Nach dem Europa-League-Spiel zwischen Ajax Amsterdam und Maccabi Tel Aviv am 7. November 2024 wurden die Straßen von Amsterdam nicht nur zum Schauplatz von Gewalt sondern auch zum Schauplatz politisch brisanter Reaktionen. Was mit Provokationen israelischer Fans begann, eskalierte zu nächtlichen Ausschreitungen, die weltweit einen Nährboden für Antisemitismus und Polarisierung erzeugten, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer.

Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 1. Dezember 2024

Am Donnerstagabend, den 7. November, fand in der Johan Cruijff Arena in Amsterdam ein Fußballspiel der Europa League zwischen Ajax und Maccabi Tel Aviv statt. Das Spiel endete mit 5:0. Dieses überwältigende und eindeutige Ergebnis stand in krassem Gegensatz zu der Unübersichtlichkeit der Unruhen, die in der Stadt vor und nach dem Spiel stattfanden und die in die weltweiten Schlagzeilen gelangten, und zu den doppelbödigen Reaktionen darauf.

Angefangen hat es mit Provokationen von Seiten israelischer Fans. „Wir wollen die Araber ficken“, skandierten sie. „In Gaza gibt es keine Schulen mehr“, sangen sie fröhlich, “weil es in Gaza keine Kinder mehr gibt.“ Sie rissen palästinensische Flaggen von den Fassaden Amsterdamer Wohnhäuser. Sie verbrannten eine palästinensische Flagge auf dem Dam-Platz. Sie liefen mit Eisenstangen umher, und es gab auch den einen oder anderen Hieb. In der Nacht nach dem Fußballspiel wurden diese Provokationen von Amsterdamer Muslimen erwidert, die auf den Straßen der Stadt Jagd auf israelische Anhänger machten und sie verprügelten. Fünf Israelis mussten sich im Krankenhaus behandeln lassen. Alle fünf konnten jedoch am nächsten Morgen wieder nach Hause gehen.

Es gab Zeiten, in denen ein falscher Schal genügte, um von einer Horde rivalisierender Fußballfans zusammengeschlagen zu werden. Dass die Schlägerei in Amsterdam nach dem Spiel zwischen Ajax und Maccabi Tel Aviv nicht nur von der Abneigung gegen die falschen Vereinsfarben, sondern auch von der Solidarität mit einem unterdrückten Volk, das systematisch massakriert wird, inspiriert war, könnte allerdings auch als Fortschritt betrachtet werden.

Doch die Reaktion auf diese Ereignisse war zunächst alles andere als nachvollziehbar und beruhigend. Es war schon erstaunlich, dass Politiker und Presse die nächtlichen Ausschreitungen zunächst einhellig pro-israelisch interpretierten. Die israelischen Anhänger wurden als Opfer abscheulicher Gewalt dargestellt, die der Stadt Amsterdam unwürdig war. Es herrschte Konsens darüber, dass wir Zeugen eines unerträglichen Ausbruchs von Antisemitismus geworden waren. Es war die Rede von einer „Judenjagd“ und einem „Pogrom“. Auch das Datum war nicht gerade günstig. Die Nacht vom 7. auf den 8. November fiel auf den Vorabend des Gedenkens an die Reichspogromnacht, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stattfand.

Der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungspartei, Geert Wilders von der PVV [Partij voor de Vrijheid = Partei für die Freiheit, Anm.d.Ü.], schlug als Reaktion auf die Unruhen vor, den Tätern die Pässe zu entziehen. „Warum schickt man diesen Abschaum nicht aus dem Land?“, schrieb er auf X. “Wo sind die Vorschläge, um kriminelle Muslime ausbürgern zu können?“ Der israelische Ministerpräsident Netanjahu kündigte an, er wolle Flugzeuge nach Schiphol schicken, um seine Landsleute zu evakuieren, als ob die Niederlande ein Kriegsgebiet wären. Premierminister Schoof sagte seine Zusammenarbeit bei dieser Rettungsaktion zu und warf den niederländischen Ordnungskräften vor, dass er die sichere Rückkehr der Anhänger ohne israelische Hilfe nicht garantieren könne. Die Flugzeuge kamen am Ende natürlich nicht, denn Netanjahus Geste war nur eine Show. In der Zwischenzeit hatten die Staats- und Regierungschefs der Welt bereits ihre Besorgnis geäußert. Bundeskanzler Scholz und sogar Präsident Biden hatten ihre Abscheu über die Unruhen in Amsterdam zum Ausdruck gebracht, die im Einklang mit dem israelischen Framing als antisemitisches Pogrom bezeichnet wurden.

Auch die unabhängige niederländische Qualitätspresse schloss sich dieser Interpretation zunächst an. Es dauerte mehrere Tage, bis widerwillig die ersten Berichte über das Fehlverhalten und die Provokationen der israelischen Fans auftauchten. Peinlich für den professionellen niederländischen Journalismus war, dass die Wahrheit erst durch einen unerschrockenen 16-jährigen YouTuber, Benjamin Buit vom Kanal Bender, ans Licht gebracht wurde, der gefilmt hatte, wie sich Anhänger von Maccabi Tel Aviv mit Stöcken bewaffneten und Menschen angriffen.

Arjen Fortuin, der Ombudsmann der niederländischen Zeitung NRC, äußerte sich am 15. November kritisch über die Art und Weise, wie seine Zeitung über die Ausschreitungen berichtet hatte. „Die Krawalle in Amsterdam waren nicht nur eine Reihe von erschreckenden Gewaltausbrüchen auf den Straßen, sondern auch ein extremes Beispiel für die neue politische Ordnung“, schrieb er. „Die Meinungen (oder Interpretationen oder Manipulationen) der Politiker hatten in massiver Form Eingang in die Medien gefunden.“ Seine Schlussfolgerung lautete wie folgt: „Die Frage nach den Aktivitäten der Maccabi-Fans blieb zu lange unbeachtet. Dabei, so die Redaktion, habe auch die Befürchtung eine Rolle gespielt, dass ein stärkeres Eingehen auf diese Perspektive als Verharmlosung der Gewalt von Jugendlichen auf Scootern verstanden werden könnte. Diese Befürchtung ist in einer polarisierten Gesellschaft nachvollziehbar, allerdings ist es auch eine Befürchtung, gegen die sich der Journalismus mit aller Kraft wehren muss“.

Ich zitiere diese Worte, weil ich denke, dass hier ein beispielloses Novum zum Ausdruck kommt. Diese Qualitätszeitung gibt zu, dass die gesellschaftliche Polarisierung zur Angst vor der Wahrheit geführt hat, dass diese Polarisierung von der Politik geschürt wurde und dass die Berichterstattung, die zunächst einseitig und falsch war, unter dem Druck der neuen politischen Ordnung erfolgte.

Genau das ist das Besorgnis erregende: dass die einseitige, pro-israelische Interpretation der Unruhen in Amsterdam die offizielle Position der niederländischen Regierung war und dass sie bis heute an dieser Position festhält, ungeachtet der Fakten, die inzwischen ans Licht gekommen sind. Die Minister der Regierung haben auf die Ereignisse in Amsterdam mit polarisierenden Erklärungen reagiert. Ministerpräsident Schoof sagte, die Gewalt in der Hauptstadt sei die Schuld „einer bestimmten Gruppe junger Menschen mit Migrationshintergrund“, woraus er den Schluss zog, dass „die Niederlande ein Integrationsproblem haben“. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Mona Keijzer hatte zuvor erklärt, dass „Antisemitismus tief in der DNA der Muslime steckt“. Der Staatssekretär der PVV, Chris Jansen, hatte zuvor erklärt, er stimme der bekannten Forderung nach „weniger Marokkanern“, für die sein Parteivorsitzender vor dem Obersten Gerichtshof wegen Diskriminierung verurteilt worden war, voll und ganz zu. Die Parteivorsitzende der VVD [Volkspartij voor Vrijheid en Democratie = Volkspartei für Freiheit und Demokratie, Anm.d.Ü.], Dilan Yeşilgöz-Zegerius, schrieb einen langen Artikel, in dem sie zu dem Schluss kam, dass „die gescheiterte Integration die Ursache für alles ist, was vor sich geht“. Jürgen Nobel, Staatssekretär für Partizipation und Integration von der VVD, kam zu dem Schluss, dass „die Niederlande ein Integrationsproblem haben, weil ein großer Teil der islamischen Jugendlichen sich nicht an die niederländischen Normen und Werte hält.“

Für Nora Achahbar, Staatssekretärin von der NSC [Nieuw Sociaal Contract = Neuer Gesellschaftsvertrag, Anm.d.Ü.] und einziges Kabinettsmitglied marokkanischer Herkunft, war dies ein Grund zum Rücktritt. „Der Ton und der Inhalt der Debatte, wie sie auch schon in der vergangenen Woche geführt wurde, steht im Widerspruch zu meinen persönlichen Werten und meiner Integrität“, erklärte sie. Zwei Abgeordnete aus ihrer Partei folgten ihrem Beispiel. Ministerpräsident Schoof sah sich gezwungen, auf einer Pressekonferenz gleich 15 Mal zu erklären, dass „von Rassismus in seiner Regierung keine Rede war und ist“, sagte aber gleichzeitig zu, die Möglichkeiten zu prüfen, antisemitischen Muslimen die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Hans Boutellier, Professor für Polarisierung und Resilienz an der Freien Universität Amsterdam, bezeichnet dies als „feindgesteuerte Politik“, bei der eine bestimmte Gruppe als Feind betrachtet und in die politische Debatte einbezogen wird. Das ist nicht neu, denn eine politische Partei wie die PVV erzielt damit seit Jahren Wahlerfolge, aber neu ist, zumindest für die Niederlande, dass sich die nationale Regierung daran beteiligt. „Die Polarisierung geht nicht nur von Gruppen untereinander aus“, sagt Boutellier, „sondern die öffentliche Verwaltung selbst ist daran beteiligt. Mit anderen Worten: Die Polarisierung ist nicht mehr horizontal, sondern vertikal: Die öffentliche Verwaltung wendet sich gegen Gruppen von Bürgern.“

Obwohl die primäre Aufgabe der nationalen Regierung darin besteht, Sicherheit zu gewährleisten, indem sie den sozialen Zusammenhalt stärkt, entscheidet sich die derzeitige niederländische Regierung bewusst dafür, Antagonismen weiter zu schüren, anstatt sich auf Deeskalation zu konzentrieren, und legitimiert damit feindliches Denken in der Gesellschaft. „Die Politiker unterschätzen ihren Einfluss“, sagt Sarah de Lange, Professorin für politischen Pluralismus an der Universität Amsterdam. „Sie sagen, dass sie ausdrücken, was die Bürger fühlen, aber es funktioniert oft umgekehrt: Sie haben eine führende, Agenda-setzende Rolle bei der Gestaltung der öffentlichen Meinung.“

Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben weder die Zeit, sich eine unabhängige politische Meinung zu bilden, noch verfügen sie über das Wissen und das Interesse, eine unabhängige Analyse der Lage des Landes und aller möglichen Maßnahmen für das Gemeinwohl vorzunehmen. Sie haben unausgesprochene Präferenzen und Abneigungen, die von einem geschickten Politiker für seine eigenen Interessen mobilisiert werden können. Genau das ist das Spiel, das Populisten spielen: Sie sagen, dass sie den Willen des Volkes artikulieren, während sie das Volk dazu bringen, das zu wollen, was sie selbst wollen.

Italien ist das Land der politischen Avantgarde. Wer sich ein Bild von der politischen Zukunft machen will, die uns erwartet, sollte nach Italien schauen. Ich kann es auch als Rätsel formulieren: Was passiert, wenn die extreme Rechte, wie in Italien, mehrere Jahre lang eine stabile Regierung führt und völlig zum Mainstream geworden ist? Wenn sich das Overton-Fenster so weit nach rechts verschoben hat, dass der Neofaschismus in der Mitte des als akzeptabel erachteten Meinungsspektrums liegt, erhebt sich ein Politiker und positioniert sich rechts von der extremen Rechten. Sein Name ist Roberto Vannacci. Er ist ein suspendierter General der italienischen Armee und ein Europaabgeordneter, der von den Extremisten der europäischen Fraktion Patrioten für Europa als zu extrem angesehen wurde. Sein Pamphlet „Die Welt auf den Kopf gestellt“ wurde ein Bestseller, und diese Woche stellte er im Hotel Leopoldo II di Lorena in Marina di Grosseto seine eigene politische Bewegung vor, die ihren Namen vom Titel seines Buches ableitet. Er hält die italienische Verfassung für überholt und bietet sich an, das Land wie ein Diktator zu regieren, bis eine neue Verfassung verabschiedet wird. Ich habe den beängstigenden Verdacht, dass wir seinen Namen in naher Zukunft noch oft hören werden, und wenn das nicht der Fall sein sollte, werden wir sicher gezwungen sein, über den Namen eines anderen zu sprechen, der den Menschen den Glauben vermittelt, dass es immer noch schlimmer werden kann.

Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 30. November 2024 unter dem Titel „Dit is wat er gebeurt als extreemrechts in je landsregering de lakens uitdeelt“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute

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Titelbild: Daniel CC BY 2.0 DEED via FlickR

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