Die iranische atomare Bedrohung, die Benjamin Netanjahu und Donald Trump als Vorwand für ihre Bombardierungen anführen? Dafür gibt es keinerlei Beweise, schreibt Ilja Leonard Pfeijffer. Dass das Land seit einigen Jahren wieder Uran anreichert, ist übrigens den politischen Machtspielen eben dieses Duos zu verdanken. Und Europa? Das hat nun seinen letzten Rest an moralischer Autorität verloren.
Essay von Ilja Leonard Pfeijffer | 29. Juni 2025
Der entscheidende Moment ereignete sich am Freitag, dem 13. Juni dieses Jahres. In den frühen Morgenstunden dieses Tages gab der israelische Ministerpräsident Benjamin „Bibi” Netanjahu den Befehl, verschiedene Ziele in Iran zu bombardieren. In dem Wissen, dass die Regierung von Donald Trump den israelischen Angriff nicht missbilligen würde, sondern sogar begrüßte – wie sich neun Tage später herausstellte, als amerikanische B-2-Bomber zur Unterstützung der israelischen Offensive GBU-57A/B MOP-Bomben auf Ziele in Iran abwarfen –, hätte sich Europa als einziger verbliebener potenzieller Hüter der internationalen Rechtsordnung in aller Deutlichkeit von dieser verbrecherischen israelischen Kriegshandlung distanzieren müssen.
Weil die notwendige europäische Verurteilung Israels ausblieb, weil der Morgen, der Mittag und der Abend vom Freitag, den 13. Juni, wie auch alle folgenden Tage ohne kritische Reaktion Europas verstrichen und weil Regierungschefs einiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Präsidentin der Europäischen Kommission sogar Verständnis und Begeisterung bekundeten, ist das Ergebnis dieses entscheidenden Moments, dass Europa keinen Anspruch mehr auf irgendeine Form von moralischer Autorität erheben kann, die einzige Form von Autorität, auf die sich Europa noch mit etwas gutem Willen hätte berufen können, und dass die internationale Rechtsordnung endgültig der Vergangenheit angehört.
Das Experiment, auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs eine Weltordnung zu errichten, die auf Recht statt auf dem Recht des Stärkeren gründet, hat achtzig Jahre lang Hoffnung gegeben, aber nun ist es endgültig gescheitert. Die Gesetze des Dschungels haben gesiegt. [vgl. die Kolume von I. L. Pfeijffer vom 2. Juni 2025 „Die Welt kehrt zu den Gesetzen des Dschungels zurück“; A.d.Ü.]
Ein lebenslanger Traum
Diese unüberbietbare europäische Nachlässigkeit krönt eine schon viel zu lang andauernde Periode einer an Beihilfe grenzenden Untätigkeit in Bezug auf den Völkermord Israels an den Palästinensern.
Doch gerade in dem Moment, als die europäischen Staats- und Regierungschefs unter dem wachsenden Druck der öffentlichen Meinung zu spät und zu zögerlich begannen, sich ihrer Pflicht bewusst zu werden, sich für die Palästinenser einzusetzen, und gerade in dem Moment, als die Schlussfolgerungen der Untersuchung von Kaja Kallas, der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, durchgesickerten, in denen festgestellt wird, dass Israel gegen die Menschenrechtsbestimmungen des mit der Europäischen Union abgeschlossenen Assoziierungsabkommens verstößt, wurde diese erneute Unfähigkeit, sich für internationales Recht und Gerechtigkeit auszusprechen, zum endgültigen Todesstoß für die Glaubwürdigkeit Europas.
Am 24. Februar 2022 griff Russland einen souveränen Nachbarstaat an, und Europa zeigte sich einig in seiner zu Recht und in aller Deutlichkeit vorgenommenen Missbilligung dieses Aktes der Aggression. Dass eine vergleichbare Reaktion ausblieb, als Israel am 13. Juni 2025 begann, einen souveränen Staat zu bombardieren, reduziert die europäische Solidarität mit der Ukraine in den Augen der Welt rückblickend zu einer peinlichen Zurschaustellung selektiver Empörung.
Die Rechtfertigung, die Israel für seinen Angriff auf den Iran anführte, war, dass dieses Land kurz davor gestanden habe, eine Atombombe zu entwickeln. Dafür fehlt jeglicher Beweis. Die internationale Atomenergiebehörde IAEA betrachtet den Iran als Schwellenland mit Kapazitäten zur Urananreicherung, aber ohne nachgewiesene Absicht, Atomwaffen zu entwickeln. Der amerikanische Geheimdienst teilt diese Einschätzung.
Das Experiment nach dem Zweiten Weltkrieg hat achtzig Jahre Hoffnung gebracht, aber nun ist es endgültig gescheitert. Die Gesetze des Dschungels haben gesiegt
Dass diese sogenannte Bedrohung nichts weiter als eine zwangsläufige Ausrede ist, zeigt sich daran, dass Netanjahu dieselbe Ausrede schon viele Male zuvor vorgetragen hat. Bereits 1992 warnte er, dass der Iran „innerhalb von drei bis fünf Jahren” über Atomwaffen verfügen würde. Im Jahr 1995 war dieser Zeitraum noch genauso lang. 2007 und 2008 bezeichnete er die iranischen Atomambitionen als größte Bedrohung für den Weltfrieden.
In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 28. September 2012 sagte er, dass der Iran „nur noch wenige Monate, vielleicht sogar auch nur noch wenige Wochen” von seiner ersten Atombombe entfernt sei. Als er am 3. März 2015 vor dem US-Kongress sprach, war der Iran erneut oder immer noch „nur wenige Wochen” von der Entwicklung einer Atomwaffe entfernt.
Am 14. Juli 2015 wurde das Atomabkommen (JCPOA) mit dem Iran unterzeichnet, das das Atomprogramm des Landes Beschränkungen und Kontrollen unterwarf und den Inspektoren der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) Zugang zu den Nuklearanlagen gewährte. Obwohl der Iran das Abkommen im Großen und Ganzen einhielt, wurde es im Mai 2018 von Trump gekündigt. Dies geschah auf Drängen Netanjahus, der lieber wollte, dass der Iran sein Atomprogramm unkontrolliert fortsetzte, als dass er sich der Gründe beraubt sah, das Land als Erzfeind Israels und der Welt zu dämonisieren.
Dass die unterstellte akute nukleare Bedrohung nicht der wahre Grund für Netanjahus Entscheidung ist, das Land anzugreifen, zeigt sich auch daran, dass er diesen Entschluss bereits getroffen hatte, lange bevor die Gefahr so groß sein konnte, wie er jetzt behauptet. Die Washington Post enthüllte auf der Grundlage von Informationen, die die Zeitung von israelischen und amerikanischen Beamten erhalten hatte, dass er den Entschluss zum Angriff bereits 2024 gefasst hatte und seitdem daran arbeitete, amerikanische Unterstützung für diesen Plan zu bekommen. Bereits im vergangenen Jahr war es seine Absicht, den für Anfang dieses Sommers angekündigten Bericht der IAEO als Vorwand für die Bombardierungen zu nutzen.
Seine Feindseligkeit gegenüber der islamischen Republik und sein jüngster Entschluss, seinen lang gehegten Traum zu verwirklichen und dem Land tatsächlich den Krieg zu erklären, sind durch persönlich-politische Vorteile motiviert. Seit zwanzig Jahren ist die vermeintliche iranische Bedrohung seine politische Trumpfkarte. Als Premierminister in Kriegszeiten ist er so gut wie unantastbar und vor Strafverfolgung in den gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren geschützt. Indem er den Iran als globale Bedrohung darstellt und angreift, hofft er, die Aufmerksamkeit der Welt von dem Völkermord in den palästinensischen Gebieten abzulenken.
Die Rolle, die Donald Trump sich selbst im Krieg Israels gegen den Iran zugeschrieben hat, lässt sich am treffendsten aus der Perspektive seiner kindischen Eitelkeit deuten
Es gibt jedoch ein Land im Nahen Osten, das im Gegensatz zum Iran ein Atomwaffenarsenal im Verborgenen aufgebaut hat, sich – anders als der Iran – jeder Form internationaler Inspektion und Kontrolle entzieht und den Nichtverbreitungsvertrag nicht einmal unterzeichnet hat. Dieses Land ist Israel. Das Regime eines Apartheidstaates, der sich des Völkermords schuldig gemacht hat und über Atomwaffen verfügt, die entgegen internationalen Vereinbarungen entwickelt wurden, greift, um von diesem Völkermord abzulenken, ein souveränes Land mit der Ausrede an, dass es entgegen internationalen Vereinbarungen Atomwaffen entwickeln würde, wofür es keine Beweise gibt.
Das ist die Situation. Das ist das Verbrechen, das Europa ablehnt zu verurteilen. Dass die iranischen Führer auch keine netten Jungs sind und dass das iranische Volk von einer theokratischen Diktatur unterdrückt wird, ist äußerst bedauerlich, aber in diesem Zusammenhang irrelevant. Was Europa hätte schützen müssen, ist nicht das iranische Regime, sondern die internationale Rechtsordnung.
Die Rolle, die Donald Trump sich selbst im Krieg Israels gegen den Iran zugedacht hat, kann am treffendsten aus der Perspektive seiner kindischen Eitelkeit gedeutet werden. Er ist grundsätzlich gegen Krieg, nicht weil er ein guter und friedlicher Mensch ist, sondern weil seine Anhänger und die Ideologen seiner Bewegung, die die Größe Amerikas propagieren, einen weitreichenden Isolationismus befürworten und vor allem, weil er seinen Blick auf den Friedensnobelpreis geworfen hat, den er unbedingt haben will, weil Barack Obama ihn auch bekommen hat.
Als er jedoch sah, dass die israelische Offensive als erfolgreich beurteilt wurde und Netanjahu sich selbst die Verdienste für die Neutralisierung eines Schurkenstaates zuschreiben wollte, ließ er schnell seine Stealth-Bomber ihren Beitrag beisteuern, um anschließend triumphierend zu erklären, dass keine Armee der Welt in der Lage sei, das zu tun, was Amerika gerade getan hatte.
Um sich seinen Nobelpreis zu sichern, verkündete er unmittelbar danach einen Waffenstillstand und begann, Nachrichten über den Nobelpreis in seinen sozialen Medien zu teilen. Die Tatsache, dass weder Israel noch der Iran seinen Waffenstillstand zunächst respektierten, löste bei ihm eine wütende Reaktion aus, mit der Folge, dass er als erster US-Präsident in der Geschichte das Wort „fuck” in der Öffentlichkeit aussprach.
Tabu
Die Ohnmacht Europas resultiert wie immer aus Uneinigkeit. Es gibt Mitgliedstaaten der Union wie Spanien und Irland, die den Mut aufbringen, Israel kritisch gegenüberzutreten, aber die notwendige entschlossene gemeinsame Haltung wird nicht nur von Ländern mit rechtsextremen Regierungen wie Ungarn, Italien und den Niederlanden, sondern vor allem auch von Deutschland vereitelt.
Aufgrund der historischen Schuld Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk wurde die Existenz Israels zur Staatsräson der Nachkriegsbundesrepublik erhoben. Jede Form von Kritik an Israel ist bis heute tabu. Es ist nicht mal denkbar, darüber zu diskutieren, dass es nicht antisemitisch ist, Kritik am verbrecherischen Regime Israels zu üben, noch darüber, dass ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Israels diese Kritik teilt.
Während Spanien darauf drängte, Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Untersuchung von Kallas zu ziehen, erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz entschieden, dass es für ihn ausgeschlossen sei, das Assoziierungsabkommen anzutasten. Seine Reaktion auf die israelischen Bombenangriffe auf den Iran war lobend. „Sie erledigen die Drecksarbeit für uns“, sagte er. Dass die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, deutsche Staatsangehörigkeit und einen deutschen Hintergrund hat, erklärt, dass auch sie an das deutsche Dogma glaubt, dass Israel unter allen Umständen unsere bedingungslose Unterstützung verdient.
Obwohl wir Verständnis und Respekt dafür empfinden können, dass Deutschland sich seiner historischen Schuld bewusst ist, führt das Tabu, Israel zu kritisieren, de facto zur Unterstützung eines Regimes, das dieselben Verbrechen begeht, die die deutsche Scham nähren.
Da die Vereinigten Staaten keinen Wert mehr auf eine auf Regeln basierende Weltordnung legen, hätte Europa die Chance und die Pflicht gehabt, sich als Hüter der internationalen Rechtsordnung zu erweisen. Aber Europa hat diese Chance vertan und seine Pflicht versäumt und damit seine Glaubwürdigkeit gegenüber der Welt und der Geschichte verspielt.
Dieser Essay von Ilja Leonard Pfeijffer erschien ursprünglich am 28. Juni 2025 unter dem Titel „Ziehier, de genadeklap voor de Europese geloofwaardigheid“ in der belgischen Zeitung „De Morgen“. Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Klute
Titelbild: © Hanna Penzer
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