Beitrag von Tobias Gralke

Johannes Hillje (Politikberater und ehemaliger Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen) hat ein neues Buch geschrieben, das sein Anliegen auf dem Cover trägt: „Plattform Europa – Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können“. Als ich auf Twitter davon erfahre, sitze ich gerade in einem Berliner Café und suche nach einem Flug nach London. Ein paar Wochen später lese ich das Buch in einem Café in Paris.[1] Ich erzähle das nur, um zu reflektieren, in welchem Alltagsmodus ich „Plattform Europa“ rezipiere; und um kurz in die 60er Jahre ausholen zu können:

Für Jürgen Habermas waren die britischen Kaffeehäuser einer der Orte, an denen sich Ende des 17. Jahrhunderts ein fundamentaler Strukturwandel der Öffentlichkeit ereignete: In Gesprächen über Literatur, Musik und wichtige Ereignisse kam es zur Ausbildung einer bürgerlichen (und natürlich weißen, männlichen) Öffentlichkeit, die sich von der bis dato feudalistisch geprägten repräsentativen Öffentlichkeit abzuheben begann – freilich ein sehr eurozentrisches Modell, das vor allem die kolonialistische Basis dieser Entwicklung unterschlägt.[2]

Was Johannes Hillje nun implizit fordert, ist ein neuerlicher Strukturwandel der Öffentlichkeit, der aus einem ganz anderen Grund Europa ins Zentrum stellt: Vor den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament 2019 ist die Europäische Union brüchig geworden. Die Krisen der letzten Jahre (Austeritätspolitik, Verteilung von Asylsuchenden) haben vielerorts das Vertrauen in die europäischen Institutionen und die Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander ausgehöhlt. Europaweit sind nationalistische Akteur*innen auf dem Vormarsch, die insbesondere die Wahlen zum strategischen Ziel erkoren haben, um die EU „von innen heraus zu verändern“, statt wie bisher auf individuelle Austritte zu pochen, wie der rechtsextreme italienische Innenminister Matteo Salvini freimütig bekannte.[3] Wenn es nach Johannes Hillje geht, bedarf es daher, um Europa zu retten, einiger radikaler Veränderungen in der Kommunikation über dieses – und zwar so schnell wie möglich, denn: „Vielleicht hat Europa nur noch diese eine Chance: Dem Austausch, dem konstruktiven Streit, der Empathie, dem Gemeinsamen, den Vorteilen, aber auch der Kritik an der europäischen Einigung einen angemessenen Resonanzraum zu geben.“ Was schlägt er also vor?

„Plattform Europa“ gibt sich umstandslos analytisch: Den ersten beiden Kapiteln, „Das Problem“ und „Die Ursache“, folgt im dritten bereits „Die Lösung“. Hilljes wesentliche These lautet verkürzt: Europäische Krisen werden zu solchen, weil über sie mehr und anders – vornehmlich national – berichtet wird als über funktionierende EU-Politik. Das wiederum führt zum Erstarken nationalistischer Positionen und neuen Konflikten, auch zur Delegitimierung europäischer Institutionen. Alles in allem: „ein Teufelskreis aus Konflikt, News und Nationalismus“; vor allem ein „Diskursversagen über europäische Politik“. Um das plausibel zu machen, beruft sich der Autor maßgeblich auf das Modell des Framings, das bereits einen zentralen Baustein seiner Auseinandersetzung mit Sprache und Politik von Rechtspopulist*innen bildete.[4] Es geht dabei um die Frage, wie bestimmte Informationen sprachlich verpackt werden und wie dadurch die Wahrnehmung eines Themas geprägt wird, in welchem Deutungsrahmen („frames“) wir es verstehen. Diese Deutungsrahmen können dann dekonstruiert werden. Johannes Hillje beispielsweise kritisiert die Rede vom „Projekt Europa“ und der „Idee Europa“, da diese die Vorstellung eines zeitlich begrenzten Vorhabens oder eines fixen, undurchdachten Gedankens vermitteln. Sein Gegenvorschlag: von „europäischer Demokratie“ sprechen, um die institutionelle Verankerung und den Prozesscharakter demokratisch organisierter Politik gleichermaßen abzubilden. Oder eben: von der „Plattform Europa“.

Nachdem der Autor zunächst zwei Modelle einer europäischen Öffentlichkeit einander gegenüber stellt – (1) eine nach nationalen Vorbildern zentral organisierte, (2) verschiedene europäisierte nationale Öffentlichkeiten – kommt er zum Schluss, dass beide aus verschiedenen Gründen scheitern müssen oder bereits gescheitert sind: Für das erste Modell fehle es an einem entsprechenden Massenmedium, für das zweite an entsprechenden Deutungsrahmen in den  vorhandenen Medien. So schlägt er im Anschluss ein eigenes vor: einen digital vernetzten, supranationalen, „gemeinsamen Kommunikationsraum für die Massen“. Und bevor es zu abstrakt wird, stürzt er sich in einem furios detaillierten Abschlusskapitel ins geradezu Über-Konkrete:

Die „Plattform Europa“, ist da zu lesen, solle auch „EUROPA“ heißen. Erreichbar solle sie unter „EUROPA.eu“ sein, ein europäisches Nachrichtenangebot genau wie europäische Serien, Podcasts und Universitätsvorlesungen bieten, zivilgesellschaftliches Engagement fördern und die Dienstleistungen der europäischen Demokratie mittels diverser Apps und Informationen auch dort zugänglich machen, wo die freie Presse bedroht oder bereits abgeschafft ist.  Organisiert und getragen werden solle sie von der Europäischen Rundfunkunion (EBU), gleichzeitig dürfe sie nicht top-down oktroyiert werden, sondern müsse auf konkrete Bedürfnisse der Zivilgesellschaft reagieren. Unabhängig müsse sie von den europäischen Institutionen funktionieren, dabei gleichwohl mit von ihnen finanziert sein. So ausgefeilt ist Johannes Hilljes „Vision“ (Buchrücken), dass sie sich stellenweise wie ein groß angelegter Projektantrag liest, der alle möglichen Bedenken bereits vorgedacht hat und nicht vorhat sich so einfach abwimmeln zu lassen: „Im Operativen, also der Organisation des Plattformbetriebs, erscheint ein Mix zwischen zentraler und dezentraler Produktion von Inhalten sinnvoll.“ Oder: „im Newsroom von EUROPA übernimmt eine Maschine die erste Übersetzung des Textes. Das Ergebnis muss von Muttersprachlern anschließend korrigiert werden. Durch diese Mensch-Maschinen-Kooperation dann ein Großteil der Übersetzungsarbeit automatisiert werden. […] Und ein solches Verfahren wäre nur die Brücke zu noch deutlich effizienteren Lösungen.“ Rührend schön auch: die Vorstellung von VR-Brillen-Europatouren für in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen. Insgesamt leitend der Gedanke: Technologie ist nicht die Feindin der Demokratie, nur privatwirtschaftliche Plattformen, die im eigenen Interesse handeln. Weitergedacht: Digitale Selbstbestimmung der EU-Bürger*innen geht einer Souveränität Europas voraus. Zu der Feststellung, dass die europäische Öffentlichkeit in ihrer derzeitigen Form einen Informationsgraben eher verbreitert als ihn zuschüttet, hätte in diesem Sinne noch ein Verweis auf das derzeitig massive Stadt-/Land-Gefälle der europäische Netzversorgung gepasst.[5] Vielleicht ist das aber ohnehin allen klar.

Als ich durch bin, bleibe ich noch eine Weile im Café sitzen und schaue mir auf Twitter Videos der Gilets Jaunes-Proteste vom Vortag an. Auf dem Platz der Republik wurden von einzelnen Demonstrierenden EU-Flaggen verbrannt. Die Bilder davon werden vor allem in Pro-Brexit- und Russia-Today-Twitter-Blasen enthusiastisch geteilt. Ein paar Tage später wird es Gerüchte geben, dass sich Frankreich und Deutschland auf die Forderung nach den umstrittenen Uploadfiltern geeinigt hätten. Nochmal kurz darauf wird das Bundeskartellamt Facebook die Sammlung von User*innendaten über Drittanbieter untersagen. Eine aufreibende Gleichzeitigkeit bestimmt gegenwärtig Europas gesellschaftlich-(netz-)politische Lage. Auch darum kommt Johannes Hilljes gedankenscharfes Buch zu einem richtigen Zeitpunkt. Wenn es an die Umsetzung gehen sollte: Ich wäre dabei.

Johannes Hillje: Plattform Europa. Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können. Dietz Verlag, 176 Seiten, 18 €.

[1] Im Rahmen meiner Masterarbeit erforsche ich zur Zeit Demonstrationsereignisse in europäischen Städten.

[2] https://www.ruhrtriennale.de/cms_files/File/Abendprogramme_2018/Dhawan%20-%20Ruhrtiennale%20GER.pdf

[3] https://www.washingtonpost.com/outlook/italy-has-done-a-lot–maybe-too-much/2018/07/19/dc81a292-8acf-11e8-8aea-86e88ae760d8_story.html?utm_term=.0cda32df463c

[4] Johannes Hillje: Propaganda 4.0: Wie rechte Populisten Politik machen. Bonn 2017.

[5] https://www.golem.de/news/eu-rechnungshof-breitbandziele-der-eu-bis-2020-werden-nicht-erreicht-1806-134857.html

Der obige Text erschien erstmals auf dem Blog Beschreibungen von Tobias Gralke.

Titelbild: Tobias Gralke

Autoreninfo

Tobias Gralke | Foto: privat


Tobias Gralke (geb. 1991) arbeitet als Autor, Theatermacher, Workshopleiter und Moderator. Er studierte in Freiburg Germanistik und Philosophie und in Hildesheim Inszenierung der Künste und der Medien. Er ist Mitglied der Initiative “Kleiner Fünf“, die sich mit Gesprächsstrategien und Kampagnen gegen Rechtspopulismus und für demokratische Teilhabe einsetzt.

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Links zum Artikel

Europäische Öffentlichkeit : Nicht mehr national debattieren, sondern europäisch. Wenn die EU das Vertrauen der Bürger nicht noch mehr verlieren will, dann muss sie schnell etwas Elementares schaffen: einen europäischen Kommunikationsraum für den Widerspruch der Bürger. Ein Gastbeitrag. Von Johannes Hillje | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2019

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