Beitrag von Silke Jäger

Die Unsichtbarkeit der nordirischen Grenze sichert den Frieden in der Region

Die Grenze zwischen Nordirland, das zu Großbritannien gehört, und Irland ist 433 km lang, sehr grün und teilweise unübersichtlich. An manchen Stellen durchkreuzt sie Ländereien: Es gibt Gehöfte, die in beiden Ländern liegen. Viele Straßen verlaufen so, dass man mehrmals die Grenze passiert, wenn man von A nach B reist. Das alles ist kein Problem, denn sie ist unsichtbar und frei von Grenzkontrollen für Bürger.

Um diese Grenze wurde 3 Jahrzehnte blutig gekämpft, nicht nur um ihren Verlauf, sondern um ihre bloße Existenz (mehr zum Nordirlandkonflikt hier). Die englisch-stämmige, protestantische Bevölkerungsgruppe in Nordirland fühlt sich Großbritannien zugehörig (Unionisten), die irisch-stämmige, zumeist katholische Bevölkerung, fühlt sich Irland verbunden. Viele katholische Nordiren liebäugeln mit einem Wiederanschluss an Irland (Nationalisten). Seit dem Friedensabkommen aus dem Jahr 1998 dem Good Friday Agreement (GFA, Karfreitagsabkommen) ringen die Anhänger beider Richtungen friedlich miteinander, nach den Regeln, die im GFA festgeschrieben sind. Beide Interessenlagen werden von Parteien vertreten: Die größte Partei der Unionisten ist die DUP, die größte der Nationalisten Sinn Féin. Keine Partei der beiden Lager darf allein regieren, Powersharing heißt der Abschnitt im GFA, der die gemeinsame Regierungsbildung in Stormont, im nordirischen Parlament, festschreibt.

Täglich überqueren circa 40.000 Menschen diese Grenze, fahren zur Arbeit, zur Uni und besuchen Freunde und Verwandte. Circa 177.000 LkWs passieren sie und circa 280.000 Kleintransporter, der Handel floriert, vor allem mit landwirtschaftlichen Rohstoffen und Gütern. Um die 43 Milliarden Pfund jährlich beträgt der Handelswert der Güter, die Nordirland in den Süden verkauft. Das ist mehr als ein Drittel des nordirischen Exportaufkommens. 91.000 irische Unternehmen handeln mit ihrem britischen Nachbarn, auch über diese Landgrenze. Viele Güter, wie zum Beispiel Guiness, werden mehrmals während des Herstellungsprozesses über die Grenze gebracht.

Was das Brexit-Referendum in Frage stellt

Die Grenze spielt derzeit nur auf dem Papier eine Rolle (außer für die Nationalisten), denn beide Länder gehören der EU an, wenn auch nicht dem Schengenraum. Wenn Großbritannien am 30. März 2019 kein EU-Mitglied mehr ist, ändert sich das schlagartig. Dann wird diese Grenze zur EU-Außengrenze.

Wie sehr dies den Briten bewusst war, als sie für einen EU-Austritt Großbritanniens stimmten, lässt sich nicht ermitteln. In den Kampagnen vor dem Referendum kam das Nordirland-Thema so gut wie nicht vor. Das Bewusstsein für die Problematik der Grenze entstand erst hinterher. Verstärkend wirkt dabei, dass die Nordiren mit 56 Prozent gegen den Brexit gestimmt haben. Das heißt, das Grenzproblem müssen diejenigen ausbaden, die in der EU bleiben möchten: die Iren und die mehrheitlich EU-freundlichen Nordiren.

Was passiert an diesem 30. März 2019 ganz genau? Das kann im Moment noch niemand sagen. Alles hängt davon ab, welche Regelungen in den EU-Austrittsverhandlungen dazu vereinbart werden. Sicher ist nur: Scheitern die Verhandlungen und verlässt Großbritannien die EU ohne Vertrag, erlebt Irland einen Rückschlag, der sehr leicht außer Kontrolle geraten kann. Wenn Grenzkontrollen notwendig werden, wenn das Passieren der grünen Grenze illegal wird, wenn Güter aus Nordirland nicht mehr wie bisher in Irland verarbeitet werden können, weil Zölle erhoben werden müssen, wenn die Grenze erlebbar wird als sichtbare Trennlinie, dann ist das GFA in wesentlichen Teilen verletzt.

Deshalb wurde das Grenzthema in die 1. Verhandlungsphase genommen, in der es primär um die Austrittsbedingungen Großbritanniens aus der EU geht. Diese Phase hätte eigentlich diese Woche zum Abschluss kommen sollen, aber die Fortschritte sind so gering, dass dies wohl erst beim nächsten Treffen der EU-Mitgliedsstaaten im Dezember möglich sein wird. So lange es keine Scheidungsvereinbarungen gibt, so lange wird es auch keine Gespräche über die zukünftigen Handelsbeziehungen geben. Das hatte die EU von Anfang an klargestellt. Und Großbritannien hatte diesem Fahrplan im Juni zugestimmt. Nun hat man allerdings den Eindruck, dass die Briten ihre Meinung geändert haben. Und das zeigt sich nicht nur bei der Scheidungsrechnung, über deren Höhe gestritten wird, sondern auch beim Thema Nordirland.

Wie sieht die Lösung aus?

Das Argument der Briten ist durchaus nachvollziehbar: Sie haben den Iren und Nordiren zugesagt, dass weder das GFA gefährdet, noch die Charakteristik der Grenze verändert wird. Die Grenze soll also weiterhin unsichtbar bleiben – auch wenn sie eine EU-Außengrenze ist. Wenn aber nicht ausgehandelt ist, wie die zukünftigen Beziehungen mit der EU aussehen, können auch schwerlich Charakteristika der Grenze definiert werden, so die britischen Unterhändler.

Doch wenn man an diesem Punkt argumentiert, ist man schon einige Schritte zu weit. Denn die entscheidende Frage ist vielmehr: Kann die momentane Charakteristik der Grenze überhaupt erhalten bleiben, wenn sie zur EU-Außengrenze wird?

Das ist schwer vorstellbar. Dazu müsste Nordirland als Region einen Sonderstatus in der EU bekommen. Nur in dieser Region Großbritanniens griffen dann Regularien, die weitgehend denen der EU-Mitgliedsstaaten glichen. Denkbar wäre, und darüber wird gerade geredet, dass Güter von Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten, von Grenzkontrollen befreit wären, dass Lebensmittelkontrollen nicht an der Grenze, sondern direkt beim Erzeuger durchgeführt würden, dass einzelne große Unternehmen einen Status bekommen, der sie als besonders vertrauenswürdig ausweist, sodass die Einrichtung von Grenzkontrollen im großen Stil nicht nötig wäre.

Eine andere Idee ist, dass die EU-Außengrenze auf See verlegt wird, sodass nur Kontrollen in Häfen und Flughafen durchgeführt werden müssten. Dieser Vorschlag wurde aber bereits vom irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar zurückgewiesen.

Problematisch bleibt der Punkt, dass die grüne Grenze zukünftig eine Hintertür für Schmuggel und illegale Einwanderung nach Großbritannien werden könnte. Dieses Problem ist ohne flächendeckende Grenzkontrollen an der nordirischen Landgrenze und bei der Einreise nach Irland oder Nordirland nicht in den Griff zu bekommen. Die britische Regierung hatte dafür eine technische Lösung vorgesehen: Man möchte mithilfe von Überwachungstechnik Transparenz schaffen. Dieser Vorschlag wurde ebenfalls vom irischen Ministerpräsidenten zurückgewiesen.

Überhaupt spielt die Zustimmung Irlands eine entscheidende Rolle. Nicht nur in der Grenzfrage, sondern für den gesamten Brexit-Vertrag. Vielleicht wird es am Ende von Irland abhängen, ob ein Vertrag überhaupt zustande kommt. Irland hat ein großes Interesse an guten Beziehungen zu seinem Nachbarn Großbritannien. Aber Leo Varadkar hat zuletzt deutlich gemacht, dass er, vor die Wahl gestellt, der EU den Vorzug gäbe.

Zu hören war, dass der politische Wille zu einer Lösung auf allen Seiten vorhanden ist und dass der Optimismus, eine wie auch immer geartete Lösung zu finden, groß ist. Woraus sich dieser Optimismus im Einzelnen speist, bleibt zurzeit jedoch unklar. Die politisch unsichere Lage in Nordirland, das seit Januar ohne Regierung dasteht (nach 2 Wahlen), birgt schon genügend Brennstoff in sich. An der Frage, ob Irland nach dem Brexit eine geografische Einheit bildet, aus der sich in der Zukunft die Wiederangliederung Nordirlands ergeben könnte, wird dabei vorsorglich vermieden. Der ehemalige Ministerpräsident Irlands Enda Kenny hat erreicht, dass die verbleibenden EU27 ein Dekret unterschreiben, wonach Nordirland der automatische Beitritt zur EU zugesichert wird, falls es den Weg zur Wiederangliederung an Irland einschlägt, das heißt, falls es sich in einem Referendum für die Abspaltung von Großbritannien ausspräche (Kenny Text).

Denkbar ist, dass das Brexit-Votum ein Katalysator für den Anschluss Nordirlands an Irland ist. Allerdings einer, der enorme Risiken für den Frieden darstellt. Denn es ist keineswegs sicher, dass sich die ehemaligen Kontrahenten in Nordirland gegenseitig ausreichend vertrauen bzw. sich auf eine Wiederangliederung verständigen könnten. Im Moment können sie sich nicht einmal auf das im GFA festgeschriebene Powersharing einigen.

Quellen

Titelfoto: On the road, Matteo Pieroni CC BY-NC-ND 2.0

Silke Jäger

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Silke Jäger

Silke Jäger ist freie Journalistin und spezialisiert auf medizinische Themen und Gesundheitspolitik. Für Politik interessiert sie sich immer schon. Seitdem sie in London lebt, ist fasziniert davon, wie sehr das Thema Nordirland die europäischen Fragen beeinflusst. Zu ihrer Webseite geht es hier.

Siehe auch den Beitrag der Autorin auf Europa.blog: Nordirland und der Brexit – Großbritanniens Suche nach einem Weg

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