Von Frederik D. Tunnat

Immer dann, wenn die Wirtschaft kränkelt und die Schwächsten dieser Gesellschaft im Elend versinken, erklingt der immer gleiche Ruf: den Sozialstaat zu zerschlagen. Verhüllt in hohle Phrasen wie „Konsolidierung“, „politische Kurskorrektur“ oder „grundlegende Reform“ soll das sozialstaatliche Rückgrat gebrochen werden. Doch diese Worte sind nichts als Täuschung – ein perfides Manöver der Mächtigen, um ihre eigene Verantwortung zu leugnen und die Ärmsten zum Prügelknaben ihres politischen Versagens zu stempeln, ihnen die Gefährdung des nationalen Wohlstands zu unterstellen.

Mit kalter Konsequenz inszenieren Rechtsextreme, Konservative, Neoliberale und ihre Medien, inzwischen gar die aktuelle Bundesregierung, seit Monaten eine gnadenlose Kampagne gegen den Sozialstaat. Sommerinterviews dienen als Plattform für Bürgergeld-Bashing – da wird ordentlich Stimmung gemacht. Zwar verbesserte die Ampel mit ihren Reformen von Hartz IV das Leben von Transferleistungsempfängern etwas, doch nun fordert Alice Weidel von der AfD – zynisch und menschenverachtend – die Streichung des Bürgergelds für Ausländer und Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Ihre Begründung? Sie hätten ja nie eingezahlt in ein System, das nicht nur aus Versicherungen, sondern auch aus menschlicher Würde besteht. Die Würde jedes Menschen – nicht nur der Deutschen! Weidels Verachtung für unser Grundgesetz ist ein weiterer Beleg für den demokratie- und rechtsstaatlichen Verfall, den die AfD repräsentiert.

Ähnlich herzlos fordert Markus Söder, ukrainischen Kriegsflüchtlingen Bürgergeld zu verweigern – ein Vorgang, der den Gleichheitsgrundsatz mit Füßen tritt. Warum sollen Ukrainer privilegiert und andere Geflüchtete diskriminiert werden? Dieses doppelte Maß widerspricht nicht nur der Gerechtigkeit des Grundgesetzes, sondern zerreißt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Bundeskanzler Merz mischt kräftig in der Debatte mit – und bringt eine „Deckelung der Mietkosten“ ins Spiel, die, ohne dass er dies weiß, bereits existiert. Deshalb mussten über 300.000 Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr teils schmerzhafte Summen ihres Regelsatzes für Mieten aufbringen, statt in ihre Ernährung investieren zu können. Statt die wahre Ursache anzugehen – explodierende Mieten –, macht Merz die Schwächsten zum Sündenbock – eine bequeme wie durchschaubare Ablenkung vom eigenen Versagen.

Ein weiterer blinder Fleck der Sozialneid-Debatte ist die ausgesparte Rolle der Beamten. Während Transferleistungsempfänger immer wieder als Belastung dargestellt werden, bleiben Beamte von jeglicher sozialen Zumutung verschont. Sie erhalten vielfach höhere Bezüge als Armutsrentner, gehen deutlich früher in Rente, als Armutsrentner, und genießen eine umfassende Arbeitsplatzgarantie. Diese haarsträubende Ungleichheit wird systematisch ausgeblendet, obwohl sie wesentlich die soziale Gerechtigkeit im Land berührt.

Hinter der Debatte des Sozialschmarotzertums steht eine neoliberale Verblendung, die soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg als angebliche Gegensätze betrachtet. Dabei ist das Gegenteil wahr: Nur wer frei von existenzieller Angst arbeitet und lebt, kann sein volles Potenzial entfalten. Die goldene Ära des Sozialstaats in den 60er und 70er Jahren war kein missglücktes soziales Experiment, sondern das Ergebnis eine starken sozialen Marktwirtschaft – ein Fakt, den heutige soziale Abbau-Ideologen bewusst und gern verdrängen.

Unser gegenwärtiges Steuersystem wird kaum kritisch betrachtet. Noch bis in die 1970er Jahre war es deutlich sozialer und gerechter gestaltet, als Vermögende und große Unternehmen mit höheren Beiträgen als heute zur Finanzierung der Steuern und des Sozialstaats beitrugen. Seither haben zahlreiche „Reformen“ diese Solidarität – als Grundlage einer sozialen Marktwirtschaft ausgehöhlt, was zur aktuellen Finanzierungsschieflage der staatlichen Haushalte beiträgt. Ohne eine Rückkehr zu dieser solidarischen Steuerpolitik, zu einer gerechteren Lastenverteilung, wird der Sozialstaat  nicht zu finanzieren sein.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, wenn selbst Bundespräsident Steinmeier Fakten und Fiktionen verwechselt, indem er behauptet, die aktuellen Kosten des Bürgergelds ließen den Staatshaushalt explodieren. Tatsächlich sind die Ausgaben, im Vergleich zum Staatshaushalt und BIP, geringer als selbst zu Hartz IV Zeiten. Gleichzeitig erleben wir eine Neuauflage alter Grundsicherungsideen unter dem Label der Union als „Neue Grundsicherung“.

Die einzig existentielle Frage, die sich wirklich stellt, ist: Wie gestalten wir eine Politik, die sowohl eine starke Verteidigung als einen zukunftsfähigen Sozialstaat gewährleistet?

Was wir uns absolut nicht leisten können, ist die vermeintliche Wahl zwischen Sozialstaat oder Militär. Denn ohne ein leistungsfähiges militärisches Fundament kann Deutschland langfristig weder seine Demokratie aufrecht erhalten, noch seine staatliche Unabhängigkeit gewährleisten – denn ohne angepasste militärische Grundlage wäre unser Sozialstaat ohnehin obsolet.

Gerade in den 60er und 70er Jahren standen ein stattliches Militär und ein angemessener Sozialstaat in harmonischem Einklang. Die aktuelle Behauptung, beides schließe sich aus, erweist sich angesichts der historischen Faktenlage als faustdicke Lüge.

Vor diesem Hintergrund gilt es, statt den Sozialstaat immer stärker zu beschneiden, eine kluge, solidarische und nachhaltige Politik zu entwickeln, die beide wesentliche Pfeiler unserer Gesellschaft stärkt: unsere Verteidigungsfähigkeit wie unseren Sozialstaat.

Dazu gehört in erster Linie eine Finanzierung, die alle Bürger und Institutionen nach ihren Möglichkeiten in die Verantwortung nimmt: Beamte, Vermögende und Unternehmen ebenso, wie die breite Bevölkerung und Sozialtransfer-Empfänger.

Unser Land bleibt nur dann zukunftsfähig, wenn es Halt und Chancen für alle bietet – gerade in einer Zeit und Welt, in der Sicherheit und soziale Gerechtigkeit untrennbar verbunden sind; vergleichbar wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.

Zu ignorieren, dass wir uns längst erneut in einem sich spürbar erhitzendem Kalten Krieg befinden, kann angesichts des von Russland ausgehenden aggressiven Kriegs gegen die Ukraine wie Russlands sich täglich steigerndem, bereits stattfindenden hybriden Krieg gegen Deutschland, die EU und Nato kein klar denkender Mensch länger leugnen – viel weniger unsere in politischer Verantwortung befindlichen Politiker.

Wer angesichts der zunehmend dramatischen Situation völlig einseitig und unausgegoren auf sozialen Kahlschlag setzt, wie Kanzler Merz, und eine in den letzten Zügen liegende SPD, statt alle Teile der Gesellschaft, also auch Beamte, Unternehmen wie die Vermögenden wegen des Ernstes der Lage in sozial gerechten Anspruch zu nehmen, d.h. über angepasste, erhöhte Steuern und solidarische Beiträge (Kürzung von Pensionen, sofern Beamte wie bisher deutlich zu früh in Ruhestand gehen, etc.) – den Abbau ungerechtfertigter jahrzehntelanger Privilegien – der forciert die gesellschaftliche Spaltung und öffnet Radikalen von rechts wie links den Durchmarsch an die Schalthebel der Macht.

Deutschland braucht keine Neuinterpretation des Oberscholzers Olaf, noch eine Neuauflage von Merkel oder gar Kohl, und schon gar keine Reaktivierung von Schröder-Fischer mit einer Erweiterung des Hartz’schen Kahlschlags.

Wer noch immer nicht als verantwortlicher Politiker den Zusammenhang zwischen dem durch Hartz verursachtem sozialem Kahlschlag und dem Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, u.a. in Form des Anschwellens der AfD, erkennt und in der Lage ist, daraus die einzig logischen Schlüsse zu ziehen, der sollte seinem Land den einzig akzeptablen Dienst erweisen: zurückzutreten, und ernsthafte Menschen mit ausbalanciertem sozialen Gewissen und der nötigen Sachkompetenz ans Ruder lassen.

Titelbild:  Ben Sutherland CC BY 2.0 DEED via FlickR

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