Von Michael Stabenow
Jahrelang durfte ich mich mit der Entwicklung der einst als Windmühlen- und Polderland gepriesenen Niederlande befassen. Erste Risse zeigte das Poldermodell, als der Rechtspopulist Pim Fortuyn nach der Jahrtausendwende mit seiner nonchalanten Art das traditionelle Gefüge aufbrechen konnte.
Kurz nach seiner Ermordung im Mai 2002 fanden die Parlamentswahlen statt, die für die Sozialdemokraten – wie auch jetzt für Frans Timmermans und seine GL-PvdA (GroenLinks – Partij van de Arbeid) – entgegen allen Umfragen mit einer empfindlichen Schlappe endeten. Ich habe in Amsterdam auf der sozialdemokratischen „Wahlparty“ erlebt, wie der damalige Ministerpräsident Wim Kok mit versteinerter Miene das Ergebnis zur Kenntnis nahm. Seither ist das Land politisch flatterig geworden und – mit dem Aufstieg von Geert Wilders (PVV = Partij voor de Vrijheid) – immer weiter nach rechts abgedriftet.
Die Niederlande waren das erste westeuropäische Land, in denen Wahlkämpfe in Form von Fernsehshows – und nicht als klassische Diskussionsrunden – inszeniert wurden. Es ging oft nur plakativ um Inhalte, sondern vor allem um die Köpfe (Lijsttrekker = Spitzenkandidaten). Auch im jüngsten Wahlkampf schien es häufig mehr um das Erscheinungsbild der Spitzenkandidaten als um heiße Eisen wie Migration, die wirtschaftliche Lage, die Misere auf dem Wohnungsmarkt, das Gesundheitswesen oder Klimaschutz und Raumordnung gehen.
Dieser Trend hat sich im Zeitalter der „sozialen“ Medien natürlich verstärkt. Bezeichnend dafür ist, dass viele Wähler sich erst sehr spät entscheiden und dann zuletzt einem in den Medien spürbaren oder vermeintlichen Trend folgen.
Davon hat jetzt der zuletzt gewaltig „gehypte“ D66-Spitzenmann Rob Jetten profitiert (D66 = Democraten 66). 2023 hatte es Wilders geschafft, am Ende aus dem Umfragetief kommend, stetig nach oben zu klettern und deutlich mehr Sitze als erwartet zu ergattern. Auch der rhetorisch beschlagene Mark Rutte, VVD-Dauerpemier (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) von 2010 bis 2024, hatte es geschafft, schlechten Umfrageergebnissen zu trotzen. Der geschmeidige Rutte, der heute als Nato-Generalsekretär wie nur wenige „Daddy“ Trump umgarnt, hatte das Kunststück fertiggebracht, sich zuerst – 2010 – als Regierungschef von Wilders „dulden“ zu lassen, dann ab 2012 für fast fünf Jahre mit den Sozialdemokraten zu koalieren und danach im Spagat eines Mitte-Rechtsbündnisses unter anderem mit der calvinistischen CU (ChristenUnie) zu regieren.
Timmermans hatte nach dem Abschuss des Airbus mit der Flugnummer MH17 über der Ukraine im Juli 2014 als Außenminister mit einer bewegenden Rede vor der UN-Vollversammlung seinen Ruf begründet, der ihn zu einem Schwergewicht in der Juncker- und der von der Leyen 1-Kommission werden ließ.
Es wird Timmermans zwar bescheinigt, die Verbindung von GroenLinks und PvdA geschmeidig gemanaged zu haben. Aber weder 2023 noch jetzt konnte er daraus bei den Wahlen Kapital schlagen. Ähnlich wie der SPD sind den niederländischen Sozialdemokraten schon seit langem traditionelle Wählerschichten abhanden gekommen. Im Wahlkampf wirkte Timmermans zwar inhaltlich beschlagen. Aber neben dem Strahlemann Jetten, sichtlich beflügelt durch die steigenden Umfragewerte für die linksliberale D66, hatte Timmermans offenbar einen schweren Stand. Und fast scheint es jetzt zu einer Neuauflage des jahrelang existierenden Systems kommunizierender Röhren gekommen zu sein, bei dem Gewinne der D66 zulasten der Sozialdemokraten gehen – und umgekehrt.
Unabhängig davon, ob D66 oder die Wilders-Einmannpartei PVV jetzt mehr Stimmen auf sich vereinen konnte – die Initiative zur Regierungsbildung läuft auf D66 und Jetten zu. In Analysen zur Wahl heißt es, Jetten ziehe eine Koalition mit der rechtsliberalen VVD und den wiedererstarkten Christdemokraten (CDA) und GL-PvdA vor, um nicht an der linken Flanke einer bürgerlichen Koalition politisch in Bedrängnis zu geraten.
Rein rechnerisch hätte ein solches Vierparteienbündnis mit (nach derzeitigem Auszählungsstand) 86 von 150 Sitzen eine klare Mehrheit. Ein von der VVD-Spitzenkandiatin Desil Yesilgöz befürwortet Bündnis aus D66, CDA, VVD und der erfolgreich im Bassin verärgerter Widers-Wähler auf Stimmenfang gegangenen rechtspopulistischen Partei JA21 gebildetes Bündnis könnte sich auf 75 der 150 Sitze (und vielleicht die punktuelle Unterstützung von zwei calvinistischen Kleinstparteien) stützen – in der Ersten Kammer, die in der Gesetzgebung Mitwirkungsrechte hat, wäre sie weit von einer Mehrheit entfernt.
Die Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung fällt wahrscheinlich nicht Jetten, sondern der VVD-Spitzenkandidatin Yesilgöz zu. Sie hat bisher ein Bündnis mit den Sozialdemokraten (und Grünen) ausgeschlossen – bemerkenswert für eine „liberale“ Politikerin, deren Partei von 2012 bis 2017 relativ geräuschlos in einem Zweierbündnis mit der PvdA regiert hat.
Rückblende: 2023 hatte Yesilgöz zunächst ein Bündnis mit dem Wahlgewinner Wilders ausgeschlossen, um dann doch mit PVV, der inzwischen weiter ins rechtspopulistische Lager abgeglittenen Bauernpartei BBB (BoerBurgerBeweging) und der nun in der politischen Versenkung verschwundenen Partel NSC (Nieuw Sociaal Contract) des Ex-CDA-Manns Pieter Omtzigt ins Haager Regierungsboot zu steigen.
Überdenkt Yesilgöz nun ein weiteres Mal ihre Position zu möglichen Koalitionen?
Es gibt Stimmen, die erwarten lassen, dass sie nach dem Abgang des der alten sozialdemokratischen Garde zugerechneten Timmermans und wegen der wackeligen Grundlage eines von ihr vorgezogenen Bündnisses mit JA21 (Juiste Antwoord 2021) ihre Vorbehalte gegen ein „linkes“ Bündnis überdenken könnte. Yesilgöz sieht sich durch die überraschend geringen Verluste ihrer Partei so gestärkt, dass sie auf der VVD-Wahlparty tanzend das Abschneiden ihrer Partei feierte.
Umfragen der vergangenen Woche hatten deutlich mehr Einbußen als die zwei von zuletzt 24 Mandate in der Zweiten Kammer erwarten lassen. Dass die VVD 2021 noch auf 34 Mandate gekommen war und nun mit den verbliebenen 22 mehr als ein Drittel ihrer damaligen 34 Sitze verloren hat, sollte bei allem Aufatmen in der VVD-Zentrale über den Schlussspurt im Wahlkampf zu denken geben.
Titelbild: Wahlplakat der Pacifistisch-Socialistische_Partij_PSP, Amsterdam April 1971, Fotografin unbekannt, CC0 1.0 Universal Deed via Wikimedia
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