Der folgende Artikel vertritt und entfaltet die These, dass sich Russlands Krieg gegen die Ukraine auch als ein Krieg interpretieren lässt gegen die sich anbahnende Energie- und Verkehrswende der Europäischen Union (EU) und als ein Krieg um die Bodenschätze und landwirtschaftlichen Produktionsflächen der Ukraine als Versuch Russlands, um den zu erwartenen weitreichenden negativen ökonomischen Folgen einer EU-Energie- und Verkehrswende mit einem brutalen Eroberungskrieg zu begegnen. Der Beitrag beschreibt zudem ein denkbares Szenario, wie es nach einem Ende des Krieges weitergehen könnte, das auf der Idee einer Europäischen Enrgie-Union bzs. Klima-Union basiert. Dem Artikel liegt ein Gedankenaustausch des Autors mit dem MdEP Helmut Scholz (DIE LINKE) zugrunde.
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Von Jürgen Klute
Im Folgenden will ich den Blick auf die Frage nach dem möglichen Nutzen lenken, den Russland aus der Ukraine hätte ziehen können, wenn der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 den von Russland erhofften Erfolg gehabt hätte. Das wirft einen etwas anderen Blick auf die Kriegsursachen und eröffnet vielleicht andere Perspektiven auf mögliche Wege zu einer dauerhaften und Frieden ermöglichenden Lösung dieses Konfliktes.
Im Vordergrund der öffentlichen Debatten über Putins Kriegsziele steht die Wiederherstellung großrussischer Macht. Dies scheint mir aber nur eine Seite der Medalle zu sein, die für sich alleine nicht zur Erklärung des russischen Überfalls auf die Ukraine ausreicht. Die zweite Seite der Medalle sind die ökonomischen Interessen, die mit dem Überfall verbunden sind. Sie spielen aus meiner Sicht eine deutlich größere Rolle, als sie in der öffentlichen Debatte bisher einnehmen. Eine Wiederherstellung großrussischer Macht erfordert eben auch Ressourcen. Gleichzeitig scheint für Putin in einer Wiederherstellung großrussischer Macht ein Schlüssel zu liegen, um drohende wirtschaftliche Nachteile infolge einer Energiewende zu kompensieren. Denn eine Energiewende würde Russland in relativ kurzer Zeit die Einnahmen aus dem Export fossiler Energieträger kosten.*
Was hätte Putin also ökonomisch gewonnen, hätte sein Überfall auf die Ukraine Erfolg gehabt? Oder etwas anders gefragt: Lassen sich neben den großrussischen Phantasien auch handfeste und eher auf die Zukunft gerichtete Interessen Putins bzw. der russischen Regierung an der Ukraine identifizieren?
Da ist zunächst festzuhalten, dass die Ukraine vor dem russischen Überfall der weltweit fünftgrößte Exporteur von Weizen war. Hinzukommen anderen Nahrungsmittel wie beispielsweise Sonnenblumenkerne und Sonnenblumenöl. Russland war vor dem Überfall der weltweit größte Exporteur von Weizen. Zusammen stehen Russland und die Ukraine für etwa 28 Prozent der weltweiten Weizenexporte. (Quelle)
Hauptabnehmer des russischen Weizens sind Ägypten (ca. 31 %) und die Türkei (ca. 17 %). Kleinere Mengen gehen nach Nigeria, Senegal, Sudan, Vereinigte Arabische Emirate und Yemen.
Hauptabnehmer des ukrainischen Weizens sind Ägypten (22 %) und Indonesien (ca. 19 %). Aber auch an die Türkei liefert die Ukraine Weizen (6,3 %) und ebenfalls kleinere Mengen an Israel, Marokko und Tunesien. (Quelle)
Wer die Ukraine kontrolliert, kontrolliert selbstverständlich auch die ukrainische Landwirtschaft. Welche globale Bedeutung die ukrainische Getreideproduktion hat, wurde im Laufe des letzten Jahres angesichts des zeitweiligen Boykotts von Getreidelieferungen aus ukrainischen Häfen auch denen deutlich, die in der Regel mit diesen Fragen nicht vertraut sind. Mit einer Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft hätte Russland seine Rolle als weltweit größter Getreideproduzent und -exporteur deutlich ausgebaut. Russland hätte dann alleine ca. 28 Prozent des weltweiten Weizenexports kontrolliert – weltweit gilt Weizen als das wichtigste aller Grundnahrungsmittel. Damit hätte Putin der russischen Wirtschaft und dem Staatshaushalt nicht nur eine zusätzliche Einnahmequelle erschlossen. Als mit Abstand größter Getreideexporteur hätte Russland sich auch entscheidenden Einfluss darauf gesichert, wieviel Getreide zu welchem Preis wohin geliefert wird. Russlands politischer Einfluss auf globaler Ebene wäre damit spürbar gestiegen. Politische Macht erwächst nicht allein aus militärischer Stärke, sondern nicht zuletzt (neben der industriellen Produktion und der Leistung von Wissenschaft und Forschung) auch aus der Kontrolle der Lebensmittelproduktion und -verteilung.
Weit weniger breit diskutiert werden die Rohstoffvorkommen in der Ukraine. Dabei geht es nicht nur um die bekannten Kohlevorkommen in der ukrainischen Region Donbass. Wie erst vor wenigen Jahren festgestellt wurde, verfügt die Ukraine über die zweitgrößten Erdgasvorräte in Europa (Quelle). Damit ist die Ukraine, wie n-tv am 29.09.2022 schrieb, ein potentieller Konkurrent für Russland als wichtigem Gas-Lieferant für Europa.
Es gibt jedoch noch weitaus interessantere Rohstoffvorkommen in der Ukraine, die teils bisher noch gar nicht erschlossen sind, die aber eine große Bedeutung für die EU-Energiewende haben. Darauf verweist ein Artikel in der Washington Post vom 10.08.2022 (In the Ukraine war, a battle for the nation’s mineral and energy wealth). Die Autoren Anthony Faiola und Dalton Bennett schreiben:
„Der Kreml beraubt dieses Land [die Ukraine, Anm.d.A.] der Bausteine seiner Wirtschaft – seiner natürlichen Ressourcen.“ („The Kremlin is robbing this nation of the building blocks of its economy — its natural resources.“)
Ein paar Zeilen weiter heißt es:
„Nach fast sechsmonatigen Kämpfen hat Moskaus schmutziger Krieg zumindest einen großen Erfolg erbracht: die Ausweitung der Kontrolle über einige der mineralienreichsten Gebiete in Europa. Die Ukraine verfügt über eine der weltweit größten Titan- und Eisenerzreserven, unerschlossene Lithiumfelder und riesige Kohlevorkommen. Zusammengenommen sind sie mehrere Billionen Dollar wert.“ („After nearly six months of fighting, Moscow’s sloppy war has yielded at least one big reward: expanded control over some of the most mineral-rich lands in Europe. Ukraine harbors some of the world’s largest reserves of titanium and iron ore, fields of untapped lithium and massive deposits of coal. Collectively, they are worth tens of trillions of dollars.“)
117 der 120 am häufigsten verwendeten Mineralien und Metalle, so Faiola und Bennett, finden sich in relevanten Mengen in der Ukraine. Weiter schreiben die Autoren, dass Russland im Sommer 2022 bereits 63 Prozent der Kohlevorkommen der Ukraine, 11 Prozent der Erdölvorkommen, 20 Prozent der Erdgasvorkommen, 42 Prozent der Metalle und 33 Prozent der Vorkommen an seltenen Erden und anderen wichtigen Mineralien, darunter Lithium, kontrollierten. Für Faiola und Bennett hat der russische Überfall auf die Ukraine daher direkte Auswirkungen auf die Sicherheit der europäischen Energieversorgung. Das betrifft nicht nur die aktuelle Energieversorgung, sondern auch eine künftige klimafreundliche Energieproduktion, die auf Mineralien wie Lithium und so genannte seltene Erden angewiesen ist. Infolge des Krieges wurden zudem Vorhaben westlicher Bergbauunternehmen, entsprechende Vorkommen zu erschließen, gestoppt, wie Faiola und Bennett weitern berichten.
Weshalb sollte Russland ein so großes Interesse an einem Zugriff auf diese landwirtschaftlichen und bergbaulichen Ressourcen der Ukraine haben, dass es dafür einen Krieg gegen sein Nachbarland beginnt? Der Kern der Antwort liegt m.E. einerseits in der Struktur der russischen Wirtschaft, die auf Extraktivismus basiert, also dem Export von landwirtschaftlichen Produkten und Bodenschätzen während Forschung, Entwicklung und die industrielle Basis global gesehen bedeutungslos sind, und andererseits in der von der EU vorangetriebenen Energiewende: Sie entzieht der russischen Wirtschaft ihre Basis: Russland ist weltweit der größte Exporteur fossiler Energieträger. Der russische Energieexperte Michail Krutichin bezifferte in einem Interview mit der taz vom 07.04.2022 die russische Abhängigkeit vom Export von Öl und Gas auf ca. 60 Prozent der Gesamteinnahmen der russischen Wirtschaft und auf ca. 1/3 des Staatshaushaltes. Ein schneller EU weiter bzw. weltweiter Ausstieg aus der fossilen Energieproduktion hätte für Russland also äußerst weitreichende ökonomische Folgen (Quelle – taz, 07.04.2022: Energieexperte über mögliches Embargo: „Gas ist wichtigste Einnahmequelle“).
Stefan Schultz hatte bereits in einem ausführlichen Spiegel-Artikel (Die grüne Weltrevolution) , der am 28.09.2019 erschien, die Frage erörtert, welche geopolitischen und ökonomischen Auswirkungen die Energiewende haben dürfte. Nach seiner Einschätzung wird durch die Energiewende die bisherige geopolitische und globale ökonomische Struktur tiefgreifend verändert. Das gilt nicht allein für Russland, sondern für alle Staaten, deren wirtschaftliche Basis der Export fossiler Energieträger bildet.
Gleichwohl hat diese Einschätzung erstaunlicherweise bisher nur sehr begrenzte Aufmerksamkeit erfahren. Immerhin, vom 14.10.2021 findet sich ein Beitrag auf der Webseite des Senders “Deutsche Welle”*** (Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?), in dem gefragt wird, ob die damalige Reduktion der russischen Gaslieferungen nach Europa ein Versuch sein könnte, die EU-Energiewende zu konterkarieren. Der Beitrag leitet diesen Schluss ab aus dem Konflikt zwischen der russischen Regierung und der EU um die Laufzeit von Gaslieferverträgen. Russland insistierte seinerzeit auf langfristigen Verträgen, die EU hingegen wollte nur einen Handel zu Tagespreisen an den entsprechenden Börsen, also keine langfristigen vertraglichen Bindungen eingehen. Der DF-Bericht endet mit folgender Einschätzung:
„Gleichzeitig würden solche Langfristverträge den Green Deal, die ambitionierten Dekarbonisierungspläne und Klimabemühungen der EU, konterkarieren. Denn die EU-Länder müssten bis Mitte oder gar Ende der 2030er Jahre große Mengen des fossilen Energieträgers Gas importieren, auch wenn die Erneuerbaren Energien bereits in diesem Jahrzehnt den erwarteten und angestrebten Entwicklungsschub bekommen sollten. Aber offensichtlich will Moskau genau das auch erreichen.“
Wenige Tage nach diesem DF-Beitrag, am 17.10.2021, erschien ein Spiegel-Interview mit dem bereits zitierten russischen Energieexperte Michail Krutichin, auf den sich auch der DF-Beitrag bezog. In diesem Interview hat Krutichin noch einmal deutlicher als in dem oben zitierten taz-Interview den kritischen Blick der russischen Regierung auf die EU-Energiewende herausgestellt:
„Russlands Führung ist plötzlich klar geworden, dass das, was sie erst in 50 Jahren erwartet haben, viel schneller Wirklichkeit wird. Sie haben gesehen, dass Europa – und nicht nur Europa – den Übergang zu einer CO2-freien Energieversorgung konkret plant, dass es ihn ernsthaft finanziert und dass es die nötigen Gesetze schafft. Russlands Führung hat verstanden, dass sie die Einnahmen aus dem Export ihrer fossilen Energieträger weit früher verlieren könnte, als sie dachte. Und deshalb wird jetzt faktisch ein Krieg erklärt: Sorry, aber ihr müsst diesen Übergang bremsen. Putin hat das klar formuliert, als er sagte, Russland werde bis 2060 klimaneutral. Das hieß übersetzt: Ihr mit euren Zieldaten 2035, 2040, 2050, macht mal langsamer, so schnell klappt das bei euch nicht. Und wenn ihr den Übergang trotzdem so schnell machen wollt, dann – das ist faktisch ein Ultimatum – werden wir euch diesen Winter frieren lassen, und ihr müsst eure Strategie zum Green Deal überdenken. Das ist sozusagen der große Krieg, und alles andere – der Streit um Verträge, Lieferrouten – sind nur Episoden, Scharmützel in diesem Krieg.“
Einen Ersatz von Erdgaslieferungen durch die Produktion und den Export von Wasserstoff in die EU sieht Krutichin aus technischen Gründen, aber auch aufgrund der Tatschte, dass Wasserstoff ebenso gut in anderen sonnenreichen Regionen produziert werden kann, kritisch.
Zwischenzeitlich berichtete die taz (Quelle), dass laut dem Weltklimarat IPCC nach neuesten Studien die Dekarbonisierung noch schneller als bisher angenommen vollzogen werden müsse, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten: Danach muss bereits bis 2030 eine Halbierung der CO2-Emissionen erfolgen. Eine Nachricht aus dem Wiener Standard vom 08.02.2023 (Ein Oktopus liefert eine düstere Prognose für die Zukunft der Westantarktis) unterstützt diese düstere Einsicht. Demnach lagen während der letzten Zwischeneiszeit die globalen Durchschnittstemperaturen „nur“ zwischen 0,5 und 1,5 Grad Celsius höher als in der Zeit vor der Industriellen Revolution und dennoch schmolz offenbar der gesamte Eisschild der Arktis bereits bei diesen niedrigeren Klimaerwärmungen komplett ab. Die Erkenntnisse der Klimaforschung verdichten sich also, dass die Dekarbonisierung der globalen Wirtschaft deutlich beschleunigt werden muss, um die Klimaerwärmung in einem für Menschen erträglichen Umfang zu halten.
Damit erhöht sich der Veränderungsdruck auf die Staaten noch weiter, deren Wirtschaft im wesentlichen auf der Ausbeutung fossiler Energieträger basiert. Immerhin hat das deutsche Außenministerium das Problem mittlerweile wahrgenommen und hat bis zum russischen Überfall auf die Ukraine Russland eine Kooperation zur Produktion und Lieferung von Wasserstoff angeboten, um Russland vor einem wirtschaftlichen Kollaps zu retten und dem Land neue Zukunftsaussichten für die Zeit nach den fossilen Brennstoffen zu eröffnen, wie das Nachrichtenportal Euractiv am 01.02.2022 – also wenige Tage vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine – berichtete (Europa Kompakt: Deutschlands Wasserstoffdiplomatie – Rettungsleine für Russland).
So gesehen lässt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine also auch als ein Krieg um die Energiewende deuten. Zwar spielt der ökonomische Aspekt als Kriegsursache in der öffentlichen Debatte nur eine marginale Rolle. Ein Blick auf die zuvor zitierten Artikel zeigen aber, dass dieser Aspekt eine weitaus bedeutendere Rolle spielt, als ihm in der Debatte eingeräumt wird.
Gestützt wird diese Einschätzung durch eine knappe Analyse der Lage Russlands durch den Vorsitzender der „Allrussischen Offiziersversammlung“ Leonid Iwaschow. Sie ist enthalten in einer Rede, die Iwaschow am 30. Januar 2022 vor der „Allrussischen Offiziersversammlung“ gehalten hat.** Die relevanten Abschnitte lauten:
“Was bedroht heute die Existenz Russlands, und gibt es eine solche Bedrohung überhaupt? Man kann argumentieren, dass es tatsächlich Bedrohungen gibt – das Land steht kurz vor seinem Ende. Die Bevölkerungszahl sinkt stetig. Der Populationsschwund bricht weltweit Rekorde, und der Rückgang ist systematisch. In jedem komplexen System kann ein kleiner Fehler zum Zusammenbruch führen.
Dies ist unserer Meinung nach die größte Bedrohung für die Russische Föderation. Es handelt sich jedoch um eine innere Bedrohung. Grund dafür ist das Staatsmodell, sowie die Herrschaftsform und der Zustand der Gesellschaft. Die Gründe sind also interne: das unrentable Staatsmodell, die völlige Inkompetenz und Unprofessionalität des Macht- und Verwaltungssystems, die Passivität und Desorganisation der Gesellschaft. In einem solchen Zustand kann kein Land lange überleben.
Was die Bedrohungen von außen angeht: Diese sind durchaus vorhanden. Nach unserer Experteneinschätzung sind sie jedoch derzeit nicht kritisch und bedrohen nicht unmittelbar die Existenz der russischen Staatlichkeit oder ihre vitalen Interessen. Im Großen und Ganzen ist alles stabil, die Kernwaffen sind unter zuverlässiger Kontrolle, die NATO-Streitkräfte werden nicht aufgestockt, und es finden keine Aktivitäten statt, die Russland bedrohen.
Daher ist die Situation rund um die Ukraine in erster Linie künstlich hervorgerufen worden und dient dem Vorteil einiger innerer Kräfte in Russland. Infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, an dem Russland (Jelzin) maßgeblich beteiligt war, wurde die Ukraine ein unabhängiger Staat, Mitglied der UNO und hat gemäß Artikel 51 der UN-Charta das Recht auf individuelle und kollektive Verteidigung.”
Iwaschow sieht Russland wenige Tage vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine also keineswegs von außen bedroht, sondern von innen. Demnach war der Krieg zumindest zu Beginn kein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Nato, wie immer wieder aus der deutschen Friedensbewegung zu hören ist, sondern ein Ablenkungskrieg von innerussischen ungelösten und infoge ihrer Zuspitzung nur noch schwer lösbaren politischen und ökonomischen Problemen. Dass sich im Laufe des Krieges auf westlicher Seite, nach dem die Ukraine sich gegen alle Erwartungen als widerstandsfähig gegen den russischen Angriff erwiesen hat, ein Interesse an einem Abntzungskrieg entwicklet zu haben scheint, der die russische Armee nchhaltig schwächt, steht dem keineswegs entgegen.
Weiterhin stützt ein Beitrag des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler aus der Januar-Ausgabe 2023 der Blätter für deutsche und internationale Politik indirekt meine These. In dem etwas umfassenderen Beitrag unter dem Titel „Von Putin bis Erdoğan: Wie pazifiziert man die Revisionisten. Die Rückkehr der Geopolitik nach Europa“ geht Münkler der Frage nach, wie politisch mit autoritären politischen Systemen umgegangen werden kann, um bewaffnete Konflikte möglichst zu vermeiden. Münkler entfaltet drei Lösungsstrategien, von denen die erste für unseren Kontext relevant ist: Pazifizierung durch Wohlstandstransfer. Ausgangspunkt für Münkler ist, dass die gesamte Schwarzmeer-Region eine Krisenregion ist. Die Hauptursache dafür sieht Münkler in dem Zerfall des russischen Zarenreiches und des osmanischen Reiches am Ende des ersten Weltkrieges. Um die gesellschaftlichen Spannungen zu reduzieren, die aus dem Verlust einstiger Größe und Bedeutung und einstigen Wohlstandes und aus der Rückschau auf die untergegangenen „goldenen“ Zeit resultieren, besteht nach Münkler ein Weg darin, die Nachfolgegesellschaften durch Wohlstandstransfers und Beteiligung an wirtschaftlicher Entwicklung so einzubinden, dass die Erinnerungen an die „große Vergangenheit“ überlagert werden durch den aktuellen Wohlstand. Münkler wörtlich:
„Man bindet die revisionistischen Mächte in eine Wirtschaft ein, die prosperiert, in der es den Leuten gut geht, sodass die Ressentiments, die Erinnerungen an die einstige „große Vergangenheit“, mehr und mehr an Bedeutung verlieren, bis man den gegenwärtigen Wohlstand höher schätzt als die historisierenden Narrative, wie sie etwa von Putin zuletzt fortdauernd ins Spiel gebracht worden sind.“
Ein paar Zeilen weiter führt Münkler aus:
„Die komplementäre Funktion zu Wohlstandstransfers ist wirtschaftliche Verflechtung. Also war es naheliegend zu sagen: Wir versuchen, Russland als den großen potentiell revisionistischen Akteur zu pazifizieren, indem wir dessen Energieträger und Rohstoffe kaufen, weil die für uns viel billiger, ja sogar ökologisch verträglicher sind als die Alternativen, weil sie über Pipelines transportiert werden. Und wir verkaufen im Gegenzug dafür den Russen fortgeschrittene Technologie.
Auf diese Weise schaffen wir einen Wohlstandstransfer nach Russland, auf den die Herrn im Kreml angewiesen sind, weil die aus Europa kommenden Gelder dazu dienen, die Pensionäre, die Staatsbediensteten und weitere bezahlen zu können. Zugleich hoffen wir darauf, dass es ebenso gut funktioniert, wie es in Europa und vorher bei den Deutschen funktioniert hat. Das war – so kann man es vereinfacht sagen – der Steinmeier-Plan, der von Angela Merkel umgesetzt worden ist.“
Es ist offensichtlich, dass durch die EU-Energiewende genau dieses von Münkler beschriebene und über mehrere Jahrzehnte erfolgreich angewandte Konzept der „Pazifizierung durch Wohlstandstransfer“ im Blick auf Russland in seinen Fundamenten erschüttert wird. Dass das Widerstände erzeugt, kann nicht überraschen, wurde aber bisher weitgehend ausgeblendet. Hinzu kommt, dass das heutige Russland, wie Münkler weiter ausführt, über keine hochentwickelte Wirtschaft verfügt, über die größere Teile der Gesellschaft am Wohlstandstransfer beteiligt worden wären. Statt dessen hat sich eine kleine wirtschaftliche Elite den Wohlstandstransfer angeeignet. Ein kurzfristiger Umbau der russischen Wirtschaft, wie ihn ein schneller klimapolitisch gebotener Ausstieg aus der fossilen Energieproduktion erforderlich macht, ist unrealistisch. Will Putin also die ihn stützenden Oligarchen weiterhin bei der Stange halten, muss er ihnen einen Ersatz für die wegbrechenden Einnahmen aus dem Export der fossilen Energieträger bieten. Dazu braucht Putin offensichtlich den Zugriff auf die ökonomischen Ressourcen der Ukraine.
Erschwerend kommt hinzu, dass Russland derzeit die russische Föderation dominiert und mit seiner militärischen Stärke Konfliktherde unter Kontrolle hält und (brutal) eindämmt sowie darüberhinaus in Syrien und in Afrika militärisch (zumindest indirekt durch die Wagner-Söldnertruppe) aktiv ist. Der oben zitierte russische Energieexperte Krutichin verweist darauf, dass rund ein Drittel der russischen Staatseinnahmen aus dem Export fossiler Energieträger generiert wird. Ein Einbruch dieser Einnahmen infolge eines schnellen Ausstiegs aus der fossilen Energieproduktion hätte also auch für die vielfältigen politischen und militärischen Aktivitäten Russlands weitreichende negative Folgen.
Die Einverleibung der Ukraine in den russischen Staat lässt sich vor dem dargelegten Hintergrund viel schlüssiger als Versuch einer Kompensation der Verluste aus den Folgen der EU-Energiewende verstehen denn als Folge nostalgischer Erinnerungen an das untergegangene Zarenreich – diese Erinnerungen taugen bestenfalls als leichter kommunizierbare narrative Verpackung der ökonomischen Interessen. Die Sicherung der Kontrolle über für die Energiewende relevante Bodenschätze verschafft zum einen neue Einnahmequellen und zum anderen auch Einfluss auf die Umsetzung und Organisation der Energiewende. Zudem kommt aus deutscher Sicht laut dem zitierten Euractiv-Artikel über die deutsche Wasserstoffdiplomatie auch die Ukraine aufgrund ihrer sonnenreichen Gebiete als Produzent grünen Wasserstoffs in Frage.
Energiewende und Klimaerwärmung könnten aber auch ein Schlüssel für den Ausweg aus dem jetzigen Krieg sein. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der ehr kurzfristigen Frage, wie die aktuellen Kampfhandlungen beendet werden können, und der mittelfristigen Frage nach einer europäischen Friedensperspektive. Hier soll es um die längerfristige Perspektive gehen.
Zwar drängt der russische Krieg gegen die Ukraine derzeit die Klimaerwärmung in den Hintergrund. Ganz zu schweigen davon, dass der Krieg die Klimaerwärmung noch weiter anheizt. Dennoch bleibt die Klimaerwärmung das drängendste Problem, mit dem wir konfrontiert sind. Sie kennt keine nationalen Grenzen. Deshalb ist sie nur dann zu stoppen, wenn es gelingt, über bestehende Staatsgrenzen und Konflikte hinweg die Klimaerwärmung zu stoppen.
Ein dauerhafter Frieden zwischen Russland und der Ukraine, aber auch eine Befriedung der weiteren Region um das Schwarze Meer bis hin in den mittleren Osten setzt eine attraktive und realistische Perspektive voraus. Eine Europäische Energie-Union – oder besser: Klima-Union – könnte eine solche Perspektive sein. Sie wäre deutlich umfassender als die Europäische Union, dafür aber von einer deutlich geringeren politischen Integration als die heutige Europäisch Union (EU), was ein solches Projekt deutlich vereinfacht. Damit wären einerseits Ländern wie Großbritannien, Norwegen und der Schweiz eine Tür geöffnet, zum anderen aber eben auch der Ukraine und Russland sowie grundsätzlich auch der Türkei und weiteren Ländern des mittleren Osten, die heute wirtschaftlich vom Export von Öl und Gas anhängen. Auch diese Ländern brauchen eine wirtschaftliche Perspektive für die Zeit nach der Energiewende. Möglicherweise wäre auch eine Ausweitung auf alle Anrainerstaaten des Mittelmeeres sinnvoll. Das Thema Energiepartnerschaften mit afrikanischen steht ja bereits auf der Tagesordnung der EU (siehe Euractiv: EU-Klimachef: Afrika wird „wichtigster Partner für Europa“ sein).
Hauptaufgabe und Gegenstand einer europäischen Klima-Union wäre die Umsetzung der Energiewende mit dem Ziel eines Stops der Klimaerwärmung.
Herfried Münkler hat in dem oben zitierten Beitrag von ihm u.a. auch darauf hingewiesen, dass ein Friedensvertrag durch Garantiemächte abgesichert werden muss, wenn er Bestand haben soll. Das geschieht in der Regel militärisch, ist aber mit dem Risiko verbunden, wie Münkler anmerkt, dass im Falle eines Bruchs des Friedensvertrags die Garantiemächte unmittelbar in einen Krieg mit Russland oder u.U. auch mit der Ukraine hingezogen werden. Eine Einbindung der Ukraine und Russlands in eine europäische Klima-Union böte hingegen die Chance, einen zivilen Rahmen einer Garantie für die Einhaltung eines Friedensvertrages zu entwickeln.
Sowohl Russland als auch die Ukraine verfügen über erheblich Ressourcen, die für technische Umsetzung einer Energiewende erforderlich sind. Eine europäische Energieunion böte folglich beiden Ländern ökonomische Entwicklungsperspektiven jenseits einer fossilen Energieproduktion.
Damit stellt sich dann die Frage, welches Interesse Russland längerfristig an einer europäischen Klima-Union haben könnte. Auch darauf gibt es eine m.E. überzeugende Antwort: die langsam auftauenden Permafrostböden Russlands. Sie würden einerseits noch einmal enorme Mengen an klimaschädlichen Gasen freisetzen und damit die Klimaerwärmung zusätzlich beschleunigen. Zum anderen ist die Infrastruktur der Permafrostregionen nicht auf auftauende bzw. aufgetaute Böden ausgelegt, sondern allein auf gefrorene. Das Auftauen der Böden wäre also mit enormem Schaden und extrem hohen Kosten für Russland verbunden. Noch ließe sich das Schlimmste abwenden. Und das läge sowohl im Interesse Russlands als auch im Interesse der Ukraine wie auch Europas insgesamt. Nach einem Jahr Krieg sind weder Russland noch die Ukraine in der Lage aus sich heraus eine auch für diese beiden Länder nötige Energiewende umzusetzen und zu finanzieren. Innerhalb einer europäischen Klima-Union hätten aber beide Länder eine Chance, die EU könnte ihre Ressourcen dann ungeteilt im Rahmen einer Klima-Union zur Finanzierung der Energiewende nutzen statt für klimaschädliche Waffenlieferungen. Und auch die Staaten des mittleren Osten hätten eine postfossile Perspektive für ihre Wirtschaften.
Ein solches Projekt setzt jedoch voraus, dass Russland nicht pauschal isoliert und dauerhaft aus der internationalen Völkergemeinschaft ausgeschlossen wird, wie gelegentlich gefordert wird, sondern dass es einen differenzierten Umgang mit Russland gibt, der Türen offen lässt für Kontakte und Zusammenarbeit – soweit das unter den gegenwärtigen Bedingungen möglich ist – mit den Teilen der russischen Gesellschaft, die für eine solche Perspektive offen sind. Gerade in Deutschland sollte man/frau sich daran erinnern, dass trotz der Shoa und der deutschen Kriegsverbrechen insbesondere – aber nicht allein – in Mittel- und Osteuropa Deutschland nach 1945 nicht isoliert wurde.
Der Weg zur Pazifizierung verläuft im 21. Jahrhundert nicht mehr über Wohlstandstransfers, sondern über den gemeinsamen Kampf gegen die Klimaerwärmung – mit anderen Worten: über eine Klima-Union.
* Dieser Absatz war ursprünglich anders formuliert. Die ursprüngliche Formulierung konnte zu dem Schluss führen, dass meine Überlegungen als Alternative zu den Erklärungen des Krieges als Versuch einer Wiederherstellung großrussischer Macht durch Putin gedacht seien. Das war meinerseits nicht intendiert. Daher die Neuformulierung dieses Absatzes.
** Der Abschnitt zu Iwaschow wurde nachträglich am 28.03.2023 hinzugefügt. Die vollständige Rede Iwaschows in deutschsprachiger Übersetzung ist hier nachzulesen. Dort findet sich auch eine einleitende Anmerkung zur Herzkunft und Verlässlichkeit des Textes und seiner Übersetzung sowie zur Einschätzung und Einordnung der Rede von Iwaschow einschließlich eines Links auf den russischsprachigen Originaltext, der am 28.03.2023 noch abrufbar war.
*** Ursprünglich stand hier “Deutschlandfunk”. Korrekt ist aber “Deutsche Welle”. Dieser Fehler wurde am 17. Mai 2024 korrigiert.
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Titelbild: Borodianka, Kyiv Oblast, 6. April 2022 by UNDP Ukraine CC BY-ND 2.0 via FlickR
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