung kostenlos Räumlichkeiten bekommen. Doch nun wurde die Friedrich-Ebert-Stiftung zur unerwünschten Organisation erklärt. Und so müssen wir uns leider nach anderen Räumlichkeiten umsehen.

Bernhard Clasen: Wie geht es mit Russland weiter?

Swetlana Gannuschkina: Diese Frage ist mir zu schwer. Ich kann nur eines sagen: Ich bin für eine Aktion, an der ich mich nicht beteiligt habe, mit einer Geldstrafe von umgerechnet 100 Euro belegt worden. Dem Gericht war bekannt, dass ich ein Alibi habe. Trotzdem wurde ich bestraft. Nun, hundert Euro Geldstrafe sind noch verkraftbar. Das Problem ist: die Gerichte arbeiten nicht anders, wenn es um Haftstrafen von zehn Jahren und mehr geht. Das zeigt: in unserem Staat und in unserem Rechtssystem grassiert die Willkür. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Bernhard Clasen: Wie geht es mit dem Krieg weiter?

Swetlana Gannuschkina: Jeder Krieg endet mit einem Frieden. Es sei denn, wir vernichten die gesamte Menschheit. Und dass das möglich ist, wissen wir ja, seitdem es Atomwaffen gibt. Die Frage lautet nun: haben wir genug Weisheit und kollektives Verantwortungsgefühl, um die Vernichtung der Menschheit und die Vernichtung von allem Leben auf diesem Planeten zu verhindern. Wir sind aktuell so nah, wie noch nie zuvor an so einer schrecklichen Möglichkeit. Die Menschheit befindet sich an ihrem Wendepunkt.

Zur Person

Swetlana Gannuschkina (82) ist die Vorsitzende des Komitees Bürgerbeteiligung (Civic Assistance), die erste Nichtregierungsorganisation Russlands, die Migranten und Flüchtlingen hilft. Gleichzeitig war sie bis zum Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums Memorial.

Memorial hatte 2022 den Friedensnobelpreis erhalten. Daneben hatte Gannuschkina folgende Preise erhalten:

2003: Amnesty International Menschenrechtspreis (deutsche Sektion)
2006: Homo Homini Preis
2007: Andrei Sacharow-Freiheitspreis
2010: Orden der französischen Ehrenlegion
2014: Schwarzkopf-Europa-Preis der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa
2016: Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis)
2022: Anna-Politkowskaja-Preis (zusammen mit Tetiana Sokolova)

Titelbild: Swetlana Gannuschkina, Foto: Bernhard Clasen

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