Darum geht es beim Streit um das Renaturierungsgesetz der EU

Am 11. Juli ab 9 Uhr steht im Europäischen Parlament die Debatte zum Renaturierungsgesetz (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Wiederherstellung der Natur – siehe auch: EU-Verordnung über die Wiederherstellung der Natur Festlegung verbindlicher Ziele für gesunde Ökosysteme des wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments) auf der Tagesordnung. Am 12. Juli ab 12 Uhr erfolgt die Abstimmung zum Renaturierungsgesetz. Das Renaturierungsgesetz der EU wird vor allem von der Europäischen Volkspartei unter dem Fraktionsvorsitz von Manfred Weber mit allen lauteren und unlauteren Mitteln bekämpft. Der EVP gehören auch die deutschen CDU/CSU-MdEP an. Während die EU-Kommission und auch der Rat der EU das Renaturierungsgesetz befürworten, ist derzeit unklar, ob es im Europäischen Parlament eine Mehrheit erhält. Der folgende Beitrag erläutert die Hintergründe zu diesem EU-Gesetzgebungsverfahren.

Von Hanna Penzer und Helmut Scholz

Es ist lange her, dass in der EU so erbittert über Naturschutz gestritten wurde wie in den vergangenen Monaten. Seit 1992 das letzte EU-Gesetz zum Naturschutz (die Habitate-Richtlinie) auf den Weg gebracht wurde, sind nunmehr über 30 Jahre vergangen. Seitdem standen in Brüssel viele andere Themen im Rampenlicht – selbst angesichts der Green Deal und “Fit for 55” Gesetzgebungen, die angesichts der Herausforderungen aus Klimawandel und Anstieg der globalen Erderwärmung wirtschaftspolitische mit umweltpolitischen Belangen verknüpften. Dabei ist es um Flora und Fauna in der EU schlecht bestellt: 81 % aller unter Schutz gestellten Lebensräume sind in einem mangelhaften Zustand. Auch die Vielfalt der Vogel-, Schmetterlings-, Insekten- und Bienenarten ging in den vergangenen Jahren rapide zurück. Aber spätestens mit der historischen Annahme des Globalen Biodiversitätsrahmens von Kunming-Montreal durch das 15. Treffen der Konferenz der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2022 ist eine Umsetzung dieses weltweit anzuwenden völkerrechtlichen Vertrags in EU-Recht überfällig.

Das diese Woche zur Plenarabstimmung stehende Renaturierungsgesetz („Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“) soll die EU-Mitgliedsländer deshalb zum Gegensteuern zwingen. Dieses Gesetz ist sozusagen ein Kernstück zur Umsetzung der Wiederherstellung der Natur, um das Überleben unserer Zivilisation zu sichern. In nationalen Renaturierungsplänen müssen die EU-Mitgliedstaaten künftig darstellen, wie sie den ökologischen Zustand von etwa 20 % aller Land- und Meeresflächen verbessern wollen. Wird das Gesetz angenommen, müssen Wälder, Flüsse, Sümpfe, Landwirtschaftsflächen und städtische Grünflächen widerstandsfähiger und reicher an Tier- und Pflanzenarten werden. Bis 2030 ist insbesondere vorgesehen, drei Milliarden zusätzliche Bäume zu pflanzen, den Rückgang der Bienenpopulationen zu stoppen und zahlreiche trockengelegte Feuchtgebiete zu renaturieren. Also wichtige, spätestens jetzt zu gehende Schritte in die richtige Richtung.

Weshalb das alles? In Folge der Klimaerwärmung häufiger werdende Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren und Stürme setzen unsere Ökosysteme unter Stress. Gleichzeitig brauchen wir fruchtbare Böden, kühlende Stadtparks oder Treibhausgase bindende Wälder, Sümpfe und Meere wie nie zuvor. Denn: in den letzten Dekaden haben wir ca. 70 % der fruchtbaren Böden verloren, landwirtschaftliche Nutzflächen sind zunehmend verwüstet, und europaweit sind ca. 80 % der natürlichen Lebensräume in katastrophalem Zustand.

Das Vorhaben aber trifft auf den erbitterten Widerstand der konservativen und rechten Kräfte des EU-Parlaments. Befördert von Lobbyinteressen: von der „Stimme der Agrarindustrie in Europa“ Copa-Cogeca wird eine strenge EU-Regulierung abgelehnt.

Dabei scheute die EVP-Führung um Manfred Weber auch nicht davor zurück Falschinformationen zu verbreiten und Druck auf gemäßigte MdEP in den eigenen Reihen auszuüben. Meine Fraktionskolleg*innen haben in den vergangenen Monaten hart daran gearbeitet, gegen den Widerstand der konservativen Kräfte einen zukunftsfesten Rechtsrahmen zum Schutz der Natur durchzusetzen. Und sicher: wir bräuchten noch mehr konkrete Verpflichtungen von Politik und Wirtschaft – gerade auch hinsichtlich der solidarischen Unterstützung der vielen Agrar-Produzent*innen, insbesondere der kleinen und mittelständischen Höfe und Produktionseinrichtungen, aber auch der Agrarbetriebe in den Neuen Bundesländern Deutschlands. Sie dürfen nicht zum alleinigen Zahler der Zeche gemacht werden, die wir als Gesellschaft in unserem ureigensten Interesse vielmehr zu zahlen bereit sein müssen. Darauf wird sich auch die sicherlich weitere, erneute Überarbeitung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU- wenn dieser Blick auf die prioritären Aufgaben der Legislatur 2024-2029 schon mal gestattet ist – beziehen müssen.

Die Abstimmung am Mittwoch, nach der Debatte am Dienstag, wird eng, und vielleicht ist angesichts dessen nicht ganz von der Hand zu weisen, dass wir es hier auch mit einem sich abzeichnenden Tabu brechenden Testlauf der EVP, eine rechtskonservative Mehrheit mit den Stimmen von ganz rechts auszuloten, zu tun haben.

Vielleicht sei hier aber zum Verdeutlichen des inhaltlichen Kerns dieser wichtigen politischen Entscheidung auf europäischer Ebene noch ein Lesetipp angebracht, der die Komplexität der vor uns stehenden Aufgabe überzeugend beleuchtet: Matthias Glaubrecht, “Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten”, C. Bertelsmann Verlag, 2019 (ISBN 978-3-570-10241-1), aber Achtung für alle bald in Urlaub gehenden Leser*innen: 1070 Seiten warten auf Sie.

Die Wiedergabe des Beitrags auf Europablog erfolgt mit Zustimmungen der Autor*innen. Ursprünglich erschien der Beitrag im wöchendlich erscheinenden Newsletter von Helmut Scholz (MdEP | DIE LINKE) „Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 108, 07. Juli 2023“.

Links zum Artikel

  • „Time is up“ – Am 23. Mai 2023 hat der Kriminalbiologe, Autor, Politiker und Schauspieler Mark Beneke in einem Vortrag an der Technischen Universität Dortmund in einem Vortrag einen Überblick über den aktuellen Stand der Klimakrise – auf Basis der aktuellsten Studien (Stand 23. Mai 2023). Beneke geht in diesem Vortrag nicht auf klimaschutzpolitische Vorhaben ein. Dieser Vortrag macht aber sehr gut deutlich, wie wichtig eine Gesetzgebung wie das Renaturierungsgesetz der EU ist. Der Vortrag ist aufgezeichnet worden und auf YouTube abrufbar.

  • Jetzt handeln, um das Klimachaos zu begrenzen. Die Herausforderung ist zu groß, um sie zu ignorieren. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher. Kommentar der anderen von Frans Timmermanns | Der Standard, 15.07.2023

  • Green Deal: Was das knappe Ja für mehr Naturschutz in der EU bedeutet. In einer haarscharfen Abstimmung gab das Europaparlament grünes Licht für ein Kernvorhaben der Kommission. Jetzt starten die Verhandlungen mit den Staaten. Lisa Breit und Alicia Prager | Der Standard, 12.07.2023

  • Umweltschutz im EU-Parlament: Ein Unentschieden für die Natur. Es wird oft Unsinn verzapft, wenn die Rede auf die Renaturierung kommt. Im Kampf um das Für und Wider sind die Kräfte recht gleichmäßig verteilt. Kommentar von Heike Holdinghausen | taz, 12.07.2023

  • Trotz EVP-Widerstand: EU-Parlament stimmt für EU-Renaturierungsgesetz. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments haben am Mittwoch (12. Juli) für das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur gestimmt. Damit scheitert der Versuch der Europäischen Volkspartei, das Gesetz zu verhindern. Jetzt stehen abschließende Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten bevor. Von Kira Taylor | Euractiv, 12.07.2023

  • Green Deal: Verhärtete Fronten im Kampf um neues EU-Naturschutzgesetz. Bis 2030 sollen 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU geschützt werden. Das soll das Renaturierungsgesetz erreichen, über das das EU-Parlament am Mittwoch abstimmt. Die Debatte könnte hitziger kaum sein. Von Lisa Breit und Alicia Prager | Der Standard, 12.07.2023

  • Wird die EVP den Streit ums EU-Renaturierungsgesetz überleben? Heute wird im EU-Parlament über das umstrittene Renaturierungsgesetz abgestimmt. Bei der Abstimmung steht nicht nur der Green Deal, sondern auch die Zukunft der Europäische Volkspartei (EVP) auf dem Spiel, kommentiert Kira Taylor. Von Kira Taylor | Euractiv, 12.07.2023

  • EU-Renaturierungsgesetz: Proteste dominieren Straßburg. Klimaschützer und Landwirte protestierten am Dienstag (11. Juli) in rivalisierenden Kundgebungen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Am Mittwoch stimmt das EU-Parlament über das umstrittene Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ab. Von Kira Taylor, Kjeld Neubert, Natasha Foote und Quinn Coffman | Euractiv, 12.07.2023

  • Neubauer: “Riesengroße Sorgen” um EU-Umweltgesetz. Das EU-Renaturierungsgesetz wird aus Sicht von Luisa Neubauer “offensichtlich gebraucht” und darf vom EU-Parlament nicht blockiert werden. Im Interview mit EURACTIV warnt die Klimaaktivistin auch vor den Folgen der anstehenden EU-Wahl für den Klimaschutz. Von Julia Dahm | Euractiv, 11.07.2023

  • Debatte im EU-Parlament Gefährdet das geplante EU-Naturschutzgesetz die Ernährungssicherheit? Die EU will Ökosysteme mit einem Gesetz vor dem Kollaps bewahren – doch vor allem Konservative verwehren ihre Zustimmung. Eine Behauptung: Große Teile landwirtschaftlich bedeutender Flächen gehen verloren. Der Faktencheck. | Der Spiegel, 11.07.2023

  • Wie Weber die EVP auf einen aggressiveren Kurs einschwört. Die größte Fraktion im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), hat in letzter Zeit eine aggressivere Haltung gegenüber wichtigen Gesetzesvorschlägen eingenommen. Dies hat nicht nur für Unruhe unter den Parlamentariern gesorgt, sondern auch das Gleichgewicht der EU-Gesetzgebungsmaschinerie gefährdet. Von Luca Bertuzzi | Euractiv, 21.06.2023

  • Wer bei CDU/CSU Klimaschutz verhindert: Hardliner, Überläufer, Lobbyisten. Wenn Uni­ons­po­li­ti­ke­r:in­nen den Klimaschutz hintertreiben, steckt Geld dahinter – oder Ideologie. Ein paar ausgewählte Beispiele. Von Nick Reimer | taz, 11.06.2023

  • Die Klimasabotage der Union:Verhindern, verzögern, unterlassen. Die CDU ist eng mit der fossilen Industrie verbandelt. 20 Jahre lang blockierten Partei und Lobbyisten gemeinsam die Klimapolitik. Eine taz-Recherche. Von Sabine am Orde, Christian Jakob, Nick Reimer und Benno Schirrmeister. | taz, 11.06.2023

  • EU-Wahlen: Unionslager opfert Umweltschutz für ländliche Wähler. Während in Europa die Zeichen immer stärker auf Wahlkampf stehen, buhlen die Parteien um die Gunst der Landbevölkerung. Für konstruktive Debatten zum Klima- und Umweltschutz in der Landwirtschaft ist das keine gute Nachricht, kommentiert Julia Dahm. Von Julia Dahm | Euractiv, 08.05.2023

Titelbild: Costel Slincu CC BY-NC-SA 2.0 via FlickR

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