Nur 60 Kilometer von der Front entfernt versuchen die Menschen, ein normales Leben zu führen – zwischen Kinderspielplätzen und Kriegsverletzten, zwischen Hilfsbereitschaft und Misstrauen. Der Text führt durch Wohnviertel, Kirchen und Hilfsorganisationen einer Stadt, die zum Symbol für Widerstand, Angst und Hoffnung zugleich geworden ist. Und er zeigt auch, wie schwierig die Friedensfrage gerade für christliche Kirchen sind.

Von Bernhard Clasen, Kiew

Es ist ein ruhiges Wohnviertel abseits von der großen 11 Kilometer langen Hauptstraße, dem Soborni Prospekt. Die Häuser sind vierstöckig, Bäume und Kinderspielplätze in den Innenhöfen geben dem Viertel eine leicht dörfliche Atmosphäre. Typisch sowjetische Stadtplanung. Organisiert in Mikroviertel mit vielen Kinderspielplätzen, Bäumen und Gärten. Die Häuser sind in konstruktivistischer Architektur. Irgendwo hört man Kinderstimmen. Die Stadt ist ein industrielles und soziales Großprojekt der Sowjetunion. Hier wurde so gebaut, dass die Menschen zu Fuß zur Arbeit gehen, die Kinder es nicht weit in Schule oder Kindergarten hatten, und man noch mit seinen Nachbarn sprach. Dass Fabriken mitten in der Stadt ökologisch gesehen nicht unbedingt eine gute Idee sind, hatten Stalins Städteplaner nicht bedacht.

Doch die idyllische Stimmung trügt: mit eingeschaltetem Blaulicht und im Schritttempo nähert sich ein Polizeiwagen der kleinen Besuchergruppe. Ein Beamter steigt aus, zieht seine Schirmmütze an und begrüßt die Gruppe. „Anwohner haben uns informiert, dass sich hier verdächtige Personen aufhalten, die photographieren. Und bei Ihnen sehe ich eine Kamera. Was machen Sie hier?“ Die Frau greift zur Handtasche und zieht ihren Dienstausweis heraus. Da steht es schwarz auf weiß, dass sie, Valentina Vinnichenko, eine bei den städtischen Behörden registrierte Reiseführerin ist. „Ich zeige unserem ausländischen Gast unsere schöne Stadt“ klärt sie den Polizisten auf, der ihr Dokument studiert. „Ok, alles klar“ entschuldigt sich dieser dann. „Sie müssen verstehen, die Leute hier sind sehr nervös. Und da ruft man lieber einmal zu viel als einmal zu wenig die Polizei. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Exkursion“ sagt er und verabschiedet sich.

Dieser Vorfall hat einen verständlichen Hintergrund. Immer wieder heißt es, dass sogenannte „Korrektierer“, gemeint sind einheimische Ukrainer, die heimlich auf Putin warten, Gebäude photographieren, die dann wenig später Opfer von russischen Luftangriffen werden. Und deswegen ist die Stimmung sehr angespannt, jeder Einwohner ist misstrauisch, vor allem gegenüber Fremden, die photographieren. Aber nicht nur gegenüber Fremden. Oftmals traut man auch den eigenen Nachbarn nicht.

Dass die Front gerade mal 60 Kilometer von der Metropole entfernt ist, spürt man auf den ersten Blick nicht. Restaurants, Einkaufszentren, Banken und Geschäfte sind offen, bei gutem Wetter sitzen die Besucher der Cafés gerne an einem Tischchen am Gehsteig.

Einer von ihnen ist Andri Chodakowski. Er trinkt seinen Tee und beobachtet die vollbesetzten Kleinbusse, die sogenannten „Marschrutkas“ und die Autos, die über den Soborni Prospekt ziehen. Chodakowski, Anfang 60, ist Chef der Einkaufsabteilung der Klinik № 9, eine der größten Kliniken der Stadt. Jede Bestellung, vom Toilettenpapier bis zu Röntgengeräten, wird von ihm geordert. „Bei uns ist nie ein Bett leer“ sagt der Manager. Von knapp 800 Betten, so berichtet er, sind über die Hälfte immer mit Kriegsverletzten belegt.

Foto: Bernhard Clasen

Irgendwo in einer Halle bestücken Frauen Tarnnetze und Antidrohnennetze. „Die Netze sind meistens hoch gespannt und verhindern einen Drohneneinflug“ erklärt Reiseleiterin Valentina Vinnichenko. Keine der Frauen, die an den Netzen arbeiten, möchte sich photographieren lassen, kommen sie doch aus Gebieten, die von der russischen Armee besetzt sind.“

„Ich will nicht meine Verwandten gefährden, die noch dort wohnen“ erklärt eine von ihnen. „Aber wir alle unterstützen die ukrainische Armee, so gut wir können.“

Bei der Journalistengewerkschaft

Bei der Journalistengewerkschaft, die sich ebenfalls auf dem Soborni-Prospekt befinden, ist immer Betrieb. Valentina Manschura und Natalja Kusmenko, die Chefinnen der Vereinigung, organisieren Fortbildung für die heimischen Journalisten. Mal geht es um juristische Fragen, dann wieder um praktische und technische Themen. Wer will, kann sich für gefährliche Einsätze Schutzausrüstung ausleihen. An diesem Tag sind Vertreter der Feuerwehr zu Gast bei den Journalisten. Sie klären über die Gefahren von Drohnen und Minen auf, geben Tipps, wie man sich verhalten soll, wenn man einen verdächtigen Gegenstand sieht. Die Grundregel: den verdächtigen Gegenstand photographieren, das Photo an die Feuerwehr weiterleiten und den Gegenstand auf keinen Fall berühren. Oftmals, so der Referent von der Feuerwehr, fänden sich Minen in Gegenständen, in denen man sie nicht vermutet: in Kinderspielzeug, scheinbar achtlos weggeworfenen Einwegbechern, in Schokoriegeln. Minen sind nie allein. Wer eine Mine entdeckt hat, so der Experte, müsse davon ausgehen, dass sich weitere in der Nähe befinden. Die anwesenden Journalisten schreiben eifrig mit und geben die Informationen an ihre Leser weiter.

Foto: Bernhard Clasen

Binnenflüchtling aus Berdjansk

Im Büro von Tetjana Tipakowa von der Organisation „Ridna Steschka“ (Heimatpfad) im Zentrum von Saporischschja in einem Keller stapeln sich die Mehlsäcke, Kindernahrung, die Pakete mit medizinischen Gebrauchsartikeln und Dosen.

Tetjana Tipakowa lebt seit März 2022 in Saporischschja. Sie stammt aus Berdjansk, einem Kurort am Asowschen Meer. Dort hatte sie eine Reiseagentur, ein Hotel und ein Geschäft.

Doch das war vor dem russischen Angriffskrieg. Und als Berdjansk von den russischen Truppen besetzt war, ist die Frau, die noch 2022 proukrainische Demonstrationen in der Stadt organisiert hatte und deswegen eine Woche von den russischen Besatzern inhaftiert worden war, im März 2022 nach Saporischschja gezogen. „Ich bin Patriotin“ erklärt sie. „Mein Land ist die Ukraine“.

Mit ihrem Ersparten konnte sie die ersten zwei Jahre gut über die Runden kommen. „Ich bin Flüchtling im eigenen Land. Und schuld daran ist unser Nachbar, Russland, das mit einem Krieg in unser Land gekommen ist.“

In Saporischschja gründete sie Ridna Steschka, die Binnenflüchtlinge aus Berdjansk unterstützt. „Wer soll den Binnenflüchtlingen helfen, wenn nicht wir“ erklärt sie ihre Arbeit. „Der Staat fordert zwar die Bewohner der besetzten Gebiete auf, in von der Ukraine kontrollierte Gebiete überzusiedeln. Aber unterstützt werden die Umsiedler nicht mehr vom Staat. Zudem sei den meisten Binnenflüchtlingen 2023 die staatliche Unterstützung gestrichen worden. „Ich konnte umsiedeln, weil ich genug Geld habe. Viele andere können sich aus finanziellen Gründen keine Flucht nach Saporischschja leisten.“

Inzwischen unterstützt ihre Organisation 3000 Umsiedler-Familien. Sie kritisiert das geringe Interesse der ukrainischen Gesellschaft und des Staates für das Schicksal der Umsiedler und der Soldaten. „Solange ein Soldat verletzt ist, wird er im Krankenhaus auf Kosten des Staates behandelt. Doch sobald er aus dem Krankenhaus entlassen ist, kümmert sich der Staat nicht mehr um ihn“ klagt sie.

Frau Tipakowa glaubt an einen Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland. Fünf Elemente sind ihrer Auffassung Voraussetzung für einen Sieg: „eine starke Armee, eine eigene Waffenproduktion, verlässliche europäische Partner, eine starke Wirtschaft und wir Ukrainer selbst.“ meint sie und fährt fort: „Jeder Ukrainer muss für den Sieg arbeiten, dann wird er auch kommen. Mein Volk ist das mutigste der Welt. Ich werde meine Ukraine nicht verlassen. Ich kämpfe nicht um die Macht, sondern für die Ukraine, für die Rückgabe aller Gebiete. Ich möchte nach Hause zurückkehren, in ein ukrainisches Berdjansk. Ruhm der Nation!“

Foto: Bernhard Clasen

Ein Weihbischof für den Frieden

Mitten in Saporischschja, etwas abseits von dem zentralen über zehn Kilometer langen Soborni-Prospekt sieht man in der Papst-Johannes-Paul-II-Straße etwas versteckt die Kirche «Zum barmherzigen Vater».  Die schlicht gebaute barocke Kirche mit einer Zentralkuppe, zwei Türmen und einer Mariensäule am Eingang ist, wenn man sich einmal in die Johannes-Paul-II-Straße verirrt hat, nicht zu übersehen und zu überhören. Fast den ganzen Tag klingen Kirchenlieder oder Gebetsreime aus den Lautsprechern. Man fühlt sich etwas an ein katholische Dorf in Bayern erinnert. Und wer an der Pforte vorbei auf das Kirchengelände geht, wird mit einem „Slawa Jesusu“ (Ruhm für Jesus) und nicht dem sonst üblichen „Slawa Ukraini“ (Ruhm der Ukraine) begrüsst.

Vier mal die Woche stehen 1500 Menschen vor dem Gelände, viele von ihnen harren seit fünf Uhr morgens aus. Denn vier Mal die Woche verteilt die Kirche auf ihrem Gelände Lebensmittel an die Bedürftigen. Und in Saporischschja sind viele bedürftig. „Wenn man nur hundert oder zweihundert Euro im Monat hat, ist man froh, wenn man mehrmals die Woche kostenlos Brot und Lebensmittel bekommt“ erklärt Priester Pawlo.

Man fühlt sich fast ein wenig nach Bayern versetzt. Und auch der Ablauf der Liturgie orientiert sich an konservativen und traditionalistischen Vorbildern. Hier sind die Ministranten männlich, die Kommunion wird als Mundkommunion verabreicht. „Auch unsere Katholiken denken in den Kategorien der Orthodoxen Kirche, sind orthodox sozialisiert. Und bei den Orthodoxen ist es nicht vorstellbar, dass Frauen den Altarraum betreten, die Kommunion auf die Hand verabreicht wird“ erklärt Weihbischof Jan Sabilo.

Seit 1993 lebt er in Saporischschja. Zu seiner Diözese gehören Donezk und Lugansk, aber auch Poltawa, Dnipro, Charkiw. Mariupol. Die ersten Binnenflüchtlinge sind schon 2014 in Saporischschja eingetroffen.1993 waren noch Polnischstämmige und Deutschstämmige der Kern der Gemeinde, berichtet er. Doch dann sind die meisten von ihnen ausgereist. Aber dafür seien neue Christen dazugekommen. Mittlerweile seien über die Hälfte der Gemeindemitglieder Binnenflüchtlinge.

Dass 90 Prozent der Kirchgänger Frauen seien, läge auch daran, dass die meisten Männer aus Angst, von der Wehrbehörde TZK aufgegriffen zu werden, zu Hause blieben, berichtet er verständnisvoll.

Er sei seit Ende letzten Jahres Mitglied der päpstlichen Kommission „Justitia et Pax“. Dort sind ihm vor allem zwei Themen wichtig: gerechter Friede und nichtmilitärische Konfliktlösung. „Der Frieden ist so wichtig“ sagt er. „Nicht nur bei uns. Man muss auch an die Gefahr eines Weltkrieges denken. Man muss für den Frieden weltweit kämpfen, nichtmilitärisch Konflikte lösen.“ Hier sei für ihn Papst Franziskus Vorbild, der immer vor militärischen Konfliktlösungen gewarnt hatte. „Militärische Konfliktlösungen sind nie gerecht, weil bei ihnen immer der stärkere gewinnt. Man muss immer Möglichkeiten finden, die auch dem schwächeren ein sicheres Leben erlauben.“

Foto: Bernhard Clasen

Bei den Mennoniten

Mitten im Stadtzentrum von Saporischschja, unweit des Sobornij-Prospekts findet sich das Reimer-Zentrum, eine Einrichtung der Mennoniten. Dort können sich Binnenflüchtlinge treffen, Tischtennis oder Tischfußball spielen, Gottesdienste von einer der drei Mennoniten-Gemeinden der Stadt besuchen.

Die Mennoniten, Angehörige einer evangelischen Glaubensgemeinschaft, die ihren Ursprung in Deutschland hat, haben die Gegend seit 1775 stark geprägt. Sie verweigern den Kriegsdienst und setzen sich für gewaltlose Konfliktlösungen ein. Doch inzwischen gibt es in Saporischschja keine Mennoniten dieser deutschsprachigen Traditionslinie mehr. Mit Unterstützung kanadischer Mennoniten wurden in Saporischschja in den 90er Jahren drei Mennoniten-Gemeinden neu gegründet. Pastor Olexii Harkusha führt regelmäßig Gottesdienste im Reimer-Zentrum durch, verteilt Lebensmittel und Medikamente an die Besucher.

In der Frage von Kriegsdienst und Gewaltfreiheit gibt es unterschiedliche Positionen. Am Ende des Gottesdienstes nimmt ein Gemeindemitglied Pastor Olexii Harkusha zur Seite und bittet ihn eindringlich, gegen Deserteure in der Gemeinde vorzugehen. Das Land werde doch angegriffen, da dürfe man auch als Christ nicht abseits stehen. Doch Pastor Olexii Harkusha verteidigt die Gemeindemitglieder, die nicht kämpfen wollen.

«Die Frage, wie wir uns als Friedenskirche zum Kriegsdienst verhalten, spaltet unsere Gemeinschaft. Wir sind eine Friedenskirche und deswegen dürfen wir eigentlich keine Waffe in die Hand nehmen.» so Harkusha zum Europa.Blog. „Es gibt aber auch Gemeindemitglieder, die meinen, wir müssen unsere Heimat mit der Waffe in der Hand verteidigen. Die meisten unserer Männer bleiben einfach zu Hause, verstecken sich zu Hause. Dann gibt es Männer, die bereit sind, eine Waffe in die Hand zu nehmen, aber gleichzeitig sagen, dass sie mit ihrer Waffe nicht schießen werden. Und wieder andere gehen einfach nicht zur Armee und haben deswegen große juristische Probleme.“

Nachtrag

Nach Fertigstellung des Textes wurde bekannt, dass Weihbischof Sabilo seinen Sitz in der päpstlichen Kommission „Justitia et Pax“ einem Kollegen aus der Westukraine überlassen hat, der besser italienisch und englisch spreche als er, so Sabilo.

Fotogalerie

Fotos: © Bernhard Clasen

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Titelbild und alle weiteren Fotos: © Bernhard Clasen 

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